2019-05-01

«Die Gründerväter Europas waren in der Hand der Amerikaner»

Interview von Alexandre Devecchio («Le Figaro») mit Philippe de Villiers*

«Es wird offensichtlich, dass die ‹Gründerväter› nicht dem geheiligten Bild der mythologischen Erzählung entsprachen. Es waren Menschen in der Hand der Amerikaner, geschwächt und abhängig.»

Das schlaffe Europa, unter dem wir heute leiden, ist keine Fehlentwicklung der eigentlichen Absichten der Gründer des Vertrags von Rom [Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft], sondern die eigentliche Umsetzung ihres Projekts, hebt der ehemalige Präsidentschaftskandidat für das Elysee, Philippe de Villiers, anklagend hervor.
 
Le Figaro: Ihr jüngstes Buch über die «Gründerväter Europas» steht im Kreuzfeuer der Kritik. Haben Sie eine solche Kontroverse erwartet?
Philippe de Villiers: Ja, natürlich. Seit Jahrzehnten bewegt sich die Union im verborgenen. Sie ist ein Wesen des Abgrunds; was sie fürchtet, ist das Licht. Der plötzliche Lichtstrahl, der auf die Gründungslüge gerichtet wird, hat die kleine Welt der akkreditierten «Possenreisser» in Panik versetzt. Zu spät. Das Buch ist im Umlauf. Es findet reissenden Absatz.
Weshalb ist das so?
Weil es kein Buch mit Halbwahrheiten ist, das mit einer wissenden Handbewegung weggewischt werden könnte. Es ist ein Buch, das sich auf Untersuchungen stützt, mit 111 Seiten Beweismaterial, neu freigegebenen Archivdokumenten, die für sich sprechen. Der Gegenangriff der in Angst versetzten Vertreter der offiziellen Meinung, die versuchen, eine Schutzzone zu errichten, kommt an der störenden Wahrheit der Beweise nicht vorbei. Alles gerät ins Wanken.
Es wird offensichtlich, dass die «Gründerväter» nicht dem geheiligten Bild der mythologischen Erzählung entsprachen. Es waren Menschen in der Hand der Amerikaner, geschwächt und abhängig. Was das Projekt des ursprünglichen Europas betrifft, so war es keineswegs das einer «Europäischen Macht». Die Amerikaner wollten einen zusätzlichen Markt mit einer Exekutivkommission, das heisst einer technischen, postpolitischen Autorität, von Funktionären geleitet und von der Kontrolle der Staaten unabhängig. Man führt als Entgegnung den Kalten Krieg und die Unterstützung des Antikommunismus an. Aber ich habe herausgefunden, dass Monnet am 13. November 1934 in Moskau mit Stalins Segen geheiratet hat. Antikommunismus war keineswegs seine Leidenschaft.
Was antworten Sie denjenigen, die Sie als «Verschwörer» bezeichnen?
Bei Verschwörungen geht es um Theorien, Gerüchte, Fantasien. Bei mir geht es um das Gegenteil: Ich veröffentliche Dokumente. Mein Buch ist sogar die Antwort auf die echte Verschwörung. Ich habe herausgefunden, dass Monnet, um dem Einfluss des Quai d’Orsay [französisches Aussenministerium] zu entkommen, sein Team ein «Kommando von Verschwörern» nannte. Die «europäische Konstruktion» hat sich schon immer mit Geheimhaltung umgeben. Undurchsichtigkeit war die Regel. Die «Monnet-Methode» ist verschwörerisch, gegen die Völker gerichtet. Er verheimlicht es nicht. Diese Konstruktion ist in Wirklichkeit ein Serienmord an den Demokratien Europas.
Einige Historiker behaupten, dass schon lange bekannt ist, dass Monnet den Amerikanern nahestand ...
Aber man hat vergeblich darauf gewartet, von ihnen zu erfahren, dass diese Nähe eine Kompromittierung darstellte: Dieser Präsident des «Komitees für die Vereinigten Staaten von Europa» erhielt geheime Zahlungen über die «Ford Foundation», aus CIA-Kreisen und über ein Konto bei der Chase Manhattan Bank. Viele Biographen wiederholen Monnets Worte, der behauptete, er habe «jegliche staatliche Subventionen ausgeschlossen». Ich beweise jedoch, dass dies eine Lüge ist, indem ich alle Dokumente veröffentliche, die die geheimen Überweisungen von stolzen Summen belegen und die Beeinflussungsoperationen, die die Gegenleistung darstellten. Es gibt auch andere Dokumente, die zeigen, dass Monnet ein Agent des Aussenministeriums war. Diese Historiker haben einige Unterlassungen begangen!
«Das dekonstruktive Gen, das die Europäische Union unterhöhlt, befand sich in der DNA der ‹Gründerväter›. Das Programm war von Anfang an festgelegt. Sie wussten, was sie taten und was sie wollten: eine gehirnlose Governance, um sich auf einen globalen Massenmarkt zuzubewegen. Wir sind weit entfernt von einem unabhängigen Europa.»
Was sagen Sie denen, die sagen: «Das wuss­ten wir schon ...»
Und warum haben sie dann nichts gesagt? Ich wusste nichts davon. Meine Leser anscheinend auch nicht. Ich wusste nicht, dass Schuman den Ersten Weltkrieg in deutscher Uniform, den Zweiten in Klöstern verbracht hatte, nachdem er unter Pétain einen Ministerposten bekleidet und für eine umfassende Vollmacht gestimmt hatte. Mir war nicht bekannt, dass der Architekt des Vertrags von Rom und erste Präsident der Kommission [Walter Hallstein] ein nationalsozialistischer Jurist war, der damit beauftragt worden war, den Rahmen für «Das Neue Europa» festzulegen, bevor er ein hoher Offizier für nationalsozialistische Ausbildung wurde und dann von den Amerikanern umerzogen wurde, um anschliessend von ihnen für führende europäische Positionen vorgeschlagen zu werden.
