Europäische Integration (Teil 3)
Die «Methode Schaffner» als ein Schlüssel zum Verständnis des Erfolgs der Schweiz
von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich
In Teil 1 dieser Artikelfolge haben wir die «Methode Monnet» als Schlüssel zum Verständnis der Euro-Krise erkannt (Zeit-Fragen Nr. 50 vom 12.12.2011). In Teil 2 haben wir zwei unterschiedliche Vorstellungen kennengelernt, wie «Europäische Integration» aussehen könnte – auf der einen Seite das Konzept der EWG und heutigen EU und auf der andern Seite die EFTA, die europäische Freihandelsassoziation (Zeit-Fragen Nr. 3 vom 17.1.2012). Wir haben die Politiker kennengelernt, die dem «Modell» EFTA zum Durchbruch verhelfen wollten. In der Schweiz waren dies vor allem die beiden Bundesräte Hans Schaffner und Friedrich Traugott Wahlen, die mit ihren engsten Mitarbeitern Albert Weitnauer und Paul Jolles das «Europa-Dossier» betreuten. In der Auseinandersetzung um die beiden unterschiedlichen Konzepte fehlte es nicht an Eklats verschiedenster Art. So war die Tinte auf dem EFTA-Vertrag von 1960 noch kaum getrocknet, als Grossbritannien zur EWG hinüber wechseln wollte und die andern EFTA-Länder sich halbherzig anschickten, im Kielwasser der Grossmacht zu folgen. Heute zeigen die Dokumente, dass die US-Regierung im Hintergrund die Fäden zog. Der französische Präsident Charles de Gaulle durchkreuzte den Plan, als er am 14. Januar 1963 die Beitrittsverhandlungen von Grossbritannien mit einem «Paukenschlag» beendete. – Erst jetzt konnte die EFTA mit ihrer eigentlichen Arbeit beginnen.
Nicht nur in Europa war ein Ringen um den «richtigen» Weg der wirtschaftlichen Integration zu beobachten. Ein weiterer Schauplatz waren die Verhandlungen im GATT. Auch hier gab es verschiedene Vorstellungen, wie das Wirtschaftsleben zwischen den Ländern – weltweit – besser zu vernetzen sei. Auch hier arbeitete Hans Schaffner mit seinen Mitarbeitern an vorderster Front – waren doch 45 Prozent der Exporte der Schweiz für aussereuropäische Länder bestimmt. Auch hier kam es zu einer ähnlich paradoxen Situation wie oben geschildert. Bundesrat Hans Schaffner leitete die sogenannte Kennedy-Runde1, die wichtigste Verhandlungsrunde des GATT nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl die Schweiz gar nicht Mitglied des GATT war. Wie kam es zu dieser merkwürdigen Situation?
General Agreement on Tarifs and Trade (GATT)
1947 gründeten 23 Länder das GATT mit dem Ziel, weltweit die hohen Zölle und Handelsschranken schrittweise abzubauen. Die USA zum Beispiel verlangten damals für Schweizer Uhren einen Zoll von 60 Prozent. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten die hoch entwickelten Industrieländer des Westens, Agrarländer wie Australien und Brasilien, Entwicklungsländer und einige wenige kommunistische Länder. Alle Mitglieder hatten gleiche Rechte und jedes Land hatte eine Stimme. Die Verträge konnten nur geändert werden, wenn alle zustimmten.
Die Schweiz exportierte in der Nachkriegszeit – ähnlich wie heute – etwa vierzig Prozent ihrer Produkte und Dienstleistungen ins Ausland und war interessiert beizutreten. Dazu kam es nicht. 1947 hatten die Stimmbürger den neuen Wirtschaftsartikeln in der Bundesverfassung zugestimmt. Diese beauftragten den Bund, Massnahmen zu ergreifen zum Schutz eines gesunden Bauernstandes und einer leistungsfähigen Landwirtschaft (Art. 31 bis Abs. 3 BV). Das Landwirtschaftsgesetz von 1951 schützte die Existenz der einheimischen Bauern mit Zöllen und Kontingenten. Ein Beitritt war deshalb nicht möglich. Es war die Aufgabe von Hans Schaffner, damals Direktor der Handelsabteilung, die Zustimmung für eine Ausnahmeregelung zu bekommen. 1958 stand er kurz vor seinem Ziel. Fast alle Mitglieder des GATT waren einverstanden, die Schweiz mit einer Sonderregelung aufzunehmen. Fast alle – die Agrarländer Australien und Neuseeland legten das Veto ein –, und die Schweiz wurde nur als provisorisches Mitglied ohne Stimmrecht aufgenommen.
