2010-09-21

Die Österreichische Bundesverfassung im Schatten der Charta der Grunderechte der EU



Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon sind  alle Bestimmungen des EU-Vertrages und des Vertrages über die Arbeitsweise der Union (primär und sekundäre Unionsrecht), die unmittelbar Wirkung entfalten und  im Falle einer Kollision mit staatlichem Recht von den mitgliedsstaatlichen Gerichten und Verwaltungsbehörden vorrangig anzuwenden. Und es gibt einen Anwendungsvorrang für die mit dem Lissabonvertrag in Kraft getretene Grundrechtscharta, also hat unsere Bundesverfassung in gemeinschaftsrechtlichen Angelegenheiten keine Zuständigkeit mehr und über Streitfälle entscheidet der Europäische Gerichtshof (EuGH) und nicht der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH).
Der Europäische Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die europäischen Rechtsakte an den Grundrechten der europäischen Mit­gliedstaaten, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Men­schenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben, überprüft werden und daß der Wesensgehalt der Grundrechte geachtet wird. Der Gerichtshof hat erklärt, daß er Gemeinschaftsrecht nicht als rechtens anerkennen werde, das mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten unvereinbar sei.

Zur Achtung der Grundrechte ist die Europäische Union durch Art. 6 Abs. 2 EUV verpflichtet. Der Grundrechteschutz gegenüber der integrierten Ausübung der Staatsgewalten der Völker soll durch den kooperativen Grundrech­teschutz zwischen den mitgliedstaatlichen Grundrechtegerichten, vor allem den Verfassungsgerichten, und dem Europäischen Gerichtshof der Rechtslage nach gewährleistet sein. Die Praxis der Grundrechte ist eine andere Frage. 

Durch Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV in der Fassung des Vertrages von Lissa­bon erkennt die Union „die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepaßten Fassung niedergelegt sind“. „Die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichran­gig“. Unterabsatz 3 bestimmt: „Die in der Charta niedergelegten Rechte, Frei­heiten und Grundsätze werden gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Ti­tels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter ge­bührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quelle dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt.“ 

Im übri­gen tritt die Union  „der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei“. „Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Men­schenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind“  „als allgemeine Grundsätze Teil des Unions­rechts“. 

Das menschenrechtliche Schutzniveau bestimmter Menschenrechte und Grundfreiheiten soll  nicht eingeschränkt oder verletzt werden. Vielmehr wird dieses bekräftigt, und es soll der Schutz der Grundrechte dadurch gestärkt werden, daß die Grundrechte „in einer Charta sichtbarer gemacht werden“. Insbesondere der europarechtliche Menschenrechtsgehalt der Grundrechte wird akzeptiert. Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt sind die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrech­te. Das gilt für Österreich wie für Deutschland. Österreich hat eine alte Grundrechtejudikatur. Das Staatsgrundgesetz über die allgemei­nen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder gilt noch heute und hat Verfassungsrang. Hinzugekommen ist insbesonde­re die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 und deren Zusatzprotokolle, die Verfassungsrang haben

Die Grund­rechte sind Teil des Rechtsstaates und stehen als wesentlicher Teil einer Ver­fassung von Menschen im Wesensgehalt nicht zur Disposition der Politik. Die Grundrechteformulierungen der Charta bleiben hinter internationalen Menschenrechtserklärungen, insbesondere hinter Menschenrechten der zwei­ten und dritten Generation, den sozialen und den ökologischen Rechten, zu­rück. Beispielsweise wird im Gegensatz zu Art. 17 AEMR kein Recht auf Ei­gentum anerkannt. Im Widerspruch zu Art. 23 AEMR ist in der Charta ein Recht auf Arbeit nicht enthalten. Demgegenüber ist erstmals in der Grun­drechtegeschichte die „unternehmerische Freiheit“ (Art. 16) anerkannt. Der Grundrechtestandard des Grundgesetzes wird unterschritten. 

