2011-07-19

Wem dient Karlsruhe wirklich


Wirtschaftsrechtler Markus Kerber erhebt schwere Vorwürfe gegen das Verfassungsgericht.
Setzt sich das höchste deutsche Gericht dem Verdacht aus, den Erwartungen der Regierung zu entsprechen?
Anlass der Kritik sind die Klagen gegen Milliardenhilfen für Euro-Staaten.
Über die Schuldenkrise der Euro-Staaten ist längst auch die parlamentarische Demokratie ins Gerede gekommen. Unter anderem deshalb, weil Bundesregierung, Bundestag und der Bundespräsident die Milliardenhilfen für Griechenland im Frühjahr 2010 in nicht einmal vier Wochen auf den Weg brachten. Für die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes um fünf Euro rangen Union und SPD immerhin ganze fünf Monate miteinander, zuweilen bis in die tiefe Nacht hinein. Viele Bürger haben das nicht vergessen. Nun gerät über die EU-Schuldenkrise aber auch noch das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Demokratie in die Kritik. Es geht um die Frage, ob das höchste deutsche Gericht seiner Rolle als Verfassungshüter noch gerecht wird oder nicht. Anlass dieser Kritik ist eine jener 15 vom Verfassungsgericht angenommenen Klagen gegen den Euro-Stabilisierungsmechanismus und die Griechenland-Hilfe. Die vom Berliner Wirtschaftsjuristen Markus C. Kerber geführte 55 Mitglieder starke Klägergruppe "Europolis", der etwa das Bayerische Münzkontor und Firmen wie der Kanuhersteller Prijon oder das Chemie-Unternehmen Worlée angehören, sieht jedenfalls den Verfassungsstaat in Gefahr.
"Das Verfassungsgericht setzt sich dem Verdacht aus, den politischen und zeitlichen Erwartungen der Bundesregierung zu entsprechen", sagt Kerber. Kurz, es strebe ein politisches Urteil im Sinne der Regierung an. Zugleich deutet er eine "organisierte Verzögerung" des Verfahrens durch das Verfassungsgericht an. "Es besteht ein enormer Gegensatz zwischen der Eiligkeit der Entscheidung und der Langsamkeit des Gerichts", sagt er. Oder anders ausgedrückt, das Gericht entscheide zu einem Zeitpunkt, an dem der Steuerzahler bereits durch kaum noch umkehrbare politische Beschlüsse seines Geldes und seines Selbstbestimmungsrechtes beraubt worden sei.
Nach Ansicht der Kläger widersprechen die Milliardenhilfen für in Not geratene EU-Länder den europäischen Verträgen und höhlen das Budgetrecht der nationalen Parlamente aus. Am 5. Juli hatte das Verfassungsgericht über die schon seit einem Jahr anhängigen Klagen verhandelt.
Er könne nicht nachvollziehen, warum das Gericht einerseits ein Jahr mit der mündlichen Verhandlung der Klagen gewartet habe, anderseits pünktlich bis September ein Urteil fassen wolle, sagt Kerber. "Daraus entnehme ich, dass der Beschluss im Sinne der Regierung pünktlich zu dem Zeitpunkt kommen soll, an dem Bundestag und Bundesrat den neuen Stabilisierungsmechanismus ESM ratifizieren und Deutschland damit ein für alle Mal an die Kette legen wollen."
Die Vorwürfe wiegen schwer. Kerber will sie als "Appell an die Verantwortung für das Schicksal der Demokratie" verstanden wissen. Schon das überstürzte Gesetzgebungsverfahren zur Griechenland-Hilfe erschien ihm ungeheuerlich, sah er doch eilig "68 Prozent der Steuereinnahmen des Bundes für die Zahlungsfähigkeit anderer Länder verpfändet". Allein wegen dieses Vorgehens hätten die Deutschen Grund genug, mit der Demokratie zu hadern, meint er. Auf das Verfassungsgericht sollten sie sich verlassen können.
Nachhaltige Zweifel daran kamen ihm im Frühjahr dieses Jahres, nachdem er im April den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die zu diesem Zeitpunkt von der Bundesregierung beabsichtigte Milliardenhilfe für Portugal beantragt hatte. Das Land war ebenfalls zum Objekt der Spekulanten auf den Finanzmärkten geworden. Europa steuerte erneut auf eine Situation zu, die es mit den Milliardenhilfen für die Griechen ein Jahr zuvor eigentlich hatte bereinigen wollen. Kerber begründete seinen Antrag beim Verfassungsgericht daher mit "der Abwehr irreversibler Nachteile für Deutschland: Ohne den Erlass würde Deutschland seiner finanziellen Souveränität beraubt". Und weiter: "Möchte das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung in der Hauptsache offen halten, dann führt am Erlass einer einstweiligen Anordnung kein Weg vorbei."
Doch das Gericht sah in der Sache offenbar keine Eilbedürftigkeit. In der Zwischenzeit nahm die finanzpolitische Entwicklung ihren Lauf. So stimmte die Bundesregierung am 16. Mai 2011 einem Hilfsprogramm für Portugal über 78 Milliarden Euro zu. Damit war Portugal nach Griechenland und Irland bereits das dritte Euro-Land, das internationale Hilfskredite bekam.
Verwundert über das Verhalten des Verfassungsgerichts, wandte sich Kerber, nachdem eine Sachstandsanfrage ohne Antwort geblieben war, am 23. Mai schriftlich an den Gerichtspräsidenten, Andreas Voßkuhle. "Die Zustimmung der Bundesregierung wurde am 16. Mai 2011 erteilt, ohne dass wir zuvor einen Beschluss des Zweiten Senats erhalten haben", schrieb Kerber. "Namens und im Auftrag der Beschwerdeführer ... bekunde ich mein Befremden über die bisherige Unterlassung des Zweiten Senats und rege an, unverzüglich im einstweiligen Verfahren zu beschließen."
Seine Anregung wurde indes nicht aufgenommen. Anstelle von Voßkuhle kündigte Verfassungsrichter Udo Di Fabio am 14. Juni an, also gut einen Monat nach dem politischen Beschluss zu Portugal: "Mit einer Entscheidung auf Ihren Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung vom 8. April 2011 ist in Kürze zu rechnen." Außerdem ließ er Kerber wissen, dass seine Klage gegen die Griechenland-Hilfe nicht in der Hauptsache verhandelt würde: "Wie in solchen Fällen üblich, entscheidet der zuständige Senat, welche Verfahren vorrangig in der Sache beraten und gegebenenfalls mündlich verhandelt werden."
Das wollte Kerber nicht akzeptieren und schrieb zurück, Di Fabios Ausführungen stünden "im Widerspruch zu den schriftlich dokumentierten Aussagen Ihres Mitarbeiters, Dr. Schneider". Daher empfinde er Di Fabios Entscheidung "als willkürlich". Zu guter Letzt beschied er die von Di Fabio angekündigte Entscheidung zur Portugal-Hilfe mit einem Epigramm von Erich Kästner: "Was auch geschieht - nie sollt ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken."
Von den angenommenen 15 Klagen verhandelte der Zweite Senat unter Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am 5. Juli nur die Beschwerden des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler sowie einiger Wirtschafts- und Juraprofessoren um den Ökonomen Joachim Starbatty und den Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider. Kerber erwägt nun, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen.

(Quelle: Welt.de

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