Das hinderte Hans Schaffner nicht, aktiv mitzuarbeiten. So leitete er vom 16. bis 21. Mai 1963 die Ministerkonferenz des GATT, die das Regelwerk für die sogenannte Kennedy-Runde aufstellte. Es gelang ihm, den Generaldirektor des GATT zu gewinnen, den Vollbeitritt der Schweiz mit einer Sonderregelung zu unterstützen. Am 1. April 1966 war es soweit: Alle Mitglieder des GATT stimmten zu. Hans Schaffner beschrieb diese Situation im Bundesblatt, dem Amtsblatt der Schweiz, wie folgt: «Wenn unsere Partner sich dazu bereit fanden, so geschah es zum Teil darum, weil sie einem Land von der Statur der Schweiz trotz ihrer fest gefügten Sonderart, die in kein Schema passt, den Weg zum GATT nicht versperren wollten. […] In diesem Sinn ist die Freiheit, die der Schweiz für die Fortführung ihrer Agrarpolitik eingeräumt wurde, nicht unbeschränkt. Die Schranken ergeben sich aus der Tatsache, dass unser Land keine isolierte Existenz führt, sondern mit seiner wirtschaftlichen Umwelt aufs engste verbunden ist.» (Bundesblatt 1966, S. 713)
Einige Monate später schilderte Albert Weitnauer, Leiter der Schweizer Verhandlungsdelegation, an der Botschafterkonferenz die Ereignisse im GATT noch genauer: «Das General Agreement wird in seinem Wortlaut von sozusagen niemandem voll eingehalten. In der Gewährung von Ausnahmen oder Dispensen von der Verpflichtung des GATT ist die Organisation stets nach dem Grundsatz vorgegangen, desto strenger zu sein, je stärker das betreffende Land wirtschaftlich ist. Die Entwicklungsländer geniessen ein Sonderstatut, das sie der Respektierung fast aller Vorschriften des GATT enthebt. Die hochentwickelten Länder auf der andern Seite, deren Zahlungsbilanz in Ordnung ist, haben grosse Mühe, vom GATT Dispense von ihren Verpflichtungen nach dem Accord général zugestanden zu erhalten. Wir konnten es unter diesen Umständen als Erfolg unserer Handelspolitik verbuchen, dass es uns gelang, nachdem wir uns während mehr als sieben Jahren mit dem Status eines provisorischen Mitglieds hatten begnügen müssen, durch einen Beschluss der GATT-Vertragsparteien vom 1. April dieses Jahres als Vollmitglied der Organisation aufgenommen zu werden, obwohl die schweizerische Landwirtschaftspolitik mit ihren vielfältigen Einfuhrbeschränkungen mit dem GATT-Statut keineswegs vereinbar ist.» (Botschafterkonferenz vom 1. September 1966, www.dodis.ch/30835)
Hans Schaffner und Friedich Traugott Wahlen hatten im GATT die Überzeugung vertreten, dass die Grundsätze des Freihandels nicht 1:1 auf die Landwirtschaft übertragen werden könnten, weil die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu gross seien und die Selbstversorgung für viele Länder existentielle Bedeutung habe könne. Die Schweiz hatte dies im Zweiten Weltkrieg hautnah erlebt. Diese Überzeugung war bereits in die Statuten der EFTA eingeflossen. Die Geschichte sollte dieser Politik Recht geben. In Wirklichkeit wurde auch im GATT der Freihandel im Bereich der Landwirtschaft nie richtig durchgeführt. Daran hat sich auch heute nichts geändert. Die WTO als Nachfolgeorganisation des GATT hat in der Doha-Runde elf Jahre lang versucht, die Regeln des globalen Freihandels auf die Landwirtschaft zu übertragen, und ist daran gescheitert. Die EFTA hält seit 1960 daran fest, die Landwirtschaftspolitik den einzelnen Mitgliedsländern zu überlassen.
Kehren wir zurück zur «Europäischen Integration». Auch in diesem Bereich hatten Hans Schaffner und seine Mitarbeiter mit ihrer Politik Erfolg. Es fällt auf, wie gewandt sie sich auf dem internationalen Parkett bewegten und das politische Geschehen als Vertreter eines neutralen Kleinstaates aktiv mitgestalteten (obwohl oder gerade weil die Schweiz damals nicht Mitglied der Uno war).
Freihandelsvertrag von 1972
Nach dem Veto des französischen Staatspräsidenten de Gaulle nahmen die sieben EFTA-Länder ihren ursprünglichen Plan wieder auf, eine grosse Freihandelszone zu schaffen, die sowohl die Länder der Europäischen Gemeinschaft wie auch der EFTA als gleichberechtigte Teilnehmer umfasste – ein Projekt, das die USA in den 1950er Jahren noch verhindert hatten. Hans Schaffner trat 1969 aus gesundheitlichen Gründen als Bundesrat zurück. Es war ihm in den letzten Jahren seiner Regierungstätigkeit noch gelungen, das Vertragswerk der EFTA zu festigen. Paul Jolles, Leiter des Integrationsbüros, war massgebend beteiligt, als 1972 der geplante Freihandelsvertrag zwischen der EG und den EFTA-Ländern abgeschlossen wurde.
Für Hans Schaffner und seine Mitarbeiter hatte der Vertrag auch eine persönliche Bedeutung: Eine relativ kleine Gruppe von Personen aus dem Bundesrat und der Verwaltung führte damals die Verhandlungen zur Europapolitik. Es war für sie deshalb eine grosse Genugtuung, als die Schweizer Stimmbürger dieser Politik zustimmten und den Freihandelsvertrag mit einem überwältigenden Mehr von 72,5 Prozent Ja-Stimmen und mit allen Ständestimmen annahmen.
Die EG und die EFTA erlebten in der Folgezeit ihre besten Jahre. Der grosse Freihandelsvertrag von 1972 wurde in den nächsten Jahren ergänzt durch zahlreiche weitere Verträge aus dem Dienstleistungsbereich – zum Beispiel mit dem grossen Versicherungsvertrag von 1989. Die Landwirtschaft blieb den einzelnen Ländern überlassen. Das Projekt, die Länder Westeuropas wirtschaftlich zu integrieren, hatte sein Ziel weitgehend erreicht. Die Vermutung aus dem Jahr 1960, Brüssel werde nun beginnen, seine Bürokratie wieder abzubauen, bewahrheitete sich allerdings nicht – ganz im Gegenteil. Es sollte ganz anders kommen.
Neuauflage des «Jean Monnet/USA-Konzepts»
Als Charles de Gaulle 1971 starb, wurde das Jean Monnet/USA-Konzept, wie es Albert Weitnauer bezeichnet hatte, wieder reaktiviert. Damit ist gemeint, dass die EFTA-Länder aus politischen Gründen – nach Anweisung der USA – nach und nach in die EWG zu integrieren seien. Im Jahr 1973 verliessen die beiden Nato-Mitglieder Grossbritannien und Dänemark die EFTA und wechselten – wie bereits 1960 geplant – zur Europäischen Gemeinschaft EG. 1995 folgten auch die beiden Neutralen Schweden und Österreich. Das Nato-Mitglied Norwegen trat zwar nicht wie geplant bei. Die Stimmbürger hatten diesen Schritt abgelehnt. Es beteiligte sich jedoch am EWR, der die automatische Übernahme von EU-Recht und eine enge Anbindung an die EU vorsah – ein Schritt, den die Stimmbürger in der Schweiz 1992 ablehnten.
Die Schweiz war deshalb Mitte der 1990er Jahre noch das letzte Gründungsmitglied der EFTA, das dem Jean Monnet/USA-Konzept nicht gefolgt war und am ursprünglichen Weg festhielt, als souveränes Land auf eine freiheitliche Art mit Gleichgesinnten zu kooperieren. – Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass die Schweiz kurze Zeit später massiv aus den USA angegriffen wurde. Jüdische Kreise bezichtigten das Land mit einer gut orchestrierten Kampagne – tatsachenwidrig – der Kumpanei mit Hitler im Zweiten Weltkrieg. Dieser Angriff kam den «Monnet-Netzwerken» in den Schweizer Medien und unter den Politikern der Schweiz nicht ganz «ungelegen», bot er ihnen doch die Chance, das Gefühl der Eigenständigkeit und das Selbstbewusstsein der Schweizer Bürger zu untergraben, um so den Weg für einen Beitritt zu ebnen. – Funktioniert hat es nicht. Die Enttäuschung dieser Kreise dürfte gross gewesen sein, als die Stimmbürger im Jahr 2001 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit 76 Prozent der Stimmen ablehnten – mit ungefähr dem gleichen Prozentsatz, mit dem sie 30 Jahre zuvor der grossen europäischen Freihandelszone zugestimmt hatten, die die EFTA- und die EG-Länder als gleichberechtigte Teilnehmer umfasste. – Beitrittsverhandlungen würden heute wahrscheinlich noch weit deutlicher abgelehnt werden.
Monnet-Manie
Wie oben bereits erwähnt, erlebten die Europäische Gemeinschaft und die EFTA in den Jahren nach dem Abschluss des grossen Freihandelsvertrages von 1972 ihre besten Jahre. Die offizielle Geschichtsschreibung der EU, die der Monnet-Doktrin folgt, sieht dies allerdings anders. Hier ist die Rede von 25 Jahren Euro-Skeptizismus («Euro-Sklerose»), die mit der Wahl von de Gaulle zum französischen Staatpräsidenten im Jahr 1958 begonnen habe. Erst der französische Sozialist Jacques Delors, der 1985 zum Kommissionspräsidenten ernannt wurde, habe die Gemeinschaft aus der «tiefen Krise» geführt. So steht es heute bei Wikipedia.
Delors baute die ausufernde Bürokratie nicht – wie erwartet – ab, sondern massiv aus. Im Juni 1989 legte er einen 3-Stufen-Plan zur Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion vor und stellte die Weichen zum Schlamassel, in dem wir heute stecken. Das Geld spielte in dieser Politik bereits früher eine grosse Rolle: Im Verlaufe der Jahrzehnte wurden – gut gemeint – insgesamt Billionen über die verschiedenen Strukturfonds und später den Kohäsionsfonds in die südlichen Länder geleitet, um «den Unternehmergeist zu stärken», wie es in den offiziellen Programmen so schön heisst. Heute wissen wir, dass das viele Geld sein Ziel nicht erreicht hat. Es hat im Gegenteil – wie wir heute sehen – die Eigenständigkeit und die Eigenverantwortung dieser Länder eher geschwächt. Ob die Gelder, die im Rahmen des EFSF und des ESM wieder in diese Länder fliessen werden, mehr Erfolg haben werden, ist zu bezweifeln.
Wir kennen alle die Entwicklungsetappen der letzten Jahre: der Vertrag von Maastricht, der EWR, die Einführung des Euro, die Verträge von Schengen und von Lissabon, die «Bilateralen Verträge I und II» mit der Schweiz, das Projekt der Fiskal- und Wirtschaftsunion, der EFSF und ESM – lauter Schritte in Richtung einer immer engeren politischen Union, wie dies bereits in der Präambel der Römischen Verträge von 1957 vorgesehen war. Aus den heute vorliegenden Dokumenten wissen wir, dass diese Entwicklung einer politischen Strategie folgt, die letztlich aus den USA stammt und ihre Begründung im kalten Krieg hat.
Jean Monnet erlebte – nach Jahren der Zurücksetzung in der Zeit de Gaulles (von 1958 bis 1969) – seine «goldenen» Jahre. Sein «Geist» und seine Netzwerke eroberten die Redaktionsstuben der meisten Medien, viele Parteizentralen, Regierungen und auch die Universitäten – auch in der Schweiz. So gibt es heute an den europäischen Universitäten etwa 200 Jean-Monnet-Lehrstühle. Die meisten Medien haben ihre Berichterstattung seit vielen Jahren einseitig ausgerichtet. Als Jean Monnet im Jahr 1979 starb, liess François Mitterand seinen Leichnam ins Panthéon überführen, wo er heute neben den Grössen der französischen Politik und des Geisteslebens ruht. Die Stiftung «Jean Monnet pour l’Europe» verleiht jedes Jahr eine Ehrenmedaille. Zu den Preisträgern gehören neben Jacques Delors und Helmut Kohl auch Mitglieder der Schweizer Regierung wie die Bundesräte Adolf Ogi und René Felber. Jakob Kellenberger, vor wenigen Jahren Verhandlungsführer der «Bilateralen I,» ist heute Vizepräsident der Stiftung «Jean-Monnet pour l’Europe».
Geringschätzung von wahrer Grösse
Hans Schaffner und seine Mitarbeiter, die das Gesicht der modernen Schweiz so stark geprägt hatten, gerieten dagegen mehr und mehr in Vergessenheit, oder die Erinnerung an ihre Politik wurde bewusst beiseite geschoben. Seine Partei, die FDP, änderte ihr Gesicht und hat heute Mühe, ihr Profil zu finden. Nach der EWR-Abstimmung nahm sie den EU-Beitritt ins Parteiprogramm auf (und strich ihn vor kurzem wieder heraus). Der heute für die Aussenpolitik zuständige Bundesrat Didier Burkhalter trat damals der Nebs bei (und später wieder aus). Der Zweck der «Neuen europäischen Bewegung Schweiz Nebs» ist der EU-Beitritt. Die Partei verlor seit ihrer «Neuorientierung» in den 90er Jahren etwa einen Viertel ihrer Wählerstimmen.
Um ihren Bundesrat Hans Schaffner wurde es still. Heute gibt es nicht einmal eine Biographie über ihn. In seinen letzten Lebensjahren wurde Hans Schaffner sogar aktiv übergangen. Die Historiker der sogenannten «Bergier-Kommission», die die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs genauer aufarbeiten sollten, vermieden es, ihn als den damaligen Leiter der Eidgenössischen Zentrale für Kriegswirtschaft überhaupt zu konsultieren. Vermutlich befürchteten sie, wie alt Staatssekretär Franz Blankart später in seinem Nachruf auf Hans Schaffner schrieb, «dass ihre Vorurteile durch sein Urteil widerlegt worden wären». («NZZ» vom 30.11.2004) Es gehörte nicht zur Art von Hans Schaffner zu resignieren, sondern er wurde – wie schon so oft – aktiv und reiste im Alter von 93 Jahren in die Höhle des Löwen nach New York. Er brachte seine Empörung über die deplazierten Angriffe in einem Artikel in der «New York Times» zum Ausdruck. Zeit-Fragen hat den Artikel übersetzt und ihn mit dem Titel «Die Wahrheit über die Schweiz» abgedruckt. (Zeit-Fragen Nr. 33 vom 12.8.2002) Die ersten Zeilen sollen einen Eindruck vermitteln:
«Erneut ist eine Debatte aufgekommen, welche Massnahmen die Schweiz ergreifen sollte, um die Forderungen der Holocaust-Opfer zu begleichen, deren Eigentum seinen Weg auf Schweizer Banken fand. Die Zahlungen, welche mein Land bis heute zur Verfügung stellte, sind weit herum nicht als ehrenwerter Akt des Mitgefühls, sondern als Ausdruck eines nationalen Schuldbewusstseins dargestellt worden. – Diese Verwirrung ist die Folge von zwei Jahren voller Anschuldigungen, die Schweiz habe während des Zweiten Weltkriegs mit Nazi-Deutschland kollaboriert, indem sie jüdisches Eigentum einbehalten und Flüchtlinge schlecht behandelt habe. Diese Anschuldigungen beruhen auf keinerlei neuen Informationen. Alle wichtigen Einzelheiten sind seit 1946 bekannt. Was neu ist, ist die Flut von Groll gegen die Schweiz und die Ignoranz, die dieser zugrunde liegt. – Da ich die Schweizer Kriegswirtschaft in den bedrohlichen Jahren des Zweiten Weltkriegs leitete, als wir Vorbereitungen gegen einen Angriff der Nazis zu treffen hatten, bin ich entsetzt zu sehen, wie durchweg falsch das Verhalten der Schweiz in der Zeit des Krieges dargestellt wird. Es ist an der Zeit, die Dinge richtigzustellen: […].
Eigenständige Bevölkerung
Die Bevölkerung der Schweiz liess sich von der Monnet-Manie nicht anstecken – trotz der permanenten Berieselung der Medien blieb sie meistens sachlich. Im Jahr 1992 lehnten die Stimmbürger den EWR ab, obwohl das Parlament das erste Mal in der Geschichte des Bundesstaates Steuergelder für eine massive Ja-Propaganda bewilligt hatte. Im Jahr 2001 lehnten sie mit 76 Prozent die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ab. Die Stimmbürger stimmten den «Bilateralen Verträgen I und II» zu. Diese bilateralen Verträge haben jedoch eine andere Qualität als die früheren. Alt Staatsekretär Franz Blankart, der Verhandlungsführer des EWR, stellte vor kurzem fest: «Die [bilateralen] Verträge mit der EU wurden unter der impliziten Annahme ausgehandelt, dass die Schweiz in absehbarer Zeit Mitglied der EU sein werde, weshalb der gestaltenden Mitwirkung kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde.» (NZZ am Sonntag vom 25.10.2009) – Die Schweiz tut sich schwer, ihren Weg zu finden.
In den meisten Ländern wurden die Stimmbürger zur Europapolitik gar nicht gefragt, oder die Abstimmung wurde wie in neuerer Zeit auch in der Schweiz mit einer riesigen Regierungspropaganda beeinflusst.
