2015-07-24

«Anrecht auf ein Leben in Würde und Anstand»


von Thomas Kaiser

Häufig stehen andere Themen im Vordergrund der medialen Berichterstattung, und die Finanz- und Wirtschaftskrise ist weitgehend aus dem Fokus der Tageszeitungen verschwunden, ausser es ereignet sich etwas Aussergewöhnliches, wie es die Entwicklung in Griechenland zu bieten scheint. Dann überschlagen sich die Meldungen und Zeitungsberichte, Experten werden befragt und die Medienpropaganda läuft auf Hochtouren. Viel klüger ist der Leser nach der Lektüre des ihm Vorgesetzten jedoch selten. Auch die menschlichen Folgen dieses Desasters finden kaum Eingang in die offizielle Informationswelt.
Ausser Griechenland sollen angeblich alle Länder auf gutem Kurs sein. So wird die Stimmung gegen ein kleines Land in der EU angeheizt, weil sich die griechische Regierung nicht alles bieten lassen will, was ihnen von der sogenannten Troika vorgeschrieben wird. Doch die Entwicklung in Griechenland ist (leider) kein Sonderfall. Es geht letztlich um die Frage, in welcher Welt mit welcher Form von Wirtschaft wir leben wollen. Der Wirtschaftsprofessor für Quantitative Finance an der Universität Zürich, Marc Chesney, hat sich in seinem Buch «Vom grossen Krieg zur permanenten Krise – der Aufstieg der Finanzaristokratie und das Versagen der Demokratie» Gedanken zu dieser Frage gemacht.
Marc Chesney legt unverblümt die Machenschaften der Finanzkonzerne und deren Auswirkungen auf das Gemeinwesen dar, und, wie im Titel schon angetönt, auf die Demokratie, und davon sind alle Länder betroffen. Marc Chesney nimmt in seiner Untersuchung eine ethische Haltung ein, wie man sie sich gerade im Finanzbereich nur wünschen kann. Seine Empörung über die Gier der Bank­institute und ihrer Mitarbeiter sowie das mangelnde Verantwortungsgefühl ist wohltuend und verlangt nach politischem, aber auch erzieherischem Handeln, denn eine andere ethische Einstellung lässt sich kaum durch Gesetze erwirken, auch wenn sie gleichwohl sehr wichtig sind. Hier braucht es in den Schulen und an den (Wirtschafts-)Hochschulen ein Umdenken hin zu mehr Gemeinsinn, mehr Gemeinwohl, mehr Mitmenschlichkeit, mehr Ethik und letztlich mehr demokratischer Erziehung.
Der masslosen Gier noch Grenzen gesetzt
Im einleitenden Kapitel zieht der Autor einen Vergleich zwischen dem Beginn des Ersten Weltkriegs und dem heutigen Krieg an den Finanzplätzen, deren Waffen vor allem gigantische Spekulationsblasen sind, die eine verheerende Wirkung erzielen und ganze Volkswirtschaften in den Abgrund reissen können. Nach Chesney stirbt heute «die europäische Jugend nicht mehr massenhaft in den Schützengräben oder auf den Schlachtfeldern […]. Und doch wird sie in diesen Krieg der anderen Art hineingezogen, den Finanzkrieg, unter dem sie häufig zu leiden hat.» (S. 18) Die hohen Zahlen von jugendlichen Arbeitslosen sind ein Spiegel dieser desaströsen Auswirkungen, bedingt durch die zügellose Geldwirtschaft an den Finanzmärkten.
Eine Abkehr von der Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit begann, so Marc Chesney, nach der Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten und Margaret Thatchers zur Premierministerin in Grossbritannien. Was folgte, war die Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die, von beiden Ländern ausgehend, in den übrigen westlichen Staaten durchgesetzt wurde. Nach dem Ende der Sowjetunion und deren Öffnung nach Westen fasste diese Politik auch in den ehemaligen «Satellitenstaaten» immer mehr Fuss. Nach Francis Fukuyama sollte sich mit der Einführung des Neoliberalismus eine Ära des friedlichen Zusammenlebens entwickeln. «Ihm zufolge sollte es mit dem Ende des Kalten Krieges zum internationalen Konsens einer liberalen Demokratie kommen.» (S. 20) Das ist nicht der Fall: Sogenannte demokratische Staaten wie die USA, Grossbritannien, aber auch Deutschland, Italien oder Frankreich, alles Staaten, die sich selbst als Demokratien definieren, sind aktiv in die Kriege der letzten 25 Jahre involviert. Allesamt Angriffskriege, die von westlichen Demokratien angezettelt wurden.
