2012-04-19

AUFRUF VON MIKIS THEODORAKIS







«In Wahrheit fliesst jedes Paket mit den Dutzenden Milliarden Euro, mit denen Griechenland belastet wird, vollständig dahin zurück, wo es herkommt, während uns neue untragbare Zinsen aufgebürdet werden. Und weil die Notwendigkeit zur Erhaltung des Staates, der Krankenhäuser und der Schulen besteht, lädt die Troika den mittleren und untersten wirtschaftlichen Schichten der Gesellschaft überdimensionale Steuern auf, die direkt in den Hunger führen. Eine allgemeine Hungersituation hatten wir zu Beginn der deutschen Besatzung 1941 mit 300 000 Toten in einem Zeitraum von sechs Monaten. Das damalige Schreckgespenst des Hungers kehrt in unser verleumdetes und unglückliches Land zurück.»

Für eine Neuausrichtung Griechenlands

Der Pflicht gegenüber den Idealen der Freiheit und des Rechts nachkommen

von Mikis Theodorakis
 
zf. Mikis Theodorakis, der grosse griechische Komponist und Friedenskämpfer, geht die Situation seiner Heimat aus einer eigenen, inneren Position an. Die Erfahrung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg und die Erfahrung der Militärdiktatur haben den Blick geschärft und lassen ihn unterscheiden zwischen EU-Propaganda und realen Kausalverknüpfungen.
Bis 2009 gab es kein ernsthaftes wirtschaftliches Problem. Die grossen Wunden unserer Wirtschaft waren die übertriebenen Aufwendungen für den Kauf von Kriegsmaterial und die Korruption. Für beide dieser Wunden waren jedoch auch Ausländer mitverantwortlich. Deutsche, Franzosen, Engländer und Amerikaner etwa, die aus dem jährlichen Verkauf von Kriegsmaterial Milliarden Euro zu Lasten unseres nationalen Reichtums verdienten. Oder die deutsche Siemens, die eine spezielle Abteilung zur Bestechung griechischer Funktionäre unterhielt, um ihre Produkte auf dem griechischen Markt plazieren zu können.
Beides hätte vermieden werden können. Aber um den Abfluss des Reichtums (welcher Produkt der Arbeit des griechischen Volkes war) in die Kassen der fremden Länder zu vertuschen, suchten die korrupten Elemente in den beiden proamerikanischen Machtparteien in der überdimensionalen Verschuldung Zuflucht. Mit dem Ergebnis, dass die Staatsverschuldung 300 Milliarden Euro, also 130% des Bruttoinlandprodukts erreicht hat.
Damit verdienten die vorstehend angeführten Ausländer doppelt. Erstens an dem Verkauf ihrer Waffen und ihrer Produkte. Und zweitens an den Zinsen der Gelder, welche sie den Regierungen und nicht dem Volk geliehen hatten. Die Zinsen für den Kredit von 1 Milliarde Dollar, den Andreas Papandreou 1986 von einem grossen europäischen Land aufnahm, erreichten 54 Milliarden Euro und wurden schliesslich 2010 abbezahlt!

2008 – die grosse Wirtschaftskrise in Europa

2008 gab es die grosse Wirtschaftskrise in Europa. Es war zu erwarten, dass auch die griechische Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der Lebensstandard, der hoch genug war, um unter den 30 reichsten Ländern der Welt eingeordnet zu werden, blieb allerdings grundsätzlich derselbe. Hingegen gab es einen Anstieg der Staatsverschuldung. Diese führt jedoch nicht zwangsweise zu einer Wirtschaftskrise. Die Schulden grosser Länder, wie beispielsweise der USA und Deutschlands, belaufen sich auf Billionen Euro. Die Frage ist, ob wirtschaftliche Entwicklung und Produktion existieren. Dann kann man bei den grossen Banken Kredite mit einem Zinssatz von bis zu 5% aufnehmen, bis die Krise vorüber ist.
In genau dieser Situation befanden wir uns 2009, als im November der Regierungswechsel stattfand und Georgios Papandreou das Amt des Premierministers übernahm. Herr Papandreou hätte der Wirtschaftskrise (die wie gesagt die europäische reflektierte) mit Krediten von ausländischen Banken und zu dem üblichen Zinssatz von unter 5% begegnen können. Hätte er dies getan, hätte es für unser Land nicht das kleinste Problem gegeben. Es hätte sogar das Gegenteil stattgefunden, weil wir uns in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs befanden und somit unser Lebensstandard sicherlich gestiegen wäre.
Herr Papandreou hatte jedoch seine Verschwörung gegen das griechische Volk bereits ab Sommer 2009 begonnen, als er sich heimlich mit Strauss Kahn mit dem Ziel traf, Griechenland unter die Hegemonie des IWF zu führen. Die Information über dieses Treffen wurde von dem ehemaligen Präsidenten des IWF selbst an die Öffentlichkeit gebracht.
Damit wir jedoch dort hingelangen, muss­te die tatsächliche wirtschaftliche Lage in unserem Land verfälscht werden, damit die ausländischen Banken Angst bekommen und die Kreditzinsen auf unerschwingliche Zahlen hochschrauben.
Es folgte eine fünf Monate dauernde systematische Kampagne des Herrn Papandreou und seines Finanzministers in Europa, bei der sie das Ausland davon zu überzeugen versuchten, Griechenland sei eine vor dem Untergang stehende Titanic. Bei jeder ihrer Erklärungen stiegen die Zinssätze, damit wir keine Kredite mehr aufnehmen konnten und unsere Unterstellung unter den IWF und die Europäische Bank als Rettung erscheinen musste. In Wirklichkeit bedeutete sie den Beginn unseres Sterbens.

Eine einzige Unterschrift

Obwohl das griechische Recht für bedeutende Vereinbarungen die Zustimmung durch drei Fünftel des Parlaments verlangt, besiegelte im Mai 2010 eine einzige Unterschrift eines Ministers unter das berüchtigte Moratorium die vollständige Unterwerfung unter unsere Gläubiger. Das Moratorium und die Troika, die uns heute praktisch regieren, agieren also substantiell nicht nur nach dem griechischen, sondern auch nach dem europäischen Recht illegal.
Mit diesem Moratorium haben wir unsere nationale Eigenständigkeit und unser Staatsvermögen an die Ausländer abgetreten. Also Häfen, Flughäfen, Strassennetze, Elektrizität, Wasserversorgung, den unterirdischen und unter dem Meer befindlichen Reichtum etc., etc. Sogar unsere historischen Monumente wie die Akropolis, Delphi, Olympia, Epidaurus usw., da wir auf jegliche Vorbehalte verzichtet haben.
Die Produktion kam zum Erliegen, die Arbeitslosigkeit stieg auf 18%, es schlossen 80 000 Geschäfte, Tausende Manufakturen und Hunderte Industriebetriebe. Insgesamt haben 432 000 Unternehmen dichtgemacht.
Zehntausende junge Wissenschaftler verlassen das Land, das jeden Tag tiefer in mittelalterliche Finsternis absinkt. Tausende ehemals gutsituierte Bürger durchsuchen den Müll und schlafen auf dem Bürgersteig.
Derweilen wird angenommen, dass wir dank der Grossmut unserer Gläubiger, des Europas der Banken und des IWF, leben. In Wahrheit fliesst jedes Paket mit den Dutzenden Milliarden Euro, mit denen Griechenland belastet wird, vollständig dahin zurück, wo es herkommt, während uns neue untragbare Zinsen aufgebürdet werden. Und weil die Notwendigkeit zur Erhaltung des Staates, der Krankenhäuser und der Schulen besteht, lädt die Troika den mittleren und untersten wirtschaftlichen Schichten der Gesellschaft überdimensionale Steuern auf, die direkt in den Hunger führen. Eine allgemeine Hungersituation hatten wir zu Beginn der deutschen Besatzung 1941 mit 300 000 Toten in einem Zeitraum von 6 Monaten. Das damalige Schreckgespenst des Hungers kehrt in unser verleumdetes und unglückliches Land zurück.
Wenn man bedenkt, dass die deutsche Besatzung uns 1 Million Tote und die totale Zerstörung unseres Landes kostete, wie ist es dann möglich, dass wir Griechen die Drohungen der Frau Merkel und die Absicht der Deutschen dulden, uns einen neuen Gauleiter aufzuzwingen? … Diesmal mit Krawatte …
Und um zu belegen, ein wie reiches Land Griechenland ist und welch arbeitsames und bewusstes Volk die Griechen sind (Bewusstsein über die Pflicht gegenüber der Freiheit und die Liebe zum Vaterland), verweise ich auf die Epoche der deutschen Besatzung ab 1941 bis Oktober 1944.
 Als die SS und der Hunger 1 Million Bürger umbrachten und die Wehrmacht systematisch das Land zerstörte, die landwirtschaftliche Produktion und das Gold der Banken stahl, retteten die Griechen mit der Schaffung einer Bewegung der nationalen Solidarität das Volk vor dem Hunger und bildeten ein 100 000 Mann starkes Partisanenheer, welches 20 deutsche Divisionen in unserem Land aufhielt.
Gleichzeitig wussten die Griechen dank ihres Fleisses nicht nur zu überleben, sondern es gab inmitten der Besatzungsverhältnisse auch eine grosse Entwicklung der neugriechischen Kunst, speziell auf den Gebieten der Literatur und der Musik. Griechenland wählte den Weg der Selbstaufopferung für die Freiheit und gleichzeitig des Überlebens.
Auch damals schlugen sie grundlos auf uns ein, und wir antworteten mit Solidarität und Widerstand und überlebten. Dasselbe tun wir auch heute in der Gewissheit, dass der endgültige Sieger das griechische Volk sein wird.
Sie drohen, uns aus Europa hinauszuwerfen. Wenn Europa uns einmal nicht will, wollen wir dieses Europa von Merkel und Sarkozy zehnmal nicht.
Heute Sonntag, 12. Februar, nehme ich zusammen mit Manolis Glezos an einer Kundgebung teil. Mit jenem Helden also, der das Hakenkreuz von der Akropolis heruntergeholt hatte und damit das Fanal für den Beginn nicht nur des griechischen, sondern auch des europäischen Widerstandes gegen Hitler setzte. Hunderttausende werden unsere Strassen und Plätze überfluten und ihrem Zorn gegen die Regierung und die Troika Ausdruck geben.

Zusammenarbeit mit Russland anstreben

In diesem Moment setze ich alle meine Kräfte dafür ein, das griechische Volk dynamisch zu vereinen. Ich versuche die Menschen davon zu überzeugen, dass Troika und IWF keine Einbahnstrasse bedeuten. Dass es eine andere Lösung gibt. Und dass diese Lösung darin besteht, den Kurs unserer Nation radikal zu ändern und uns Russland zuzuwenden, mit Russland die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu suchen, Joint Ventures zu bilden und den natürlichen Reichtum unseres Landes zu Bedingungen zu nutzen, die unsere nationalen Interessen berücksichtigen.
Was Europa anbelangt, so schlage ich vor, den Kauf von Kriegsmaterial aus Deutschland und Frankreich zu stoppen. Und alles in unserer Macht Stehende zu unternehmen, damit Deutschland die uns geschuldeten Kriegsentschädigungen bezahlt, die sich heute – mit angemessenen Zinsen – auf 500 Milliarden Euro belaufen dürften.
Die einzige Kraft, die diese revolutionären Änderungen vorantreiben kann, ist das griechische Volk selbst: Vereint in einer mächtigen Front des Widerstands und der Solidarität, welche die Troika aus IWF und europäischen Banken aus unserem Land verjagt und deren rechtswidrige Handlungen (Kredite, Schulden, Zinsen, Steuern, Aufkäufe des Staatsreichtums) rückgängig macht. Die griechischen Kollaborateure, die im Bewusstsein unseres Volkes längst als Verräter verurteilt worden sind, werden zu bestrafen sein.
Diesem Ziel der Einheit des Volkes in einer Front bin ich gänzlich verschrieben und glaube, dass ich schliesslich Recht erhalten werde. Ich kämpfte mit der Waffe in der Hand gegen die Hitler-Besatzung. Ich lernte die Verliesse der Gestapo kennen. Ich wurde von den Deutschen zum Tode verurteilt und überlebte wie durch ein Wunder. 1967 gründete ich die PAM, die erste Widerstandsorganisation gegen die Militärjunta. Ich kämpfte in der Illegalität. Ich wurde ergriffen und im «Schlachthof» der Junta-Kripo inhaftiert. Schliesslich habe ich wieder überlebt.
Heute bin ich 87 Jahre alt und es ist sehr wahrscheinlich, dass ich die Rettung meines geliebten Vaterlandes nicht erleben werde. Ich werde jedoch mit einem ruhigen Gewissen sterben, weil ich bis zum Ende fortfahre, meiner Pflicht gegenüber den Idealen der Freiheit und des Rechts nachzukommen.     •
(Aus: Unsere Welt, 8. April 2012. Quelle: Tlaxcala. Auszüge aus dem Brief, den Mikis Theodorakis am 12. Februar 2012 in Athen verfasst hat.)

