2010-11-20

Europäischer Haftbefehl

 Europäischer Haftbefehl 



Die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit der Europäischen Union in Strafsachen (Art. 69a ff. (67 ff.), 69 f ff. (87 ff.) AEUV, bislang Art. 29 ff. EUV) ist spätestens seit dem Vertrag von Lissabon nicht mehr bloße inter­gouvernative Zusammenarbeit mit normaler völkerrechtlicher Verbindlich­keit. Der Vertrag von Lissabon reiht den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu den Hauptbereichen geteilter Zuständigkeit (vgl. Art. 2c (4) Abs. 2 lit. j AEUV) Die innere und die äußere Sicherheit ist die wichtigste Staatsaufgabe und Kern der existentiellen Staatlichkeit eines Volkes493. Die Politiken in dem Bereich Sicherheit (Polizei und Justiz) müssen auch wegen ihrer besonderen Grundrechtsgefahren stark demokratisch legitimiert sein. Das Subsidiaritätsprinzip gebietet grundsätzlich, diese Politiken den Mitglied­staaten zu belassen. Ein „Integrationsmehrwert“494 von Zuständigkeiten der Europäischen Union im Bereich Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist jedenfalls für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit allenfalls ausnahmsweise begründbar, wie gewissermaßen Art. 61e (72) AEUV einräumt. Gerade die Integration im Be­reich der inneren Sicherheit, der Polizei und der Justiz zeigt, daß die Europäi­sche Union über existentielle Staatlichkeit verfügt und diese stetig, auch durch den Vertrag von Lissabon, ausbaut. Augenfällig wird dies an der Befugnis zur Strafrechtsangleichung in Bereichen besonders schwerer Kriminalität gemäß Art. 69b (83) AEUV.

493 Ch. Link/G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat, VVDStRL, 48 (1990), S. 83 ff., 98 ff., bzw. S. 19 ff., 27 ff., 42 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 545 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 100 ff., 353, 381; ders., Rechtsstaatlichkeit als Vorausset­zung des inneren und äußeren Friedens, Mut zur Ethik, Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht versus Krieg, 2002, S. 6 ff.
494 Richter Prof. Dr. S. Broß, Abweichende Meinung zum Urteil des zweiten Senats vom 18.07.2005 (2 BvR 2236 (04) zum Europäischen Haftbefehlsgesetz, Rdn. 149, BVerfGE 113, 273 (325).

Die Übernahme des Kerns existentieller Staatlichkeit hat sich im Rahmen­beschluß über einen Europäischen Haftbefehl gezeigt495. Dieser Haftbefehl er­setzt das System der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten (Rahmen­beschluß und Erwägungsgrund). Ein Europäischer Haftbefehl erlaubt einer Justizbehörde eine „gesuchte Person“ der Justizbehörde eines anderen Mit­gliedstaates zu überstellen. Nach Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ist der Europäische Haftbefehl „eine justizielle Entscheidung, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Voll­streckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.“ Er ist also eine Vollzugsanweisung der Behörden eines Mitgliedstaates an die eines anderen.

Der Zweite Senat des deutschen Bundesverfassungsgerichts hat durch Urteil vom 18. Juli 2005 zum Aktenzeichen 2 BvR 2236/04 das Gesetz zur Umset­zung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Ü­bergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 21. Juli 2004 (EuHbG, BGBl. I, S. 176) für nichtig erklärt (BVerfGE 113, 273 ff). Das Gericht hat aber den Rahmenbeschluß nicht für rechtswidrig erklärt, ja nicht einmal auf seine Rechtswidrigkeit hin geprüft, im Gegensatz zur ab­lehnenden Meinung des Richters Professor Broß, der durch den Rahmen­beschluß Integrationsschranken des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, namentlich des mit dem demokratischen Prinzip verbundenen Subsidiaritätsprinzips, verletzt sieht496, zu Recht.


