2019-03-26

Europa – föderal-vielfältig, rechtsstaatlich, demokratisch


Die Alternative zu Macrons «Appell an die Europäer»

von Prof. Dr. Heinrich Wohlmeyer

Die Wiener Tageszeitung «Die Presse» hat am 5. März den «Appell an die Europäer» von Emmanuel Macron ohne Kommentar, quasi als gute Vorgabe für die Europawahlen, abgedruckt. Ein einziger Leserbrief hat auf den Vorschlag einer «europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie» kritisch hingewiesen.
Eine breitere kritische Abwägung erscheint geboten.

Macron hat den Finanzkapitalismus nicht angetastet

Fürs erste: Der Brief Macrons an die Europäer und die Bitte um Unterstützung der europäischen Regierungen scheint eine hilfeheischende «Flucht nach Europa» zu sein, weil ihn die internen Probleme einholen (siehe Gelbwesten).
Fürs zweite: Macron tastet in keinem Satz die internationale Finanzordnung an, deren Kind er selbst ist. Diese aber ist zusammen mit der gegenwärtigen Handelspolitik eine der Radnaben der zunehmenden Verarmung breiter Teile der Bevölkerung (Verlust von Arbeitsplätzen, gutem Lohn und auskömmlicher Rente). Er apostrophiert zwar die «Krisen des Finanzkapitalismus’», stellt aber das System, dem er seinen Aufstieg verdankt, nicht in Frage.

Kein Wort zur direkten Demokratie

Aber nun zu den Argumenten und Vorschlägen:
Seine zentrale Zielsetzung ist, «in politischer und kultureller Hinsicht die Ausgestaltung unserer Zivilisation in einer sich verändernden Welt neu [zu] erfinden». Die Angelpunkte sind «Freiheit, Schutz und Fortschritt». Damit versucht er auf die Sorgen und Ängste der Bürger und Bürgerinnen zu antworten. Er verliert aber kein Wort zur direkten Demokratie, um den besorgten Bürgern und Bürgerinnen eine Stimme zu geben.
Man könnte zynisch fragen: «Fortschritt wohin!?» (en marche …), Schutz wovor? (Vor Russland, dessen Militärbudget nur etwas mehr als ein Fünftel jenes der europäischen Nato-Staaten beträgt und das nicht angriffswillig ist?) Freiheit durch die Installierung einer politischen Kontrollbehörde, genannt «Agentur für den Schutz der Demokratie»? Letztere ist eher der Meinungsdiktatur im Kleid der Political correctness zuzuordnen.

Frankreich ist keine Friedensmacht

Heftig wird der internationale Machtanspruch erhoben («keine Macht zweiten Ranges» – «Europa als Ganzes spielt eine Vorreiterrolle»), und dazu müssen wir «im Einklang mit der Nato» aufrüsten. Gleichzeitig wird aber das «einzigartige Projekt für Frieden» beschworen. Der etwas in der jüngsten Geschichte Kundige fragt sich in diesem Zusammenhang, warum sich Frankreich noch die Fremdenlegion als Eingreiftruppe im Ausland leistet und diese für die diversen Regime changes im frankophonen Afrika einsetzt, warum Frankreich ein kostspieliges Atombombenprogramm beibehält, warum es die aus der Kolonialzeit stammenden defizitär verwalteten Überseegebiete weiter behält und warum es Interventionen in Libyen und Syrien betrieben hat, wofür wir alle zahlen? Ist dies nicht unangepasste Grossmannssucht?

Der Ausblick für Europa sieht anders aus

Sollten wir Europäer nicht endlich erkennen, dass in der EU nur mehr 6,3 % der Weltbevölkerung leben (in der Euro-Zone 4,5 %)?!
Realistisch können wir in der Welt eine ähnliche Rolle wie die alten Griechen im Römischen Reich übernehmen und selbst beim Verlust der politischen Macht ein geschätztes Vorbild im Denken und in der Gesamtkultur spielen (Denken wir daran, dass die Evangelien ursprünglich in Griechisch geschrieben worden sind … und an die Hadriansbibliothek in Athen …).
Nicht ein Einheitsbrei kann das Ziel sein, sondern die Vielfalt und ihre beglückende Schönheit. Ein vielfältiges «Europa der Vaterländer», wie es Charles de Gaulle benannt hat, sollte unser Ideal sein.
Wo bleibt die zündende, die Jugend begeisternde Vision eines Europa, das auf seinen christlich-griechisch-jüdisch-lateinischen Wurzeln aufbaut, das stolz ist auf seine Philosophen und Staatslehrer, seine polyphone Musik, seine Dichter, seine Naturwissenschaftler und Techniker, und das in seiner rechtsstaatlich-demokratischen Gesellschaftsgestaltung Vorbild für die ganze Welt ist? Wo ist die Vision eines Europa, das Heimat und Identifikation bietet, weil es von einer gemeinsamen Kultur getragen wird, die Einheit in der Verschiedenheit zeigt (in necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas – in der Not Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem aber Liebe)?