So war schon der US-amerikanische Kriegseintritt 1917 keineswegs ein Akt der Selbstlosigkeit und des Altruismus, auch wenn der damalige US-Präsident Woodrow Wilson seinen legendären 14-Punkte-Plan vom März 1918 mit genau dieser Prämisse eingeleitet hatte. Wie Chesney treffend bemerkt, war die «Angst vor kolossalen finanziellen Verlusten für die amerikanischen Banken, die England und Frankreich Gelder geliehen hatten, […] einer der wichtigsten Faktoren für den Eintritt Amerikas in den Krieg». (S. 21) Die Parallelen sind deutlich. Auch wenn im Krieg Menschenleben physisch vernichtet werden, zerstören Finanzkrisen auf andere Art menschliche Existenzen. Treffender kann man es fast nicht ausdrücken: «Die neue Religion des Neoliberalismus fordert Opfer auf dem Altar der Kasino-Finanzwelt. Der Versuch, die Finanzmärkte zu beruhigen, ist illusorisch.» (S. 23)
«Bankensystem auf Kosten des Steuerzahlers gerettet»
An mehreren Stellen zieht Marc Chesney Vergleiche zwischen der Kriegsrhetorik und der «Finanzpropaganda». «Während des Ersten Weltkriegs waren es die Nationen, die aufs Podest gestellt wurden, die Opfer verlangten. […] Heute verlangen die ebenfalls zum Gott erhobenen Finanzmärkte fortwährende Befriedigung und die damit verbundenen Opfer.» (S. 26) Die Opfer sind zunächst finanzieller Art. «Südeuropa und besonders Griechenland sind ausgeblutet, nachdem ihnen brutale Sparprogramme auferlegt wurden.» Doch nicht nur in diesen Ländern leiden die Menschen. In Deutschland, das schlechthin als Wirtschaftslokomotive bezeichnet wird, leben nahezu 12 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, das sind ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung. Das ist ein Skandal. In Italien sind es 12 Prozent. Nach diesen Zahlen stellt sich doch die Frage: Wo geht das Geld, das von den Zentralbanken regelrecht in das Finanzsystem gepumpt worden ist, hin? Warum haben die betroffenen Menschen davon nicht profitiert? Wem wurden die horrenden Beträge in den Rachen geworfen? «Der Versuch, die Finanzsysteme zufriedenzustellen, gipfelte bisher darin, dass das Bankensystem auf Kosten des Steuerzahlers gerettet wurde, ohne dass eine wirkliche Gegenleistung erwirkt wurde.» (S. 27) Die Beträge, mit denen man die europäischen Banken zu retten versuchte, sind exorbitant. «Seit 2008 haben die europäischen Staaten an die 400 Milliarden Euro ausgegeben, um ihre Bankensysteme zu retten.» (S. 27) Doch in die Wirtschaft und zu den geprellten Bürgern ist das Geld nicht geflossen. In einer Grossbank tröstete man sich damit, dass man die Krise jetzt halt aussitzen müsse, damit man nachher wieder genauso weitermanchen könne wie vor der Krise. Was das «genauso Weitermachen» heisst, schreibt Chesney: «Die im grossen Stil von der EZB in das Finanzsystem gepumpten Gelder sind keine echten Investitionen in die Wirtschaft. Die Prioritäten der Grossbanken liegen eindeutig woanders. Statt sich auf ihre eigentliche Kerntätigkeit zu konzentrieren, nämlich den europäischen Unternehmen für ihre rentablen Investitionsvorhaben Kapital zu leihen, lassen sie sich auf gewinnbringende Aktivitäten wie die genannten Arbitragegeschäfte und den Vertrieb von komplexen und häufig toxischen Finanzprodukten ein. […] Diese in den Finanzsektor eingebrachten Gelder erzeugen hohe Renditen an der Börse, während die Krise in der Wirtschaft anhält.» (S. 28)
Chesney spricht von zwei Globalisierungswellen, die im Zeitalter der Moderne bereits über die Menschen hinweggerollt wurden. Nur so nebenbei bemerkt: Die Auffassung, die Globalisierung sei einfach da gewesen, ist so unhistorisch wie die Behauptung, dass es keine Alternative dazu gäbe. In der Zeit des Imperialismus von ungefähr 1870 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges erlebte vor allem Europa bereits einmal eine Phase der «Globalisierung», die sich durch die Eroberung verschiedener Kontinente auszeichnete, von einem ungebremsten Freihandel und einer schändlichen Ausbeutung der Kolonialländer, teilweise mit brachialer Gewalt. Der Erste Weltkrieg und die gegen Ende der zwanziger Jahre einsetzende Weltwirtschaftskrise suchten dann nach neuen Antworten. Man schränkte zum Beispiel in den USA den freien Handel ein, schuf staatliche Konjunkturprogramme und versuchte, den Börsenspekulanten Schranken aufzuerlegen – zu wenig konsequent. Der Zweite Weltkrieg versprach den US-amerikanischen Rüstungskonzernen Milliardengewinne, zumal Firmen wie Ford oder General Motors selbst Niederlassungen im Deutschen Reich hatten.
«US-amerikanischen Grossbanken hinsichtlich der Schaffung von zweifelhaften und toxischen Produkten federführend»
Die zweite Globalisierungswelle wird vor allem vom Neoliberalismus US-amerikanischer Provenienz bestimmt. Die militärische Macht der USA und die Dominanz des Dollars erlauben es Amerika, über seine Verhältnisse zu leben. «Auch die USA spielen im Rahmen der zweiten Globalisierungswelle eine Schlüsselrolle. Sie sind die Verfechter eines anderen Eldorados: des ungezügelten Neoliberalismus. Seit den 1980er Jahren sind die US-amerikanischen Grossbanken in der Finanzwelt hinsichtlich der Schaffung von zweifelhaften und toxischen Produkten federführend. Überdies verleihen ihre militärische Macht und die Dominanz des Dollars den USA einen eindeutigen Vorteil, wodurch sie über ihre Verhältnisse leben können.» (S. 38f)
Ein weiteres Phänomen dieser zweiten Globalisierungswelle lässt sich laut Chesney beobachten: die Einkommensverteilung. In den USA bezog 1910 1 % der Bevölkerung 18 % von der Summe aller Einkommen. Im Jahre 1970 hingegen waren es nur noch 8 %. Heute sind wir wieder bei 18 %. Diese Zahlen sind unglaublich, wenn man weiss, dass 40 % der Weltbevölkerung von weniger als 2 Dollar leben müssen und davon 870 Millionen an chronischer Unterernährung leiden. Welche Folgen das hat, beschreibt Jean Ziegler in seinem Buch «Wir lassen sie verhungern». Darin legt er dar, dass chronische Mangelernährung in der Kindheit bleibende Schäden hinterlässt, die bis ins Erwachsenenalter nicht mehr ausgegelichen werden können. Wenn die Mangelernährung nicht zum Tod führt, schädigt sie die Menschen doch schwer. Das müsste jedoch nicht sein. Denn wie Ziegler in seinem neuesten Buch mit dem vielsagenden Titel «Ändere die Welt!» darlegt, besitzt unsere Erde so viel landwirtschaftliches Potential, dass sie mit 12 Milliarden Menschen fast doppelt so viele ernähren könnte, wie sie es bis heute schon könnte, wenn nicht andere Interessen das verhindern würden.