Die «Methode Schaffner» als ein Schlüssel zum Verständnis des Erfolgs der Schweiz
Heute sieht manches wieder anders aus. Die EU ist in der Krise. Der Euro funktioniert nicht – und manches andere in der EU auch nicht. Die «Methode Monnet» ist auf dem Prüfstand. Die EFTA – heute mit noch vier Mitgliedern – setzt ihre Freihandelspolitik fort. Sie hat in den letzten Jahren eine Vielzahl von individuell ausgehandelten Freihandelsverträgen mit Staaten auf der ganzen Welt abgeschlossen, die die Besonderheiten der jeweiligen Vertragspartner berücksichtigen. Die Verhandlungen mit China sind vor kurzem abgeschlossen worden. Der Vertrag mit Indien steht vor dem Abschluss. Verhandlungen mit Russland sind im Gange. (Vergleiche auch: «Europa am Scheideweg: Mehr Eigenverantwortung und freiheitliche Zusammenarbeit zwischen souveränen Nationen» in Zeit-Fragen vom 24.10.2011).
Das grosse Netzwerk der Verträge umfasst heute den grössten Teil des Globus. Die EFTA muss deshalb auch den Vergleich mit der WTO nicht scheuen. Die Welthandelsorganisation versucht seit vielen Jahren vergeblich, den Freihandel in ein einheitliches, globales Korsett zu schnüren, das den einzelnen Mitgliedern offensichtlich nicht gerecht wird. Die «Methode Schaffner» dagegen verdient es, zur Kenntnis genommen zu werden. Sie ist heute ein Schlüssel zum Verständnis des Erfolgs der Schweiz.
Globale Herausforderung
Auch im Osten arbeiten die Länder der ASEAN auf eine ähnliche Weise wie die EFTA zusammen – mit Erfolg. Diese Länder steckten 1998 wie heute die EU in einer schweren Krise, die als Asien-Krise in die Geschichte einging. Sie haben es eigenverantwortlich geschafft, ihre ebenfalls riesigen Schuldenberge in den Griff zu bekommen, ohne zweifelhafte Instrumente wie EFSF, ESM oder Euro-Bonds einsetzen zu müssen. Die meisten sind praktisch schuldenfrei und haben in den letzten Jahren Reserven gebildet, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. «Europa» wird es sich nicht leisten können, seine Augen davor zu verschliessen.
Wie die Dokumente heute zeigen, ist das «Jean Monnet/USA-Konzept» ein Produkt des kalten Krieges und zu einem erheblichen Teil von den USA fremdbestimmt. Es ist höchste Zeit, dieses Konzept kritisch zu hinterfragen, um den Herausforderungen dieses Jahrhunderts gewachsen zu sein. Der kalte Krieg ist längst Geschichte. Vielleicht braucht die Bevölkerung in der EU ähnlich wie in der DDR vor zwanzig Jahren – eine Art «Mauerfall», um sich von den einengenden Strukturen und der Fremdbestimmung zu befreien.
Oder wie es bei Voltaire oder bei Immanuel Kant so schön heisst: «Aufklärung bedeutet Aufbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.»
Im vierten und letzten Beitrag zum Thema «Europäische Integration» kehren wir wieder zurück ins Jahr 1969. Minister Albert Weitnauer, ein enger Mitarbeiter von Hans Schaffner, versammelte die Schweizer Botschafter am 5. September 1969 zu einer eigentlichen Staatskundelektion zum Thema «Europäische Integration». (dodis.ch/30861) Er warf die Grundsatzfrage auf: Gibt es in Europa genügend staatsbildende Elemente, die es erlauben, auf dem Weg zu den «Vereinigten Staaten von Europa» weiter zu schreiten? Er wies darauf hin, dass das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl, der politische Wille der Bevölkerung, das Wirken von Führungspersönlichkeiten und ähnliches als unabdingbare Bausteine vorhanden sein müssten, um so etwas wie einen Bundesstaat aufbauen zu können. Er entwickelte vor 43 Jahren eine in der Politik seltene Weitsicht. Davon mehr im nächsten Artikel. •
1 Das GATT führte – wie heute ihre Nachfolgeorganisation WTO – in Abständen von einigen Jahren Verhandlungsrunden durch, um ihre Verträge anzupassen und weiterzuentwickeln. Die bekanntesten sind die Kennedy-Runde (1962–1967), die Uruguay-Runde (1986–1994) und heute die Doha-Runde (2001–2011).
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