2011-03-19

Ware Bildung

Die Bildung darf nicht zur Handelsware verkommen

Die herrschende, in der öffentlichen Diskussion «neoliberal» genannte Doktrin vom kapitalistischen «freien» Markt betrachtet die wirtschaftliche Tätigkeit als frei von ethischen Verpflichtungen und propagiert und legitimiert das unbegrenzte, eigennützige Gewinnstreben. Dieser «Neoliberalismus» zeichnet sich aus durch eine grosse Breite an Positionen, die von staatsfeindlichen bis zu weitreichenden Staatsinterventionen gehen. Er versteht es, politisch linke wie rechte Parteien vor seinen Karren zu spannen. Das zeigt sich heute deutlich beim Umgang mit der Finanzkrise. Immer aber geht es diesem Kapitalismus um eine Absicherung des Marktes und sein «optimales» Funktionieren.
Einflussreiche Stiftungen grosser Konzerne förderten den Zusammenschluss von neoliberalen Intellektuellen, aber auch Wirtschaftsleuten und Politikern, und es entstand ein weltweites Netz von Think tanks für die entsprechende Produktion und Distribution der neuen Ideen. Demokratie ist nur geduldet, wenn die Bedingungen für den Markt günstig sind, sonst treten die autoritären Züge des «Neoliberalismus» deutlich hervor. Internationale Organisationen wie WTO, IWF, Weltbank, OECD stehen im Hintergrund. Verträge wie GATS (General Agreement on Trade in Services) verpflichten die Unterzeichnerstaaten, Dienstleistungen der öffentlichen Hand für die Privatwirtschaft zu öffnen.
Der neoliberale Um- und Ausbau des Staates und seiner Wirtschaft führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Staat, was vor allem im Gesundheitswesen, in der Landwirtschaft, aber auch im Bildungswesen zu einer ausufernden Bürokratie führt. Privatisierungen werden vorangetrieben oder staatliche Institutionen dazu gezwungen, in Konkurrenz zu neuen Anbietern den Profit zu mehren. Um Konkurrenznachteile auszuschalten, werden gemeinwohlorientierte Vorgaben gestrichen. Diesen Abbau unzähliger Errungenschaften für das Gemeinwohl spüren schon heute vor allem Bevölkerungsteile, die über wenig Kaufkraft oder Bildung verfügen. Ausbildung kostet heute mehr, und Kinder aus bildungsfernen Familien erfahren durch den individualisierenden Unterricht zuwenig Förderung. Arbeitsblättchen und Computer führen nicht zu mehr Lernmotivation und Lernerfolg, dazu braucht es den Lehrer.
Abbau von Service public ist nur die eine negative Seite der Medaille. Die andere ist, dass durch die Auslagerung von Staatsaufgaben oder Umbau von Staatsbetrieben ein neues Staatsmodell entsteht, welches grundsätzlich auf der Zerstörung öffentlicher und parlamentarischer Mitwirkung und Kontrolle beruht. Weltweit gehört in der Tat zu den auffälligsten Zügen der jetzigen Entwicklung die enorme Konzentration von Macht und Ressourcen in den Händen transnationaler Unternehmen.
Das Bildungswesen in der Schweiz ist wie die Bildungswesen anderer Länder von diesen neoliberalen Veränderungen nicht verschont geblieben. Allerdings ist die Schweiz für die Schulreformer mit ihrem Föderalismus und der Gemeindeautonomie im Vergleich zu anderen Ländern eine regelrechte Knacknuss. Mit HarmoS wird diese Nuss vollends aufgebrochen. In Italien wurden doch bereits 1987 die Sonderklassen aufgelöst und integriert. Mit einer neuen Reform wird jetzt nach den Lehrerteams der neunziger Jahre der alleinige Klassenlehrer wieder eingeführt. Es soll wieder eine «Schule der Ernsthaftigkeit, des Verdienstes und der Erziehung» nach Italien zurückkehren.
Auch in der Schweiz werden mit pseudopädagogischen Argumenten viele Veränderungen durchgepaukt. Eine offene und ehrliche Diskussion darüber wurde in der Öffentlichkeit nie geführt. Immer wurden die Reformen in den Medien als Verbesserung und Segen für die Schule präsentiert und als Anpassung an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen gepriesen. Das ist das einzig Wahre, denn seit dem Scheitern des Kommunismus hat der Neoliberalismus seine soziale Maske abgelegt. Die Löhne sinken. Bald werden beide Elternteile arbeiten müssen und sind froh, wenn sie ihre Kinder schon mit 4 Jahren dem Staat übergeben können.
Der Service public der Schule wird mit Sparmassnahmen heruntergefahren: Klassen werden vergrössert, Sonderschulung wird aufgehoben, für die Volksgesundheit so wichtige Fächer wie Hauswirtschaft und Handarbeit werden gestrichen. In den Schulhäusern wird, wie in der Wirtschaft, eine Hierarchie aufgebaut mit Schulleitungen (kosten allein in der Stadt Zürich jährlich 50 Millionen Franken). Im nächsten Reformschritt wird der Klassenverband ganz aufgelöst, auch auf der Oberstufe. In diesen Mehrklassenschulen werden die Lehrer gezwungen sein, den schon lange propagierten individualisierenden Unterricht ganz einzuführen.
Von einer umfassenden oder ganzheitlichen Bildung und sozialen Kompetenzen kann dann nicht mehr die Rede sein, im Gegenteil. Jeder Schüler sitzt vom Wochenplan geführt vor seinen standardisierten Blättchen oder bearbeitet am Computer sein Programm. Die Elektronik- und Bildungskonzerne haben sich schon heute einen riesigen Markt erschlossen. Computer sind schnell veraltet und teuer im Unterhalt. Lern-Software wird sogar für den Kindergarten bereitgestellt. Neue Produkte für den zukünftigen Markt sind bereits in Entwicklung. Ganze Bibliotheken sollen in E-books umgegossen werden. Die neuen Lesegeräte machen das E-book für den Massenmarkt tauglich und waren Gesprächsthema Nummer eins an der Frankfurter Buchmesse. Aber auch die Spiel­industrie, bereits heute mit Milliardenumsätzen, steht am Start mit den Videospielen «game-based learning»!
O du schöne neue Welt! Wie wir heute sehen, sind die Macher in der «neoliberalen Wirtschaft» nicht bereit, ihre Gewinne mit dem Volk zu teilen und haben auch kein Unrechtsbewusstsein. Nein, ganz im Gegenteil muss auch die Schule für diese Wirtschaft umgebaut werden. Die Bildungsinhalte werden dann von den Konzernen festgelegt und gesteuert und der demokratischen Mitsprache entzogen. HarmoS ist nun ein wichtiger Schritt, die Schulreformen schweizweit ohne die lästige Demokratie zentralistisch durchzusetzen.

Bei den heute verschlungenen Wegen von Machtausübung könnte Machiavelli, käme er wieder, noch einiges dazulernen! 

 Von N.N: Autor, noch im Schuldienst, kann seinen Namen nicht nennen, da ihm von den Vorgesetzten eine eigene Meinung verboten wurde.


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