«Die Wirtschaft braucht Manager, die sich der Verantwortung bewusst sind»
Die Vermögens-, Einkommens- und Besitzunterschiede zwischen den Menschen sind riesig. Während nahezu 3 Milliarden Menschen weniger als 2 Dollar am Tag zur Verfügung haben, besitzen gemäss «dem Ranking der Agentur Bloomberg vom 2. Januar 2014 zufolge […] die reichsten 300 Milliardäre der Welt […] ein Gesamtvermögen von 3700 Milliarden.» (S. 44) Chesney sieht darin «das Symptom einer unersättlichen Gefrässigkeit der Finanzwelt und der Logik, die dieser Sektor der Wirtschaft auferlegt. Dies ist eine Krankheit, die den Menschen schadet, da sie den Grundprinzipien widerspricht, die den meisten seit ihrer Kindheit unabhängig von Herrschaft, Kultur oder Religion eingeschärft werden.» (S. 44) Exorbitante Managerlöhne haben sich vor allem seit der Ausbreitung des Neoliberalismus immer mehr etabliert. Zweistellige Millionenbeträge, die auch ausgezahlt wurden, wenn der betreffende Konzern rote Zahlen schrieb, haben nichts mehr mit dem Tragen von Verantwortung zu tun, sondern sind Ausdruck einer Entwicklung, bei der nur noch die Selbstbereicherung im Zentrum steht. «Die Wirtschaft braucht Manager, die sich der Verantwortung bewusst sind, die sie nicht nur gegenüber den Aktionären, sondern auch gegenüber ihren Mitarbeitern, Kunden und allgemein gegenüber der Gesellschaft haben.» (S. 45)
Was in der gegenwärtigen Diskussion nur selektiv wahrgenommen wird, ist die horrende Staatsverschuldung nahezu aller Industrienationen. «In den USA beträgt die Verschuldung insgesamt (Privatleute, Unternehmen, Staat, Finanzsektor) 340 % des Bruttoinlandsprodukts.» (S. 46) Allein die Staatsschulden der USA belaufen sich auf 18 150 Milliarden Dollar (http://www.haushaltssteuerung.de/schuldenuhr-staatsverschuldung-usa.html). In anderen Industrienationen sehen die Zahlen nicht besser aus. Die Verschuldung der Staaten bringt diese in völlige Abhängigkeit von den Geldgebern. Am Beispiel Griechenlands ist das für alle offensichtlich. Um aus der Schuldenfalle herauszukommen, gibt es fast keine Möglichkeiten. Mit der Aufnahme neuer Kredite werden die fälligen zurückgezahlt, so ist kein Ausstieg aus der Schuldenspirale möglich. Meist sind die neuen Kredite mit Auflagen verbunden, die ihre Grundlagen in der neoliberalen Wirtschaftspolitik haben und auf einen Ausverkauf von Staatseigentum hinauslaufen. So sollte Griechenland aktuell massiv die Mehrwertsteuer erhöhen, die Renten kürzen und weitere staatliche Betriebe privatisieren, also das «Tafelsilber» auf den Markt werfen sowie die Beamtengehälter kürzen. Das Land soll sich selbst zu Tode sparen.
«Die Unsichtbare Hand von Adam Smith in der Finanzwelt zunehmend unwirksam»
Die Finanzkrise hat ganz deutlich gezeigt, dass das Wachstum der einzelnen Volkswirtschaften nicht auf ein besonnenes, nachhaltiges Wirtschaften zurückgeht, sondern auf eine Casinowirtschaft, die vor allem den kurzfristigen Gewinn im Fokus hat, aber nicht ein langfristiges Planen zum Wohle auch der nachfolgenden Generationen. So bemerkt Chesney: «Schliesslich scheint die Unsichtbare Hand von Adam Smith in der Finanzwelt zunehmend unwirksam zu sein. Das Verfolgen individueller Interessen fördert immer weniger die Interessen der Gesellschaft.»
Im Kapitel über «Die Charakteristika des Finanzkasinos» legt Chesney dar, wie die Merkmale dieser Kasino-Finanzwelt aussehen. Dazu gehört der Handel in Millisekunden. Während 1940 ein Anleger seine Aktien im Schnitt 5 Jahre behielt, hält ein Investor in den USA diese heute im Durchschnitt eine Minute. Die Börse ist zu einem gigantischen Kasino geworden und hat ihre ursprüngliche Funktion, Geld für Industriebetriebe zu beschaffen, völlig verloren. Ein grosser Teil der Transaktionen findet «over the counter» statt, das heisst ausserhalb der Börse, und ist damit völlig intransparent. Neben diesen Transaktionsmöglichkeiten haben die Finanz­institute immer neue Finanzprodukte kreiert. Dazu gehören sogenannte Kreditausfallversicherungen, die man abschliessen kann, auch wenn man einem Unternehmen gar keinen Kredit gewährt hat. Es handelt sich hierbei um eine Wette auf Zahlungsausfall oder Konkurs des betreffenden Unternehmens. Es gibt tatsächlich auch Finanzprodukte, mit denen auf den Tod von kranken Menschen oder den Konkurs von Unternehmen oder Staaten gewettet werden kann wie bei den Kreditausfallversicherungen oder sogenannten Credit Default Swaps. «Je älter der Versicherte ist, je schlechter sein Gesundheitszustand und seine wirtschaftliche Lage sind, desto interessanter ist er als Kunde! Die wichtigste Variable bei dieser Rechnung ist die Sterblichkeitsrate. Je früher der Tod eintritt, um so höher liegt der Profit des Investors.» (S. 54) Das ist ja nahezu der Gipfel der Perversion.