Angesichts dessen, daß die Grundrechterechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bisher keine verbindliche Textgrundlage hatte, wird die Charta sich zum maßgeblichen Text zunächst der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und dann auch der Gerichte der Mitgliedstaaten entwickeln. Das ist bezweckt. Die Charta soll  für „die Organe, Ein­richtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiari­tätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gelten. Das „Recht der Union“, die vielen Richtlinien und Verordnungen, vor allem aber das primäre Vertragsrecht, etwa die wirt­schaftlichen Grundfreiheiten, sind derart in das Recht der Mitgliedstaaten verwoben, daß es nur wenige Lebensbereiche gibt, deren Regelungen nicht vom „Recht der Union“ weitgehend bestimmt wären. Insbesondere alles wirt­schaftliche Handeln ist weitestgehend unionsgeregelt. Es ist aber ausgeschlos­sen, Handlungen des Staates nach unterschiedlichen Grundrechtestandards zu bewerten. Dem steht das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung entgegen.  

Letztlich kommt es für die grundrechtliche Bewertung der Rechtsakte auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union an, zum einen weil alle Rechtsfragen, die unionsrechtliche Probleme aufwerfen, vom Gerichtshof der Europäischen Union in Vorabentscheidungsverfahren geklärt werden, also zunehmend alle Rechtsfragen, jedenfalls im Be­reich der Wirtschaft, zum andern, weil der Gerichtshof der Europäischen Uni­on auf die unterschiedlichen Grundrechteverhältnisse der Mitgliedstaaten kei­ne Rücksicht nehmen kann. 

 Das Prinzip der unionsweiten Einheit des Ge­meinschaftsrechts verbietet auch eine grundrechtebedingte Unterschied­lichkeit der Handhabung der Rechtsakte der Union. Diese aber materialisieren die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten schon jetzt und zunehmend weitrei­chend und tiefgreifend. Die Grundrechterechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union wird die Grundrechtepraxis in der Union insgesamt lei­ten und sich an dem Text der Charta ausrichten (müssen). Schon jetzt bewirkt das sogenannte Kooperationsverhältnis in der Grundrechterechtsprechung zwischen dem Bundesverfassungsgericht in Deutschland und dem Gerichtshof der Europäischen Union, daß letzterer die Grundrechtepraxis bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht etwa will generell den Wesensgehalt der Grundrechte gegenüber Rechtsakten der Gemeinschaften schützen. Dieser Vorbehalt ermöglicht es, Schutz des widerstandsfesten Kerns der Grundrechte beim Bundesverfassungsgericht zu beantragen, wenn der Gerichtshof der U­nion allgemein den Wesensgehalt der Grundrechte mißachtet. Das wäre der Sache nach die schwer darstellbare und noch schwerer nachweisbare grund­rechtliche Widerstandslage. Der österreichische Verfassungsgerichtshof will in Sachen EU-Integration überhaupt keinen Rechtschutz geben. 

Die Integration des Grundrechteschutzes hat be­reits, auch ohne die Charta, dem Grundrechteschutz geschadet, weil der Ge­richtshof der Europäischen Union nicht ein einziges Mal einen Rechtset­zungsakt der Union für grundrechtswidrig (im engeren Sinne) erklärt, also ein laues Grundrechteklima geschaffen hat. Letztlich ist der Grundrechte­schutz wie im 19. Jahrhundert Sache der Gesetzgebung und damit abhängig vom demokratischen Niveau des Gemeinwesens. Die Union ist aber demokra­tisch defizitär. Die Charta wird somit den Verfall der Grundrechtekultur be­schleunigen. Die Charta stärkt nicht das Recht, sondern schwächt es. 