Griechenland: «Damit das nie wieder passiert.»

Ein Film für unsere heranwachsende Jugend und für uns Erwachsene auch

thk. Am 10. Juni 1944 schlachtete während einer sogenannten «Sühnemassnahme» eine deutsche SS-Division innert zweier Stunden 218 Bewohner des griechischen Dorfes Distomo ab. Wahllos wurden die unschuldigen Menschen getötet, Säuglinge, Kinder, Frauen, Männer, Greise, alle die zu diesem Zeitpunkt im Dorf anwesend waren. Wie durch ein Wunder überlebten der 4jährige Argyris und seine drei Schwestern dieses Massaker, während seine Eltern und 30 weitere Verwandte bei diesem Kriegsverbrechen der Deutschen ermordet wurden.
Zunächst kommt Argyris in ein Waisenhaus nach Athen, bevor er die Reise in die Schweiz antritt, um sich im Pestalozzi Kinderdorf in Trogen von den traumatischen Ereignissen erholen zu können. Das Kinderdorf, dem er Zeit seines Lebens verbunden blieb, verliess er nach bestandener Matur. Danach studierte er an der ETH in Zürich und war jahrelang als doktorierter Mathematiklehrer an Zürcher Mittelschulen tätig. Später engagierte sich Argyris Sfountouris beim Schweizerischen Katastrophenhilfekorps und war als Entwicklungshelfer unter anderem in Somalia und Indonesien tätig.
Sein ganzes Leben hat er dem Engagement für den Frieden und der Aussöhnung unter den Völkern verschrieben: «Damit das nie wieder passiert.»
Im Jahre 1994, zum 50sten Jahrestag des Massakers, organisierte er eine Gedenkveranstaltung in Delphi, die er dem Thema Krieg und Frieden widmete. Es nahmen Referenten aus der Schweiz, aus Deutschland und Griechenland daran teil. Ein offizieller Vertreter Deutschlands war nicht anwesend. Bis heute kämpft Argyris Sfountouris für die Anerkennung des Massakers als Kriegsverbrechen und für eine Entschädigung für die Hinterbliebenen. Bis dato weigert sich das offizielle Deutschland, dieses Kriegsverbrechen anzuerkennen, und rechtfertigte es als «Massnahme im Rahmen der Kriegsführung». Die Klage ist nun am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hängig.
Der Regisseur Stefan Haupt hat in seinem Film «Ein Lied für Argyris» genau diese Lebensgeschichte nachgezeichnet und die gesamte Problematik von Trauer, Empörung, Versöhnung und Gerechtigkeit, die sich dahinter verbirgt, dargelegt. Viele Zeitzeugen kommen darin zu Wort, unter anderem auch Mikis Theodorakis. Schonungslos deckt der Film die Verbrechen der deutschen Wehrmacht und der SS an der Zivilbevölkerung sowie die unmenschliche Haltung des offiziellen Deutschlands auf. Wer im Unterricht die Frage von Krieg und Frieden behandelt und welches Elend Krieg bei den Menschen hinterlässt, kommt an diesem Film nicht vorbei. Neben der persönlichen Geschichte von Argyris Sfountouris werden grundlegende Fragen nach dem friedlichen Zusammenleben der Völker aufgeworfen. Er ist ein historisch fundierter Aufruf an unsere Jugend und die Lehrer, die sie unterrichten, sich für die Aufgabe zu rüsten, ihre Lebenskraft im 21. Jahrhundert einem würdigeren Zusammenleben zu widmen.
Zu beziehen über die Fontana Film GmbH.
E-Mail: info(at)fontanafilm.ch

Quelle: Zeit-Fragen

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