Strukturierte Produkte, eine Kombination von derivativen Produkten, gehören ebenfalls zu den «Wetten der Kasinofinanzwelt». Grossbanken können damit spekulieren und auf Grund ihrer Handelsvolumen horrende Gewinne einheimsen. Für Privatkunden ist das Risiko entschieden höher, und dementsprechend wahrscheinlicher sind auch mögliche Verluste. Dass aber auch Banken kräftig danebenlangen können, zeigt die Bankenkrise von 2007/08. Im schlechtesten Fall führt das zu einem Bankenzusammenbruch, doch mit der «too big to fail»-Theorie steht der Staat in den meisten Fällen parat und greift den taumelnden Finanzinstituten unter die Arme. Die Hauptaufgabe der  Banken, die Realwirtschaft mit genügend Geld zu versorgen, damit diese nötige Investitionen vornehmen kann, scheint schon lange nur noch ein Nebenprodukt zu sein.
«Der Finanzsektor sollte im Dienst der Wirtschaft stehen»
Die Auswüchse eines ausser Rand und Band geratenen Kapitalismus, wie ihn Marc Chesney beschreibt, und die Tatsache, dass bis heute keine wirkliche Veränderung in diesem Bereich vollzogen wurde, sondern dass man wieder zu den alten Spekulationsauswüchsen zurückkehrt, sind empörend. Bereits vor Jahren gab die Führungsriege der US-amerikanischen Hypothekenbank Freddie Mac und Fanny Mae zu verstehen, dass sie wieder genauso viele Ramschpapiere in ihrem Portfolio hätten wie vor der Finanzkrise, aber dass es diesmal nicht so schlimm sei, denn man habe eine staatliche Garantie. Dass sich so nichts ändern wird und wir damit rechnen müssen, dass die nächste Krise kommt und die Steuerzahler wieder zur Kasse gebeten werden, ist augenfällig.
Marc Chesney belässt es aber in seinem Buch nicht nur bei der Analyse der Realität, die teilweise sehr ernüchternd ist, sondern versucht im letzten Kapitel des Buches, verschiedene Lösungsansätze zu formulieren. Dabei stellt er die klare Forderung auf: «Der Finanzsektor sollte im Dienst der Wirtschaft stehen, statt diese zu beherrschen, wie es aktuell der Fall ist.» (S. 83) Auch sieht er in der «too big to fail»-Klausel eine Gefahr, die den Banken wenig Veranlassung gibt, risikoreiche Geschäfte einzustellen. Auch schadet die Erfüllung von Sonderinteressen der Grossbanken und Investmentfonds der Wirtschaft und dem Allgemeinwohl.
«Eine echte Demokratie muss eingeführt werden»
Einziges wirksames Mittel gegen die Willkür der Finanzmärkte und einer Politik, die sich mehr der Wirtschaft verpflichtet fühlt als den eigenen Staatsbürgerinnen und -bürgern, ist die direkte Demokratie, weil hier das Volk immer die Möglichkeit hat, bei Gesetzen das Referendum zu ergreifen oder mit Initiativen gegen das Gebaren der Banken vorzugehen. Die Abzockerinitiative von Thomas Minder ist ein Paradebeispiel dafür, wie eine Initiative von Gleichgesinnten auf den Weg gebracht werden und das Volk letztlich über deren Annahme entscheiden kann. In anderen Ländern gibt es diese Möglichkeiten leider (noch) nicht; sie sollte nach Chesney unbedingt geschaffen werden. «Eine echte Demokratie muss eingeführt werden, wie es zum Beispiel in der Schweiz der Fall ist, damit sich der Bürger zu kontroversen Themen äussern kann, über die mit Hilfe eines Referendums abgestimmt wird. […] Es ist unbegreiflich, dass in angeblich demokratischen Ländern wichtige politische und energetische, soziale, wirtschaftliche oder finanzielle Fragen nicht wirklich demokratisch entschieden werden können.» (S. 85)
Chesneys Bekenntnis zur schweizerischen direkten Demokratie ist eine Wohltat und gehört all denjenigen ins Stammbuch geschrieben, für die der Demokratie mit sich alle vier Jahre wiederholenden Wahlen, wie sie in nahezu allen europäischen Ländern durchgeführt werden, genüge getan ist, oder die meinen, die Fragen, die anstehen, seien zu komplex und könnten nicht vom Volk entschieden werden. Wer sich mit der Schweizer Geschichte und der Entstehung der direkten Demokratie etwas beschäftigt hat, weiss, dass der Einführung der Volksrechte ein langer und beharrlicher Kampf vorausgegangen ist. Was für die Schweiz gegolten hat, gilt für andere Länder mit einer anderen Tradition und Geschichte noch viel mehr. Die genossenschaftliche Tradition und der starke Föderalismus, die Freiheitsliebe der Eidgenossen und die Einsicht aus leidvollen Erfahrungen, als neutraler Staat besser bestehen zu können, als sich in Konkurrenz mit anderen Mächten zu begeben, haben den Boden bereitet, auf dem sich die Gedanken der Aufklärung mit dem damals bestehenden politischen System zu dem entwickelt haben, was die Schweiz heute ist. Ein Bürgerstaat, wie es ihn sonst nirgends gibt.
Neben der verstärkten demokratischen Kontrolle und einer Entwicklung hin zur direkten Demokratie in anderen Ländern sieht Chesney aber auch dringenden Handlungsbedarf in der Regulierung der Märkte und Banken. Seine umfassenden Vorschläge sind alle diskussionswürdig und geben eine ausgezeichnete Grundlage, von der aus die Auswüchse des kapitalistischen Systems kontrolliert und korrigiert werden können und eine am Gemeinwohl orientierte Wirtschaft wieder eingerichtet werden kann.
«Last but not least verlangt die Implementierung dieser Massnahmen von den Politikern Analysefähigkeit und … Mut. Sie tragen die Verantwortung gegenüber den heutigen und zukünftigen Generationen, die ein Anrecht auf ein Leben in Würde und Anstand haben.»    •
«Politiker jedweder Couleur dürfen nur eine Politik verfolgen: die der Finanzmärkte. Dabei handelt es sich um eine Form der Diktatur. Anfang November 2011 besass Giorgos Papandreou, damals noch Ministerpräsident Griechenlands, die Kühnheit, ein Referendum anzukündigen, damit die griechischen Bürger ihre Mei­nung zu der von Europa angebotenen Finanzhilfe für ihr Land und den damit einhergehenden Sparauflagen kundtun konnten. Wenige Tage später verlor er sein Amt. Es wäre wünschenswert, wenn in un­serem vorgeblich demokratischen Rahmen nicht nur griechische, sondern auch deutsche und französische Bürger über für sie direkt relevante Fragen und über die Verwendung öffentlicher Gelder mit­bestimmen könnten!» (S. 31f.)
«Griechenlands Haushaltsdefizit im Jahr 2000 wurde teilweise durch den Einsatz eines komplexen Finanzproduktes (Devisenswaps) verschleiert, das von einem der grossen Marktakteure feilgeboten wurde, der Goldman Sachs Bank. Der verheimlichte Schuldenbetrag trug zu der Fehleinschätzung bei, dass Griechenland den Maastricht-Kriterien entspräche, wodurch es der Euro-Zone beitreten konnte, was im Grunde besser nicht gesche­hen wäre. Mario Draghi, der vorab bereits erwähnte Präsident der Europäischen Zentralbank, war von 2002 bis 2005 stellvertretender Vorsitzender von Goldman Sachs Europe. Es bleibt festzustellen, dass er diese Geschäfte bisher nicht öffentlich verurteilt hat. Loukas Papadimos, seinerzeit amtierender Gouverneur der griechischen Zentralbank und im Laufe des Jahres 2011 zum Ministerpräsidenten des Landes ernannt, war ein entscheidendes Kettenglied dieser Transaktion.» (S. 32)

Zeit-Fragen  >  2015  >  Nr. 19/20, 21. Juli 2015 


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