Was wollten Sie aufzeigen?
Dass das heutige Europa, ohne Körper, ohne Kopf, ohne Wurzeln, ohne Grenzen, keine falsche Umsetzung darstellt. Die geöffneten Archive liefern den Beweis: Das dekonstruktive Gen, das die Europäische Union unterhöhlt, befand sich in der DNA der «Gründerväter». Das Programm war von Anfang an festgelegt. Sie wussten, was sie taten und was sie wollten: eine gehirnlose Governance, um sich auf einen globalen Massenmarkt zuzubewegen. Wir sind weit entfernt von einem unabhängigen Europa.
Die beiden von Anfang an vorhandenen aktiven Prinzipien, die Personenfreizügigkeit und die Nichtdiskriminierung, haben wie Radiumstufen gewirkt, die die beiden vor uns liegenden grundlegenden Zivilisationsveränderungen hervorgebracht haben, das Soros-Europa und den Marrakesch-Pakt: Das erste Prinzip – die Personenfreizügigkeit – war die Vorstufe zur Abschaffung der physischen Landesgrenzen, die den austauschbaren, multi-unkultivierten Menschen hervorbringt. Und das zweite, die Nichtdiskriminierung, hat das Ende der anthropologischen Grenze vorbereitet, welche einen «Sandmann» hervorbringt, ohne Humus und ohne Nachkommenschaft.
Ein Kapitel ist Orbán gewidmet. Warum haben Sie ihn getroffen?
Ich wollte die Wahrheit wissen. Ich war sehr beeindruckt von diesem überlegt sprechenden, unerschütterlichen, reifen Mann, der keinen anderen Ehrgeiz hat, als seinem Land zu dienen. Er wurde dreimal hintereinander wiedergewählt. In Brüssel sagt man, er sei kein Demokrat. Er schützt seine Grenze, die eine Schengen-Grenze ist, und er will keine Masseneinwanderung, welche Brüssel der Visegrad-Gruppe aufzuzwingen versucht. Ich habe die Zweiteilung Europas wahrgenommen: einen Teil, der nicht islamisiert werden will, und einen anderen, der bereits den mutual accomodations ausgeliefert ist. Dies ist der Gegensatz zwischen den Eliten des Ostens, die ihre nationale Faser, ihre vertrauten Heimatländer behalten haben, und denjenigen des Westens, die in ihrer Neurose der ehemals Besiegten baden, misstrauisch gegenüber jedem Überschwang, jeder Begeisterung, jedem nationalen Gefühl. Letztendlich ist Monnets Europa für sie nur die Geschichte eines ständig fortschreitenden Traumas.
Ist dieses Buch eine Möglichkeit, um sich für «populistische Parteien» einzusetzen?
Nein, ich gebe keine Anweisungen, ich schlage Alarm. Ich schlage und schlage. Bevor der Muezzin kommt. Der Populismus ist der Schrei der Völker, die nicht sterben wollen.
Ist das von Ihnen beschriebene Europa reformierbar?
Sie fragen mich, ob Le Corbusier ein Viollet-le-Duc werden könnte?1 Die Antwort ist nein. Der grundlegende Mangel liegt in einer post-politischen, körperlosen, undemokratischen Architektur mit einem externen Bindeglied. Mit einem globalistischen und multikulturalistischen Tropismus, der von einer «Union» erzeugt wird, die das Innenleben unserer Zivilisation zerstört. Es ist nicht reformierbar.
Haben Sie keine Angst vor dem Chaos, das sein Fall mit sich bringen könnte?
Das Chaos, das haben wir schon. Der Bruch zwischen dem ideologischen und dem körperlichen Europa wird sich vergrössern. Die Mauer von Maastricht wird fallen. Denn der Traum vom Zusammenwachsen der Nationen – der Traum der postnationalen Eliten – ist in den Herzen der Völker verschwunden. Er ist zerfallen, weil er aus einem Netz von Lügen gewoben war. Die Welt von morgen, die bereits am Horizont auftaucht, ausserhalb Europas, ist die Welt der Entglobalisierung und damit der Souveränität des Rechts der Völker auf historische Kontinuität und der Grenzen, die die Frieden bringenden Filter der Zukunft sind.    •
* Philippe de Villiers, 1949 in der Vendée (Westfrankreich) geboren, ist ein französischer Politiker und Publizist. Mit einem dreijährigen Unterbruch war er von 1987 bis 2004 Mitglied der französischen Nationalversammlung. Von 2004 bis 2014 gehörte er dem Europäischen Parlament an. Als Autor veröffentlichte er eine Vielzahl historischer Bücher. 2005 trat er für die Beibehaltung der Souveränität Frankreichs ein und lehnte beim Referendum den Verfassungsvertrag für die EU ab. Er ist Gründer des «Puy du Fou», eines historischen Themenparks, der eines der beliebtesten Ausflugsziele Frankreichs ist und jährlich rund 2 Millionen Besucher anzieht. 

Quelle: © Alexandre Devecchio/Le Figaro vom 26.3.2019 (Übersetzung Zeit-Fragen)

1    Eugène Viollet-le-Duc war ein französischer Architekt, Denkmalpfleger und Kunsthistoriker. Er erlangte Berühmtheit durch seine Restaurierungen mittelalterlicher Bauwerke und seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Architekturgeschichte. Er lebte von 1814 bis 1879. Le Corbusier lebte von1887 bis 1965. (Anm. d. Übers.)
(Quelle: Zeit-Fragen)

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