Das Korsett der Wirtschaftsverträge und des Euro

Macron stülpt gemäss dem gängigen politischen Hauptstrom über das vielfältige Eu­ropa die drei Freiheiten (Personen, Güter, Kapital), aber der heimatgebende rechtliche Alltag der Bürger (bis hin zu gemeinsamen Grundbuchs- und Erbschaftsregeln) wird nicht berührt. Statt dessen werden in Form von «umfassenden» internationalen Wirtschaftsverträgen zusätzliche Rechtsordnungen übergestülpt und mit Rechtsprechungskompetenz ausgestattet.
Dazu kommt noch «der Euro, der die gesamte EU stark macht». Die Realität ist aber vielmehr, dass das Korsett des Euro statt der Möglichkeit der äusseren Abwertung (Wechselkurs) zum Zwang der «inneren Abwertung» führt. Mit eigener Währung konnten Wettbewerbsnachteile (auch jene, die auf einem «lockereren Lebensstil» beruhen) weitgehend ausgeglichen werden. Nunmehr müssen Löhne und Gehälter, Sozial­leistungen und andere Staatsausgaben herhalten. Griechenland und die Gelbwesten lassen grüssen. Dazu kommt noch die bislang weggesteckte Geldlawine des «quantitative easing» der EZB (bislang über 4 Billionen Euro) und die praktisch unbegrenzten Haftungen im Rahmen von EFSM und ESM.
Besonders pikant ist die Passage «Projekte, durch die sich das Bild unserer Landstriche geändert hat». Die verödeten peripheren Räume, wo vor allem die Gelbwesten aufstanden, mahnen (Einsparen der dezentralen Infrastrukturen, obwohl die gesellschaftliche Zukunft energiepolitisch, ökologisch, sozial und wirtschaftlich auf Dezentralisierung und intelligente Vernetzung aufbauen muss).
Wie bekannt sieht Macron eine weitere «Stärkung» in einer Bankenunion und einer europäischen Arbeitslosenversicherung, was auf ein Zur-Kasse-Bitten der gut wirtschaftenden Staaten hinausläuft.

EU-Vertrag stellt Demokratietradition auf den Kopf

Dass die «Verfassung» der EU (Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) die europäische Rechts- und Demokratietradition auf den Kopf stellt, weil die Rechtssetzung von der versammelten Exekutive ausgeht, das Parlament nur bremsende Eingriffsrechte hat und die Kommission über den politisch besetzten Gerichtshof Widerstände aushebeln kann, nimmt Macron wohlwollend zur Kenntnis und wundert sich, wenn die Bürger gegen dieses Spiel der Eliten zu ihren Lasten aufstehen. Diese Bürger werden von ihm der «Lüge und Verantwortungslosigkeit» geziehen, weil sie das «Projekt Europa» gefährden.
Die zur Beruhigung der Bürger und Bürgerinnen erhobenen Forderungen nach einer gesamteuropäischen sozialen Grundsicherung, gleichen Löhnen und einem Mindestlohn bedürfen der handels- und finanzpolitischen Absicherung; aber diese klammert er aus. Ohne diese handelt es sich um Beruhigungspillen.

Alternativen sind schon angedacht

Ich wollte daher mein in acht Sprachen übersetztes «Auswegmanifest» an Präsident Macron übersenden. Die Kommunikation wird offiziell über seine Frau gesteuert. Dies kann auch einer der Gründe für die Abgehobenheit der Macronschen Politik sein.
Ich habe eines der letzten Kapitel meines Buches «Empörung in Europa – Wege aus der Krise» (Ibera University Press, Wien 2014) mit dem Titel versehen: «Aufstehen für ein Europa als ‹Licht für die Welt› – föderal-vielfältig, rechtstaatlich, demokratisch, tolerant, solidarisch und gebildet sowie vor allem die Würde der Person achtend und die Menschenrechte verwirklichend.»
Voraussetzung hierfür ist nicht nur die Loslösung von alten Machtansprüchen, sondern vor allem die Neugestaltung der gegenwärtigen Finanz- und Handelsordnung – auch gegen den Widerstand des Noch-Hegemons USA – zur Sicherung der wirtschaftlichen Basis dieser Vision. Letzteres wird Emmanuel Macron schwerfallen, weil er damit den Interessen seiner Förderer (Macher) zuwiderläuft.    •
Prof. Dipl.-Ing. rer. nat. Dr. iur. Heinrich Wohlmeyer, wurde 1936 in St. Pölten, Niederösterreich, geboren. Studium in Wien, London und den USA. Er ist ein österreichischer Industrie- und Forschungsmanager sowie Regionalentwickler und war 20 Jahre in der Industrie und in der Regionalentwicklung tätig. Er stand an der Wiege der Nachhaltigkeitskonzepte und baute die Österreichische Vereinigung für Agrar- und Lebenswissenschaftliche Forschung und die Österreichische Gesellschaft für Biotechnologie auf. Heinrich Wohlmeyer lehrte an der Technischen Universität Wien und an der Universität für Bodenkultur in Wien. Er initiierte die österreichische Ausgleichsabgabengesetzgebung und ist Verfasser zahlreicher handelspolitischer Artikel, unter anderem zu den geplanten CETA-, TiSA- und TTIP-Abkommen. Heute bewirtschaftet Wohlmeyer einen Bergbauernhof in Lilienfeld (Österreich). Wohlmeyer ist verheiratet, hat drei Töchter und fünf Enkelkinder.
Bücher: The WTO, Agriculture and Sustainable Development (2002); Globales Schafe Scheren – Gegen die Politik des Niedergangs (2006); Empörung in Eu­ropa – Wege aus der Krise (2012).
(Quelle: Zeit-Fragen)

Keine Kommentare: