Im ersten Teil unserer Darstellung zu Jean Monnet (Zeit-Fragen Nr. 38 vom 27.9.2010 unter dem Titel «Moloch EU und Strippenzieher Jean Monnet»)1 haben wir gezeigt, wie Monnet, einer der sogenannten «Gründerväter Europas», sich als internationaler Kognakhändler und Bankier in den Jahren vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg im angloamerikanischen Finanz- und Politikmilieu vernetzte. Im folgenden Teil werden wir Monnets diverse Aktivitäten bis 1945 beschreiben. Durch diese Aktivitäten zieht sich wie ein roter Faden das Bemühen, die Souveränität der europäischen Nationalstaaten anzutasten und aufzubrechen, mit dem Ziel der Herstellung eines grossräumigen Marktes, sprich Absatzmarktes im Interesse der US-amerikanischen Wirtschaft. In diesem Zusammenhang muss man auch seine Aktivitäten im Kontext der französischen Politik sehen. Im folgenden wird viel von Frankreich die Rede sein, dem ganz eindeutig – und das wird im dritten Teil unserer Untersuchung u. a. Thema sein – eine ganz bestimmte Rolle bei der Gründung der «Vereinigten Staaten Europas von Amerikas Gnaden» zugedacht war.
sh/rmh/an. Eine wohl sehr treffende Beschreibung Monnets und der Art, wie er sich bewegte, gibt die Journalistin und erste Alterspräsidentin des Europäischen Parlaments Louise Weiss (1893–1983), die Monnet recht gut kannte, in ihren Mémoires d’une Européenne: «Geniales Leuchten in den dunkelbraunen Augen des kleinen Jean Monnet, wenn er geheimnisvoll, lebendig und charmant seine Einflussnetze knüpfte, die dem Völkerbund von Anfang an eine beträchtliche Macht sicherten. Seine Verhandlungen während des Kriegs hatten ihm alle Türen geöffnet und auch die Tresore der Finanzbastionen der City, der Wall Street, ja sogar der chinesischen Häfen. Die Eigentümer der Zeitungen kannten ihn, aber er schlich und glitt wie eine Natter zwischen den Federn ihrer Redakteure einher. Öffentlichen Verhandlungen, die ihn gefangengenommen hätten, zog er die freien Suggestionen seiner speziellen Vorstellungen vor. Er hatte so seine Art. Er war ein Eingeweihter. Diese Art faszinierte bald die ganze Welt.»2
Internationale Hochfinanz
Sehr früh also war Monnet ein einflussreicher Mann geworden, der eine erstaunlich breite Klaviatur besass, insbesondere für die damalige Zeit. Er ging bei den wichtigsten politischen Führern der Londoner und New Yorker Finanzelite und den hohen Beamten des amerikanischen Aussenministeriums ein und aus. 1923 hatte er den Völkerbund verlassen. Seit er 1926 Vizepräsident der neu eröffneten Europa-Abteilung der sehr mächtigen amerikanischen Investment Bank Blair & Co. geworden war, nahm er auch an Finanzoperationen von sehr hohem Niveau teil. Er organisierte die Vergabe von amerikanischen Krediten zur Stabilisierung des Franc im Jahr 1926, der des Zloty, der polnischen Währung, und im Jahr 1928 der des Leu, der rumänischen Währung. Kurz darauf übte er seine Tätigkeit als Finanzberater in China an der Seite von Chiang Kai-chek aus, organisierte Anleihen für die chinesische Regierung und gründete auf Vermittlung von John Forster Dulles, dem späteren US-Aussenminister, die Bank Monnet, Murnane & Co., um den Geldfluss nach China zu sichern. Diese Bank wird später auch einträgliche Geschäfte mit Hitler-Deutschland abschliessen.
Monnet fungierte als ausserordentlich geschickter und erfolgreicher Verbindungsmann zwischen den Interessen der US-amerikanischen Finanz-, Geschäfts- und Politikwelt einerseits und den entsprechenden Kreisen der restlichen Welt, insbesondere Europas.
Geschäfte und Souveränitäten
So war es nicht überraschend, dass der damalige französische Premierminister Daladier (1884–1970) ihn 1938, als England noch seine Appeasement-Politik betrieb3, beauftragte, in grösster Diskretion für die französische Armee Flugzeuge in Amerika zu besorgen, um die desolate Situation der französischen Luftwaffe zu verbessern. Bei der Ausführung dieses Auftrages lernte er durch Vermittlung von US-Botschafter W. Bullitt4 den amerikanischen Präsidenten (1933–1945) Roosevelt kennen. Die Schwierigkeiten bei diesem Projekt bestanden darin, dass Frankreich einerseits Probleme bei der Bezahlung hatte, der amerikanische Finanzminister (1934–1945) Henry Morgenthau aber die Finanzierung gesichert sehen wollte. Ausserdem mussten Wege gefunden werden, das Neutralitätsgesetz5 zu umgehen oder ausser Kraft zu setzen. Nachdem dieses im November 1939 gelockert worden war, kamen der britische Regierungsberater in Industrieangelegenheiten und Kabinettchef Chamberlains, Horace Wilson, der schon eine Schlüsselrolle in Chamberlains Appeasement-Politik gespielt hatte, und Monnet überein, die französischen und britischen Waffenkäufe zu vereinen.
Monnet, der sich schon während des Ersten Weltkriegs in London mit Waffenkäufen beschäftigt hatte, fand nun die gleichen Bedingungen vor, wie er sie schon damals gekannt hatte und übernahm auch die gleichen Funktionen.
Er hatte sehr schnell verstanden, dass die Amerikaner seit dem Ersten Weltkrieg eine grössere Rolle in der Welt spielten und sich darauf eingestellt.
Fusionierung der Souveränitäten
Die Idee einer engen britisch-französischen Union kam aus dem Chatham House6, das von 1925 bis 1956 von dem Geschichtsphilosophen Arnold Toynbee7 geleitet wurde. Seit 1938 hatte man in Verbindung mit dem «Zentrum für aussenpolitische Studien8 in Paris die Idee einer Annäherung der beiden Staaten in vielen kleinen Zirkeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert. Aber als Toynbee 1940 nach Paris fuhr, bekam das Projekt Publizität und Aktualität. Es wurde sozusagen lanciert: Bei seiner Rückkehr liess Toynbee in London ein Memorandum verfassen, den Acte d‘association perpétuelle, Gründungsakt einer dauerhaften Vereinigung Frankreichs und Englands. Dieser Plan diente auf der einen Seite dazu, Frankreich durch militärische, wirtschaftliche und politische Kooperation mit England gegen einen Angriff Hitler-Deutschlands zu stützen. Auf der anderen Seite war damit die Absicht verbunden, eine Fusion der Souveränitäten beider Länder herbeizuführen. Monnet schlug in Zusammenarbeit mit seinem Freund Vansittart9 dieses Projekt einer totalen Fusion der Souveränitäten vor. Die Idee war nicht ganz neu. Monnets Freund Bullitt hatte schon 1936 von «these dingy little states» in Europa gesprochen, die es eigentlich nicht wert seien als Staaten bezeichnet zu werden.10
Das Projekt war jetzt also lanciert. In England redeten insbesondere die Minister davon. In Frankreich führten es eher Intellektuelle und Pressekreise in die Diskussion ein. Bei seiner Realisierung spielte Jean Monnet eine Schlüsselrolle. 1939 begab er sich nach London und sandte parallel an den englischen Premierminister Churchill (1940 bis 1945 und 1951 bis 1955) und an den französischen Ministerpräsidenten Reynaud (Mai 1940 bis Juni 1940) eine Note, in der er seiner Befürchtung Ausdruck verlieh, dass Hitler England und Frankreich auseinanderdividieren könnte. Deswegen müssten die Verbindungen unauflöslich gemacht werden: Die Kräfte der beiden Staaten müssten wie eine einzige Kraft eingesetzt werden. Um seiner Argumentation noch weiteres Gewicht zu geben, fügte er – ein für ihn typisches Vorgehen – hinzu: Die fast unbegrenzte Produktionskraft der Amerikaner würde sich ihnen nur dann zur Verfügung stellen, wenn sie selbst eindeutig die Bereitschaft bekundeten, gemeinsam zu kämpfen. Ansonsten könne man die Hilfe der Amerikaner vergessen. Damit wurde Monnet im September 1939 ein «alliierter Funktionär» der britischen und französischen Regierung, der über den nationalen Interessen stand.11
Auf der falschen Seite?
Als Frankreich dann in der «drôle de guerre», dem «seltsamen Krieg», vom 10.5. bis 22.6.1940 Hitler-Deutschland unterlag, stellte sich für die französischen Eliten die Frage der Kapitulation und des Waffenstillstands oder des Weiterkämpfens von den französischen Kolonien aus. Durch eine gezielte Propaganda wurden die Namen von General Weygand und Marschall Pétain, beide Sympathisanten Hitler-Deutschlands und fanatische Antikommunisten, als Retter Frankreichs verbreitet. Der aus dem Ersten Weltkrieg in gewissen Kreisen mit grossem Ansehen verbundene Name des Marschall Pétain, dem sogenannten «Sieger von Verdun», verleitete viele Politiker dazu, ihm in den Waffenstillstand zu folgen. Pétain unterschrieb diesen als letzter Ministerpräsident der Dritten Republik, um danach Staatschef des neu geschaffenen Etat Français zu werden, der mit Hilfe eines Ermächtigungsgesetzes («les pleins pouvoirs») die Republik abschaffte und ein mit Hitler kollaborierendes autoritäres Regime, das nach dem Regierungssitz benannte Vichy-Régime installierte. Charles de Gaulle, der in jungen Jahren als Berufssoldat auch ein Bewunderer Pétains gewesen war, vollzog diesen Schritt nicht mit. Er verurteilte den Waffenstillstand mit Nazi-Deutschland und begab sich mit einigen Mitstreitern nach London. Von dort aus forderte er mit der Erlaubnis Churchills am 18. Juni in seinem berühmten Appel du 18 Juin über die BBC das französische Volk auf, den Waffenstillstand nicht zu akzeptieren und den Kampf an der Seite Englands und Amerikas weiterzuführen. Nur einige wenige waren bei ihm, mit denen er dann eine Widerstandsorganisation, das Comité National Français (CFN) aufbaute.
Hier in London begegneten sich Jean Monnet und de Gaulle.
Wie ist es nun zu erklären, dass Monnet, der offiziell ein erklärter Gegner Vichy-Frankreichs war, de Gaulle keineswegs unterstützte, als dieser 1940 in London begann, den Widerstand gegen die deutsche Besatzung Frankreichs zu organisieren?
Monnet fuhr in die USA, um dort im Auftrag Churchills Waffen für England zu kaufen. Er blieb dort und wurde in den harten Kern des Beziehungsnetzes im engsten Kreis um Präsident Roosevelt integriert. (Dean Acheson, Staatssekretär im Aussenministerium; Felix Frankfurter, Richter am obersten amerikanischen Gerichtshof; Francis Biddle, Justizminister; Phil Graham, Medienzar)12 Während dieser Zeit verkehrte er auch in Exilkreisen, die gegen de Gaulle bei der amerikanischen Regierung intrigierten. Monnets diverse Argumente, de Gaulle sei ein Diktator, faschistisch, psychotisch, sei Hitler ähnlich, habe keine Legitimation, die Franzosen zu vertreten usw. wurden beliebig benutzt, um ihn zu desavouieren und als Kopf einer Nachkriegsregierung unmöglich zu machen.13
De Gaulles Position passte ihnen nicht, weil er mit all ihm zur Verfügung stehender Kraft die Souveränität Frankreichs wiederherstellen wollte. Über die Landung der US-amerikanischen Flotte in Algerien14 wurde de Gaulle in London weder informiert, geschweige denn darin einbezogen.
Die amerikanische Regierung glaubte, in General Giraud15 einen passenden Mann gefunden zu haben, den sie für ihre Zwecke benutzen konnte. Er wurde im Dezember 1942 zum Hochkommissar für Französisch Nord- und Westafrika gemacht. Es musste ihm nur noch schnell ein demokratisches Mäntelchen umgehängt werden, damit er für die Weltöffentlichkeit präsentabel wurde. Diese Aufgabe übernahm Monnet in seiner Funktion als Sondergesandter des amerikanischen Präsidenten Roosevelt. Einen französischen Auftrag hatte er nicht.16 Die Tatsache, dass Giraud in Algerien die rassistischen bzw. faschistischen, an Hitler-Deutschland angelehnten Vichy-Gesetze gegen Juden und Résistance-Kämpfer anwandte, wurde in diesem Zusammenhang von den Machthabern als quantité négligeable angesehen. Eine Tatsache, die um so schwerer wiegt, als ohne die aktive Unterstützung von etwa 400 Widerstands-Kämpfern die Landung der alliierten Streitkräfte im November 1942 wesentlich schwieriger gewesen wäre, da die Vichy-Verwaltung erheblichen Widerstand leistete.
Diese Tatsachen zeigen deutlich, dass de Gaulle nicht der «Mann Amerikas» war und die Vorwürfe ihm gegenüber als Propagandalügen angesehen werden müssen.
Aktiv im Dienste Roosevelts
In Algier befolgte Monnet als direkter Sondergesandter Roosevelts dessen Aufträge. Dabei halfen ihm grosse Summen amerikanischer Gelder, ermöglicht durch den Lend-Lease-Act.17 Insgesamt erhielt Frankreich auf diesem Wege während des Krieges 4 Milliarden Dollar. Monnet organisierte damit u.a. die Versorgung der «Forces françaises libres». Dabei arbeitete er eng mit dem jungen Finanzberater Christian Valensi zusammen, der wie Monnet über ein bedeutendes Beziehungsnetz auf beiden Seiten des Atlantiks verfügte und auch nach Kriegsende massgeblich beteiligt war an der Beschaffung amerikanischer Kredite zusätzlich zu Geldern aus dem Marshall-Plan.18 Gleichzeitig boykottierte Monnet das nationale Befreiungskomitee in London unter Führung de Gaulles, der von der Gesamtheit der französischen Résistance anerkannt und mit deren Leitung beauftragt worden war. Als jedoch immer deutlicher wurde, dass es an de Gaulle kein Vorbeikommen gab, bezog man ihn mit ein, in der Hoffnung, ihn in einem grossen Komitee «ertränken» zu können, d. h. kaltzustellen.19
Hier in Algier wurden die konkreten Pläne für den Wiederaufbau Frankreichs und Europas nach dem Krieg entworfen und die zukünftigen «Regierungsmannschaften» aufgestellt. Monnet wirkte dabei entscheidend mit. Er selbst war im provisorischen Kabinett oder «grossen Komitee» als Minister für Waffenbeschaffung, Versorgung und Wiederaufbau vorgesehen. Er brachte seine in den USA entwickelten Vorstellungen vom wirtschaftlichen Aufbau Frankreichs und Europas ein und traf bei all den Männern, mit denen er seit den Zeiten im Völkerbund Kontakte geknüpft hatte, auf offene Ohren. Gleichzeitig versuchten Eisenhower und Roosevelt über General Giraud direkt Einfluss auf die Politik des Komitees zu nehmen, indem sie die Einstellung der amerikanischen Waffenlieferungen in Aussicht stellten für den Fall, dass Giraud seine Stellung in dem Komitee, die durchaus umstritten war bei den Franzosen, nicht behalten würde.
Monnet hatte in seinen «amerikanischen Jahren» auf Grund seiner engen Beziehungen zur dortigen Machtelite deren Vorstellungen vom Nachkriegseuropa aufgenommen. So war er eng mit dem späteren Aussenminister John Foster Dulles befreundet, der 1941 in einem Artikel vorschlug, Europa nach dem Krieg zentralistisch zu reorganisieren, und behauptete, es sei verrückt, den einzelnen europäischen Staaten wieder die volle Souveränität zuzugestehen.20 Das amerikanische Magazin «Fortune» und der Journalist John Davenport, zu denen Monnet sehr enge Beziehungen unterhielt, war das Sprachrohr der Hochfinanz und der amerikanischen Kartelle. 1943 wurde dort die Gründung einer europäischen Transportgemeinschaft vorgeschlagen, die über den Staaten stehen sollte, sowie eine europäische Währungsunion, die von einer europäischen Bank dirigiert werden sollte. Europa sollte sich eng an Amerika und England anlehnen. Monnet nahm die amerikanische Botschaft auf: Schnell handeln, um Westeuropa zu einen und einen grossen Markt schaffen mit oder ohne gemeinsame Behörde, schliesslich Frankreich dazu anstiften, eine europäische Föderation zu schaffen, um Deutschland einzubinden. 1943 entwirft er eine Denkschrift für das CFLN21, in der er die Gründung einer Wirtschaftsgemeinschaft vorschlägt, die von einer französischen Initiative ausgehen soll, «um eine demokratische Ordnung in Europa zu schaffen. Europa kann zu einem Staat werden, der Frieden und Glück bringt», indem er sich über die nationalen Souveränitäten erhebt.22 Die Rolle Frankreichs ist damit festgelegt: Speerspitze der europäischen Einigung mit Monnet als treibender Kraft ohne jede parlamentarische Legitimation.
Diese in den USA entwickelten Vorstellungen und Pläne für das Nachkriegs-Europa geben eine erste Antwort auf die Frage, warum die USA de Gaulle ausbooten wollten. Seine Psychiatrisierung und Abstemplung als Faschist waren Mittel zu dem Zweck, den Kopf der Bewegung, die für die Souveränität Frankreichs eintrat, auszuschalten. Wenn man de Gaulle selbst liest und die Untersuchungen zu den Hintergründen der amerikanischen Aussenpolitik des 20. Jahrhunderts, wie wir sie in unserem ersten Artikel angedeutet haben, einbezieht, so kommt man der Wahrheit ein weiteres Stück näher.23
De Gaulle und Roosevelt – Pläne für die Welt nach dem Krieg
De Gaulle beschreibt in seinen Memoiren seine Unterhaltung mit Roosevelt im Juli 1944 in Washington. Im Laufe dieser Unterhaltung legte Roosevelt seine Strategieüberlegungen für die «Welt» nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Roosevelts Vision erschien de Gaulle mehr als beunruhigend für Europa und insbesondere Frankreich. De Gaulle führt wörtlich aus: «[Roosevelt] gedenkt nun ein internationales System zu schaffen, das auf ständige Intervention hinausläuft. Er denkt an ein Viererdirektorium: Amerika, Sowjetrussland, China und Grossbritannien sollen die Weltprobleme regeln. Ein Parlament der Vereinten Nationen soll der Macht dieser ‹vier Grossen› einen demokratischen Anstrich geben. Aber wenn man [das heisst die USA] die Welt nicht auf Gnade und Ungnade den drei anderen ausliefern will, muss solch eine Organisation, meint Roosevelt, die Anlage amerikanischer Stützpunkte in allen Teilen der Erde und zum Teil auch auf französischem Gebiet einschliessen. Roosevelt glaubt, auf diese Weise die Sowjets in eine Gemeinschaft hineinbringen zu können, die ihre Ambitionen in Schach halten wird und in der Amerika seine Klientel um sich scharen kann. Von den «vier Grossen» ist, wie er weiss, das China Chiang Kai-cheks von seiner Hilfe abhängig, während die Engländer, sofern sie nicht ihre Dominien verlieren wollen, sich seiner Politik beugen müssen. In bezug auf die mittleren und kleineren Länder wird er in der Lage sein, auf sie dank amerikanischer Hilfeleistungen einzuwirken. Schliesslich werden das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die amerikanische Auslandshilfe, das Vorhandensein amerikanischer Stützpunkte in Afrika, Asien und Australien dem Entstehen neuer souveräner Staaten förderlich, die die Zahl derer vermehren werden, die den Vereinigten Staaten verpflichtet sind. In solcher Perspektive können die eigentlichen Probleme Europas … nur von nebensächlicher Bedeutung sein».24
De Gaulle erkannte in dieser Konzeption einen ausgesprochenen «Willen zur Macht» und den Willen, Europa zu dominieren. Er wies darauf hin, dass dieser Plan den Westen in Gefahr bringen würde. «Werde man nicht, wenn man Westeuropa als zweitrangig behandele, gerade der Sache schaden, der man zu dienen glaubt: der Sache der Zivilisation?» […] «Der Westen ist es, sage ich zu Präsident Roosevelt, den man wieder aufbauen muss. Wenn das geschehen ist, wird ihn sich die übrige Welt wohl oder übel zum Vorbild nehmen. Wenn es nicht geschieht, wird es der Barbarei gelingen, alles hinwegzufegen. Westeuropa ist trotz seiner Zerrissenheit für den Westen von wesentlicher Bedeutung. Nichts kann den Wert, die Kraft, die Ausstrahlung der alten Völker ersetzen.»25
Roosevelt sprach dann von seiner grossen Enttäuschung über das französische Volk, das sich einfach so von den Nazis hatte überrennen lassen. De Gaulle, der sehr höflich war, entgegnete ihm nichts. Aber er dachte: Wenn Amerika Frankreich sowohl nach dem Ersten Weltkrieg geholfen hätte, wie auch zu Beginn des Zweiten, oder wenn man ihn, General de Gaulle, unterstützt hätte anstelle des Vichy-Regimes, dann wäre es vielleicht anders gekommen. Es wird damit deutlich, dass de Gaulle die angebliche Enttäuschung Roosevelts als unehrlich empfand. Er verliess Roosevelt mit der Überzeugung, dass in den Beziehungen der Staaten untereinander die Logik und das Gefühl nicht schwer wögen im Vergleich zu den Realitäten der Macht. Allein was man sich nehme und was man zu halten wisse habe Bedeutung. Frankreich könne nur auf sich selber zählen, wenn es wieder seinen Platz unter den Nationen erlangen wolle.26 •
Quelle: Zeit-Fragen Nr.25 vom 20.6.2011
hs
1 Siehe «Moloch EU und Strippenzieher Jean Monnet», in Zeit-Fragen Nr. 38 vom 27.9.2010. Genauso wie in unserem ersten Teil stützen wir uns auch in diesem Teil auf die Biographie von Eric Roussel Jean Monnet 1888–1979, Fayard 1996, ISBN 978-2-213-03153-8. Wir stützen uns zusätzlich auf ein weiteres Werk von Eric Roussel Le naufrage. Paris, Editions Gallimard, 2009
2 Louise Weiss, Mémoires d’une Européenne. (Erinnerungen einer Europäerin). Paris, Albin Michel, 1971, p. 141 Zitiert nach: Eric Roussel, Le naufrage. Paris, Editions Gallimard, 2009. Übersetzung des Verfassers.
3 Mit Appeasement-Politik ist die Beschwichtigungspolitik gemeint, die in erster Linie von Grossbritannien in den Jahren 1935–1939 verfolgte Politik der Zugeständnisse, der freundlichen Zurückhaltung und des aktiven Entgegenkommens gegenüber Hitlers Machtinteressen. Verantwortlich für diese britische Politik zeichnete Premierminister (1937–1940) Neville Chamberlain.
Seine Haltung, der sich Daladier und Mussolini anschlossen, ermöglichte Hitler in den Jahren 1935– 39 die Einverleibung von Saarland, Rheinland, Österreich, Sudetenland (Münchner Konferenz von 1938) und der restlichen Tschechoslowakei.
4 William C. Bullitt (1891–1967) arbeitete 1919 in der Verhandlungsdelegation des amerikanischen Präsidenten Wilson bei der Pariser Friedenskonferenz und galt als Unterstützer des Internationalismus, der dem Isolationismus in den USA gegenüberstand. 1933 arbeitete Bullitt im Wahlkomitee von F. D. Roosevelt und schrieb dessen aussenpolitische Reden. Bullitt lernte Monnet 1934 in Moskau kennen, als er dort Botschafter war. Von 1936 bis 1940 war er Botschafter in Frankreich.
5 Die verschiedenen Neutralitätsgesetze schrieben ein Verbot von Waffenexporten und finanzieller Unterstützung für kriegführende Staaten vor. Aber durch die Ergänzung der «Cash-and-Carry»-Klausel erlaubte man den Kriegführenden, amerikanische Waren gegen Barzahlung zu erwerben und sie mit eigenen Schiffen abzutransportieren. Dank dieser erfindungsreichen Klausel war der gewinnbringende Absatz von kriegsnützlichem Material wie Erdöl, Baumwolle, Kupfer, Stahl, Lastwagen etc. auch weiterhin gewährleistet. Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917. München 1966, S. 208. In: Walther Hofer, Herbert R. Reginbogin, Hitler, der Westen und die Schweiz 1936–1945. Zürich 2001.
6 Chatham House, bis 2004 auch Royal Institute of International Affairs genannt, ging 1920 aus dem bereits 1911 gegründeten Round Table hervor, der von Lord Milner in der Tradition des britischen Imperialisten Cecil Rhodes ins Leben gerufen wurde, um eine neue, liberale Form des Imperialismus zu propagieren. Sitz dieser mächtigen Denkfabrik ist das Gebäude eines früheren Earl of Chatham in London. Parallel dazu wurde das Council of Foreign Relations (CFR) in New York gegründet. Seine Gründer, von Kritikern als Assoziation von Bankern angesehen, verfolgten von Anfang an das Ziel, dem Isolationismus entgegenzutreten. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit des CFR in den letzten 100 Jahren ist es, den Isolationismus bis auf eine Randerscheinung zurückgedrängt zu haben. Der CFR garantiert die Kontinuität einer internationalistischen und interventionistischen Aussenpolitik. Über verschiedene aussenpolitische Netzwerke nimmt der CFR Einfluss auf die aussenpolitischen Eliten der wichtigen westlich orientierten Länder. In Deutschland sind das die «Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik» (DGAP) und «Atlantikbrücke». In Frankreich ist es das Institut français des relations internationales (IFRI). (Zu dessen Gründung siehe Fussnote 8.) In den Think tanks wurden und werden Wissenschaftler, Journalisten, Rechtsanwälte und Verleger kooptiert.
Zur Milner Group sei Carroll Quigley zitiert: «No country that values is safety should allow what the Milner group accomplished – that is, that a small number of men would be able to wield such power in administration and politics, should be given almost complete control over the publication of documents relating to their actions, should be able to exercise such influence over the avenues of information that create public opinion, and should be able to monopolize so completely the writing and the teaching of the history of their own period.» «Kein Land, dass seine Sicherheit wertschätzt, sollte erlauben, was der Milner Group gelang, nämlich dass eine kleine Gruppe von Männern in der Lage war, eine solche Macht in Regierung und Politik auszuüben, dass sie die fast vollständige Kontrolle über die Publikationen von Dokumenten, die mit ihren Handlungen zusammenhängen, hatten, dass sie in der Lage waren, einen solchen Einfluss auf die Informationsflüsse auszuüben, die die öffentliche Meinung erzeugen, und dass sie in der Lage waren Forschung und Lehre ihrer eigenen Periode so vollständig zu monopolisieren.» Carroll Quigley, The Anglo-American Establishment, Cover-Text. Übersetzung des Verfassers.
7 Arnold Toynbee (1889–1975) arbeitete sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg für das britische Aussenministerium als Berater des «War Propaganda Bureau» und schrieb gegen die Mittelmächte und das Osmanische Reich gerichtete Propaganda-Pamphlete.
1919 war er Teilnehmer an der Friedenskonferenz von Versailles. Eines seiner letzten Werke: Menschheit – woher und wohin? Plädoyer für den Weltstaat (Stuttgart 1969)
8 Centre d’études de politique étrangère, 1935 von französischen Universitäten und mit Geldern aus der Stiftung des US-amerikanischen Stahl-Magnaten Carnegie, der auch das CFR grosszügig unterstützte, nach dem Beispiel des Chatham House gegründet. Vorläufer des heutigen Institut français des relations internationales (IFRI).
9 höchster Beamter im britischen Aussenministerium
10 Zitiert nach Roussel, a.a.O., S. 234.
11 Gérard Bossuat, S. 3
12 Roussel, a.a.O., S. 255 und 402
13 Roussel, a.a.O., S. 403
14 Algerien war zu der Zeit, ebenso wie Marokko und Tunesien, französische Kolonie und wurde von Vichy-freundlichen Gouverneuren verwaltet.
15 General Giraud entfloh auf abenteuerliche Weise, unter Mithilfe des Colonel Linarès, einem vollkommen loyal gesinnten Vertrauten Monnets, im April 1942 der deutschen Gefangenschaft. Er war Anhänger Pétains und der von diesem vertretenen Vorstellung eines autoritären, undemokratischen Staates, lehnte aber eine Kollaboration mit den deutschen Besatzern ab. Er lebte deswegen im französischen Untergrund, bis ihn die Alliierten «befreiten» und nach Gibraltar brachten.
16 Roussel a.a.O., S. 363, Couve de Murville. Er bearbeitete ihn wochenlang täglich für seine «erste demokratische Rede». (Fussnote: «Depuis des semaines il lutte pied à pied pour convaincre Giraud» und am 14. März 1943 war es dann so weit: «Et le 14 mars 1943 […] je prononçai le premier discours démocratique de ma vie.» Eric Roussel, a.a.O., S. 315 «Seit Wochen kämpft er Schritt für Schritt, um Giraud zu überzeugen.» «Und am 14. März 1943 hielt ich die erste demokratische Rede meines Lebens». (Übersetzung des Verfassers)
17 Gelder, die durch den Lend-Lease-Act, der von Präsident Roosevelt am 11.3.1941 unterzeichnet und mit dem die amerikanische Neutralität aufgehoben worden war, ermöglicht wurden. Siehe auch Fussnote 5.
In: James J. Dougherty, Lend-Lease and the Opening of French North and West Africa to Private Trade. Cahiers d’Etudes africaines, N° 59, XV-3, pp. 481–500; S. 481)
18 Nach Kriegsende handelte Valensi bei der amerikanischen Export-Import-Bank zusätzlich zu der einen Milliarde Dollar aus dem Marshall-Plan weitere umfangreiche Kredite für Frankreich aus. Auf diese Weise wurde die wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit Frankreichs von den USA verstärkt und eine unabhängige und souveräne Politik nach innen und aussen verunmöglicht. In: Anne Sabouret, MM. Lazard Frères et Cie – Une saga de la fortune. Paris, Olivier Orban, 1987, S. 134
19 Roussel, a.a.O., S. 366. Siebenköpfiges Komitee, dem unter anderen de Gaulle, Giraud, André Philipp und Jean Monnet angehörten. André Philipp wurde als Vertrauter von de Gaulle in das Komitee berufen und wurde Kommissar für Innere Angelegenheiten. Unter dem stärker werdenden Einfluss von Jean Monnet entwarf er unter dessen Mithilfe und der von René Mayer einen Plan für ein Konzept von einer westeuropäischen Integration, zu der die Gemeinschaft der Schwerindustrie ein erster Schritt sein sollte.
20 Gérard Bossuat, Jean Monnet. Le blog d’Europe hebdo, 20.8.2009. S. 4
21 Comité français de la libération nationale
22 Gérard Bossuat, a.a.O., S. 4
23 Charles de Gaulle, Memoiren, 1942–1946, Düsseldorf 1961.
24 a.a.O., S. 222f
25 a.a.O., S. 224f
26 a.a.O., S. 225.