495 Rahmenbeschluß JI/ 2002 des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Überga­beverfahren zwischen den Mitgliedstaaten v. 07.06.2002, 7253/02; gestützt auf Art. 31 Abs. 1 a, b, 34 Abs. 2 b EUV; Amtsblatt L 190 vom 18.07.2002; Umsetzung in Österreich Bundes­gesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europä­ischen Union (EU-JZG), in Kraft am 01.01.2004 bzw. 02.08.2005 (Zweiter Abschnitt des III. Hauptstücks); Umsetzung in Deutschland durch Europäisches Haftbefehlsgesetz v. 21.7.2004; BGBl. 2004 I, Nr. 38, S. 1748.

496 BVerfGE 113, 273 (325). 


Art. 2 Abs. 2 Rahmenbeschluß verpflichtet die Mitgliedstaaten, jeden Euro­päischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu vollstrecken. Wenn die Justizbehörde eines Mitgliedstaates um die Übergabe einer Person im Rahmen der strafrechtlichen Verfolgung dieser Person er­sucht, um ein Strafurteil vollstrecken zu können und gemäß Art. 9 ff Rah­menbeschluß einen Haftbefehl an einen Mitgliedstaat übermittelt, muß der er­suchte Mitgliedstaat die Entscheidung anerkennen und den Haftbefehl voll­ziehen (Art. 1 Abs. 2, 15 Abs. 1 Rahmenbeschluß). 

Die Auslieferungspflicht besteht unabhängig davon, ob die Tat in dem Auslieferungsstaat strafbar ist, wenn die Tat eine Strafvorschrift des Staates verletzt, der den Haftbefehl aus­gestellt hat und unter eine der in Art. 2 des Rahmenbeschlusses wenig be­stimmten Straftaten (etwa illegaler Handel mit Drogen, Korruption, Betrugs­delikte) fällt. Nur für andere Straftaten können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 4 Rahmenbeschluß die Vollstreckung ablehnen, wenn „die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaates keine Straftat darstellt; in Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten kann die Vollstre­ckung des Europäischen Haftbefehls jedoch aus diesem Grunde nicht abge­lehnt werden. Die materielle Voraussetzung der Anerkennung, die beidersei­tige Strafbarkeit (§ 81 Abs. 1 Nr. 4 IRG), wird zugunsten einer formellen An­erkennung aufgegeben497. Die Möglichkeiten, die Vollstreckung des Europäi­schen Haftbefehls abzulehnen (Art. 3, 4 Rahmenbeschluß), sind auf ganz be­stimmte Fälle (z.B. Amnestie, Vorverurteilung) begrenzt. Der Vorbehalt des ordre public ist nicht genannt, so daß nicht einmal ein Minimalbestand straf­rechtlicher, strafprozessualer und grundrechtlicher Garantien gegenseitig ge­währleistet wird.

497 Berechtigte Kritik an dem Formalismus die abweichende Stellungnahme des Richters Prof. Dr. S. Broß, BVerfGE 113, 273, Rdn. 152; a.A., wenn auch im Interesse des nationalen Grundrechteschutzes relativierend, die Senatsmehrheit BVerfGE 113, 273 (316 f.)

Das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist im wesentlichen justizieller Art. Das politische Ermessen, welches das Auslieferungsverfahren zuvor geprägt hat, entfällt498

Der Europäische Haftbefehl materialisiert den Grundsatz der Unionsbürger­schaft. Er hebt die wichtigste Funktion der Staatsbürgerschaft, die Schutz­funktion, auf, und verpflichtet zur Auslieferung auch der eigenen Staatsange­hörigen499. Art. 16 Abs. 2 GG, der die Auslieferung deutscher Staatsangehöri­ger ohne Ausnahme verboten hatte, ist in diesem Sinne geändert worden500. Nicht anders ist § 12 ARHG zu Lasten der Staatsangehörigen Österreichs ge­ändert worden.

Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in Justiz und Strafvollzug, ins­besondere der Europäische Haftbefehl zeigen, wie weit die existentielle Uni­onsstaatlichkeit bereits verwirklicht ist. Daß Art. 31 Abs. 1 lit. a und Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV geltender Fassung zum Erlaß des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehls ermächtigen, gibt der Wortlaut dieser Vor­schrift nicht her, war nicht voraussehbar und ist deswegen vom Nationalrat nicht verantwortet. Art. 31 Abs. 1 lit. a EUV geltender Fassung regelt nur die Erleichterung der Zusammenarbeit von Ministerien, Justiz- und Vollzugsbe­hörden. Eine Ermächtigung zur Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Voll­streckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung (vgl. Art. 1 Abs. 1 Rahmenbeschluß) gibt diese Vorschrift nicht. Art. 31 Abs. 1 lit. b EUV geltender Fassung nennt ausdrücklich nur die „Er­leichterung der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten“, die gerade durch den Haftbefehl obsolet gemacht werden soll (siehe 5. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses).
 

498 Dazu BVerfGE 113, 273 (297 f.)
 499 Dazu BVerfGE 113, 273 (292 ff., 295 ff.).
500 Vgl. für Deutschland Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 16), BGBl. 2000 I, S. 1633, in Kraft getreten am 2.12.2000; BGBl. 2000 II, S. 1393; dazu A. Uhle, Auslieferung und Grundgesetz – Anmerkungen zu Art. 16 Abs. 2 GG, NJW 2001, 1889 ff.

Der Rahmenbeschluß ist demnach ultra vires und verletzt das Prinzip der begrenzten Ermächtigung. Auch der Vertrag von Lissa­bon gibt keine Ermächtigung für eine Richtlinie wie den Rahmenbeschluß ü­ber den Europäischen Haftbefehl und eine entsprechende Vollstreckungsver­pflichtung der Mitgliedstaaten (Art. 1 Abs. 2 Rahmenbeschluß) her. Art. 69a (82) Abs. 1 lit. a AEUV spricht nur von der Anerkennung von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen. Art. 69a (82) Abs. 1 lit. d AEUV ermöglicht Maßnahmen, welche „die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen“ erleichtern. Diese Ermächtigung erlaubt nur die „Erleichterung“ der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Justizbehörden oder entsprechenden Behörden, je­doch nicht die Zusammenarbeit durch eine Pflicht und ein „System der Über­gabe“ (5. Erwägungsgrund) zu ersetzen, schon gar nicht die Begründung einer Auslieferungspflicht. 
Derartige Pflichten, die ein fremder Staat begründet, sind mit dem Gewaltmonopol des Staates auf seinem Territorium, seiner Ge­bietshoheit501, nicht vereinbar, ganz unabhängig von der Auslieferungsmög­lichkeit, die Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG für Deutschland (menschheitlich mehr als bedenklich502) geschaffen hat. Aber die Auslieferung muß der Staat, dessen Staatsangehöriger der betroffene Mensch ist, materiell, zumal grundrechtsge­bunden und rechtsschutzbewährt entscheiden503.
Insbesondere widerspricht der Rahmenbeschluß über den Europäischen Haftbefehl dem demokratischen Prinzip, auch in dem unabänderlichen Be­reich. Österreich konnte deshalb nach Art. 9 Abs. 2 B-VG für derartige Maß­nahmen keine Hoheitsrechte übertragen.

501 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 59 f.; ders., Die existen­tielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 79 ff.
502 A. A. BVerfGE 113, 273, Rdn. 70 (keine verfassungswidrige Verfassungsnorm).
503 I.d.S. BVerfGE 113, 273 (309 ff., zur Bewilligungsentscheidung). 


Das Demokratieprinzip fordert, daß die Gesetze eines Staates gegenüber dessen Bürgern durch demokratisch legitimierte Organe dieses Staates vollzogen werden504. Das Prinzip der demokra­tischen Republik ist mißachtet, wenn der etwa von einer spanischen Justizbe­hörde gegen einen österreichischen Staatsangehörigen ausgestellte Haftbefehl ohne materielle, zumal grundrechtliche Prüfung durch österreichische Organe vollzogen werden muß und wird. Die Prüfung der Haftungnahme durch den ausländischen Richter löst das Legitimationsproblem nicht.

(Verfassungsklage Prof. Schachschneider. S 223 ff)

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