Keine Grundrechtebeschwerde 

Eine Grundrechtebeschwerde der grundrechtsberechtigten Personen hat die Charta nicht aufgenommen. Auch das Unionsrecht kennt eine solche nicht, wenn man nicht Art. 230 (263) Abs. 2 und 4 AEUV) heranziehen will. Diese Vorschrift spricht gegen Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verord­nungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaß­nahmen nach sich ziehen, die an natürliche oder juristische Personen gerichtet sind oder sie unmittelbar und individuell betreffen, wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrages oder ei­ner bei ihrer Durchführung anzuwendende Rechtsnorm oder auch wegen Er­messensmißbrauchs (Art. 230 (263) Abs. 2 AEUV) Rechtsschutz des Ge­richtshofs der Europäischen Union zu. Aber Grundrechte ohne prinzipalen Rechtsschutz gegen Richtlinien und Verordnungen sowie andere Rechtsakte verdienen den Namen kaum.
Die Bürgerbeschwerde wegen Grundrechtever­
letzung gehört zum Verfassungsstaat. Die Rechtsbeschwerde wie die Verfassungsbeschwerde ist ein wesentliches Gut des österreichischen bzw. deutschen Verfassungs- und Rechtsstaates. Sie bestimmen wesentlich die Verfassungsverhältnisse Österreichs wie Deutschlands dadurch, daß sie es be­zweckt und weitgehend erreicht, daß sich das Recht gegenüber der Politik, die vornehmlich in den Gesetzen Niederschlag findet, behauptet

 Durch die (immer größere) Ausweitung der Ermächtigungen zur Gesetzgebung und Rechtsprechung der Union verliert die Verfassungsbeschwerde gegen Verlet­zungen der Grundrechte des Grundgesetzes zunehmend an Bedeutung, zu­gleich auch der Schutz des Rechts (mittels der Grundrechte) durch deutsche Gerichte, zumal des Verfassungsgerichtshofs wie des Bundesverfassungsge­richts; denn alle nationalen Gerichte sind, wenn es um die Anwendung des Unionsrechts geht, (nur) an die Unionsgrundrechte der Charta gebunden und insoweit nicht mehr an die Grundrechte des Grundgesetzes. Selbst die natio­nalen Gesetze, welche Richtlinien umsetzen, werden nicht mehr an den natio­nalen Grundrechten gemessen, jedenfalls nicht, soweit die Richtlinien eine bestimmte Politik vorschreiben oder ermöglichen, sondern nur noch an den Grundrechten der Union (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 der Charta), erst recht der mitgliedstaatliche Vollzug des Unionsrechts. Das letzte Wort in Sachen der Grundrechte bekommt (in der ganz großen Zahl der Fälle durch den Vertrag von Lissabon endgültig) der Gerichtshof der Europäischen Union. 

Ein Grundrechtetext ist klassischer Bestandteil eines Verfassungsgesetzes, welches ein Volk zum Staat verfaßt. Außerdem regelt ein Verfassungsgesetz die Ziele, Aufgaben und Befugnisse eines Staates und die Organisation des Staates, welche gewaltenteilig sein muß, um einer Verfassung der Freiheit und des Rechts zu genügen. Die organisationsrechtliche Verfassung (im funk­tionalen Sinne) enthalten die Verträge der Union. Dennoch werden diese Ver­träge im Gegensatz zur Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Uni­onund einer früheren, inzwischen nicht wiederholten, Äußerung des Bun­desverfassungsgerichts nicht als Verfassungsgesetz angesehen, weil sie die Europäische Union nicht zu einem Staat, einem Bundesstaat, und die Uni­onsbürger nicht zu einem Volk im staatsrechtlichen Sinne integrieren würden. Jedenfalls ist die Union trotz deren existentieller Staatlichkeit kein e­xistentieller Staat; denn sie verfaßt kein Unionsvolk . Es hat niemals eine Staatsgründung der Europäischen Union gegeben. Insbesondere sind die Politiken der Europäischen Union nicht eigenständig demokratisch legitimiert. Das aber wäre eine unabdingbare Voraussetzung eines freiheitlichen Gemeinwesens, einer Republik der Europäer. Die (defizi­täre) demokratische Legitimation der Rechtsakte der Unionsorgane beruht auf den demokratisch legitimierten Zustimmungsgesetzen der mitgliedstaatlichen Legislativorgane zu den Unionsverträgen. Spezifisch daraus erwächst das Prinzip der begrenzten Ermächtigung der Unionsorgane durch die Übertra­gung von Hoheitsrechten zur gemeinschaftlichen Ausübung


 Mit der Charta der Grundrechte vertieft die Europäische Union ihre existen­tielle Staatlichkeit. Unbeirrt gehen die Integrationisten den Weg zum Groß­staat Europa weiter, freilich ohne alle Völker zu fragen, ob diese das wollen. Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas (der Mitgliedstaaten) läßt nur eine gemeinschaftliche Ausübung der Staatlichkeit der Völker, also eine funktionale Staatlichkeit der Europäischen Union, zu. Zu diesem Zweck ist letzterer die gemeinschaftliche Ausübung von bestimmten und begrenzten Hoheitsrechten übertragen. Diese Hoheitsrechte dür­fen nur nach Maßgabe der Grundrechte der Mitgliedstaaten ausgeübt werden; denn kein Staat hat Hoheit entgegen den Grundrechten der Menschen und der Bürger. Vielmehr sind die Grundrechte als solche negative Kompetenzen. Grundrechte sind zwar einschränkbar, so daß auch die Rechtsakte der Europä­ischen Union, der funktionale Staatlichkeit delegiert ist, Grundrechte einzuschränken vermögen, aber doch nicht zu Lasten des Wesensgehalts der Grundrechte. Das Bundesverfassungsgericht hat sich vorbehalten, den Grun­drechtestandard, der zumindest den generellen Wesensgehalt der Grundrechte ausmacht, auch gegenüber Rechtsakten der Europäischen Union zur Geltung zu bringen. Die Charta der Grundrechte verfolgt seit ihrer Proklamation den Zweck, die existentielle Staatlichkeit der Europäischen Union zu festigen. Als Verfassungsstaat, meinen manche, könne die Union die uneingeschränkte Grundrechteverantwortung für ihre Rechtsakte übernehmen, die tief in die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten einwirken, bis zur Strafverfolgung. 

Die existentielle Staatlichkeit der Europäischen Union können jedoch nur die Völker der Mitgliedstaaten ermöglichen, weil sie, jedes Volk für sich, die eigene existentielle Staatlichkeit (ihre Souveränität) aufgeben müssen. Das setzt, wie schon mehrfach angesprochen, Verfassungsreferenden der Völker voraus. Ein Verfassungsgesetz für Europa bedarf einer Vorbereitung durch eine eigens für diese Aufgabe von allen Unionsbürgern gewählte europäische Nationalversammlung. Durch diese Wahl würden die Europäer ihre Konstitu­ierung als Staatsvolk vorbereiten. Über das Verfassungsgesetz müßte schließ­lich das europäische Volk abstimmen. Sollte das Verfassungsgesetz durch die Mehrheit angenommen werden, wobei ein die Legitimation dieses existentiel­len Aktes stärkendes Quorum notwendig wäre, wären das Volk der Unionseu­ropäer und der Unionsstaat begründet. Die gegenwärtigen Vertreter der mit-gliedstaatlichen Völker in den Regierungen und Parlamenten haben weder die Aufgabe noch gar die Befugnis, die Union zu einem existentiellen Staat zu entwickeln. Das „vereinte Europa“ im Sinne des österreichischen und deut­schen Integrationsprinzips ist eine Union als Staatenverbund. Dieser setzt die existentielle Staatlichkeit der Völker der Mitgliedstaaten voraus.

 




1 Kommentar:

Helmut Schramm hat gesagt…

Ich schließe mich daher heute aus voller eigener Überzeugung auch den Rechtsvorwürfen an, die in der an den österreichischen Verfassungsgerichtshof gerichteten Rechtsmittelschrift gegen das EU-System erhoben werden. Ich tue das umso nachdrücklicher, weil - wie ich mich vergewissert habe - auch zwei hervorragende österreichische Experten dem anfechtenden Personenkomitee angehören, deren unbestechliche Wissenschaftlichkeit ich seit Jahrzehnten in Übereinstimmung wie im Widerstreit von Rechtsmeinungen stets dankbar erfahren durfte. Es handelt sich um die emeritierten Ordinarien der Leopold Franzens-Universität Innsbruck: den Staatsrechtslehrer Professor Dr. Peter Pernthaler , Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, und den Nationalökonomen und Finanzwissenschaftler Professor Dr. Karl Socher.