Buchbesprechung
von Rita Müller-Hill
In der Sendung Les Terriens du samedi, ausgestrahlt am 9. März im französischen Fernsehen Canal+, wurde Philippe de Villiers vom Journalisten Thierry Ardisson gefragt, ob Angela Merkel die Geschichte Walter Hallsteins, des ersten Präsidenten der Europäischen Kommission, bekannt war, als sie am 13. November 2018 im Deutschen Bundestag eine grosse Lobrede auf ihn hielt. Philippe de Villiers antwortet sehr ernst: «Ja, und ich denke, sie hat gelogen.»1
Erläuterung zum Buchtitel
Auf den ersten Seiten seines Buches erzählt Philippe de Villiers, wie er dazu gekommen ist, sich mit der Geschichte der EU zu beschäftigen, und wie der Titel seines Buches zustande kam. Er berichtet auf Seite 19 von einer Unterhaltung mit dem langjährigen (1958–1968) französischen Aussenminister Maurice Couve de Murville, der dieses Amt schon während der Präsidentschaft Charles de Gaulles innehatte. Im Laufe dieser Unterhaltung habe sich Couve de Murville über den Marshallplan, dessen Akzeptanz er als Unterwerfung bezeichnete, über Walter Hallstein und den europäischen Einigungsprozess geäussert: «Ah l’Europe! L’Europe des pères fondateurs! […] Il vous suffira de tirer sur le fil et tout viendra» – «Mais quel fil?» – «Sur le fil du mensonge.» [«Ach Europa! Das Europa der Gründerväter! Es genügt, wenn Sie an einem Faden ziehen, dann kommt alles.» – «Aber an welchem Faden?» – «Am Faden des Lügengespinstes.»]2
Öffnung der Archive
Ein Professor der Sorbonne, den Philippe de Villiers nicht namentlich nennt, kommentierte später diesen sybillinischen Spruch: «Couve de Murville hat das erste Stottern des europäischen Projektes miterlebt. Er wusste alles über alle, über die Trugbilder und die Hintergedanken, die ganze Verwickeltheit, das Getue, den faulen Zauber. Am Faden ziehen sollte in seinem Sinne sicher heissen: an die Quelle gehen.» «Aber an welche Quelle?», fragt de Villiers. «An die Quelle der Informationen, die in den Archiven schlummern. […] Sie sind nicht mehr geheim, sie sind nach und nach geöffnet worden, zugänglich gemacht worden», bekam er zur Antwort.3
Als de Villiers vermutet, dass nun viele Forscher in die Archive stürzen, muss ihn der Professor enttäuschen. Es seien nur sehr wenige, die das tun. Und auf die Frage, warum die Forscher so wenig neugierig seien, erhält er zur Antwort, dies geschehe aus Vorsicht. Man könne seinen Lehrstuhl, seinen Lehrauftrag, seinen Job, seinen Verleger verlieren. – Auf die Frage, ob es sich da um ein Tabu handle, bekommt er zur Antwort: «Mehr als das, es geht um einen Mythos, eine Ideologie, ein Glaubenswerk. Alles, was diese ‹Gründerväter› betrifft, liegt im Bereich des ‹Heiligen, Unberührbaren›.» – «Eine offizielle Wahrheit, also.»4
Diese Unterhaltung ist eine Art Initialzündung. Philippe de Villiers stellt vier Arbeitsgruppen zusammen, die er seine «Brigaden» nennt, und schickt sie auf die Quellensuche.
Im Buch dokumentiert er mit 28 Faksimilekopien auf 111 Seiten die Richtigkeit seiner Aussagen. Und Philippe de Villiers spricht aus, was nicht ans Licht der Öffentlichkeit kommen sollte. Nur ein enger Kreis von Eingeweihten wusste, wie die Dinge wirklich waren. General de Gaulle, der nicht zu diesen gehörte und den man lieber unschädlich gemachte hätte, wusste aber auch seit der Gründung der «France libre»5 in London (1940): Jean Monnet war nicht auf seiner Seite. Er vertrat die Interessen Amerikas, das auf den mit Hitler kollaborierenden Marschall Pétain setzte und de Gaulle als Störfaktor ansah.6
«Philippe de Villiers hatte also Forschergeist und den Mut, sich in die Archive zu begeben und zu veröffentlichen, was er dort fand: Dokumente, die eindeutig beweisen, dass Jean Monnet von der CIA für seine Aktivitäten als ‹Gründervater Europas› bezahlt wurde, dass Robert Schumann eine zwielichtige Gestalt war, die zwischen den jeweiligen Machthabern hin und her wechselte und letztlich im Dienste der US-Amerikaner war.»
«Monnet wollte ein Europa aufbauen, das den amerikanischen Zielen entsprach – den institutionellen, kommerziellen und kulturellen.» (de Villiers, S. 117)
«Was in diesem grundlegenden Chaos auffällt, ist die Geheimhaltung bei der Abfassung der Texte; die Protagonisten schreiben sich ausserhalb des Rahmens der Institutionen; Schuman gestand später: ‹Es war Jean Monnet, der mit seinen Mitarbeitern in einem kleinen Hotel in der Rue de Martignac, in wenigen Monaten ohne das Wissen der Öffentlichkeit oder gar der Regierung, die Idee der Gemeinschaft für Kohle und Stahl entworfen hat.›» (de Villiers, S. 134)
«Diese Governance arbeitet seit dreissig Jahren daran, nicht etwa ‹Europa aufzubauen› – das heisst, die historische Kontinuität einer Zivilisation zu sichern –, sondern im Gegenteil, alles zu dekonstruieren, um seine emotionalen Gemeinschaften zu untergraben und ihre grundlegenden Grenzen und Orientierungspunkte zu vernichten. Es geht nicht darum, eine ‹Europazität› aufzubauen, sondern eine ‹Globalität›, einen geschichts- und formlosen weiten Spielplatz, der von austauschbaren Menschen bevölkert ist.» (de Villiers, S. 218)
Quelle: Zeit-Fragen Nr. 10 vom 23.April 2019
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