Erster Weltkrieg und
Nachkriegszeit (Teil 1)
von Dr. rer. publ. W. Wüthrich
In diesen Wochen finden in der Schweiz mehrere
Veranstaltungen statt, an denen über die direkte Demokratie in der Schweiz
diskutiert wird. Reformvorschläge liegen auf dem Tisch, wie die Anforderungen
für Volksinitiativen verschärft werden könnten. Auch in den Medien wird das
Thema rege diskutiert. Insbesondere hört man immer wieder, dass das Volk mit den
anspruchsvollen Themen aus dem Bereich der Finanzen und der Wirtschaft
überfordert sei und dass das EU-Recht, das Völkerrecht oder die globale Welt
ganz allgemein der direkten Demokratie eines Einzelstaates Grenzen setze. In
den folgenden Zeilen soll gezeigt werden, dass die geschichtliche Bedeutung von
Volksabstimmungen und Volksinitiativen für die Entwicklung der Schweiz nicht
hoch genug eingeschätzt werden kann. Mehr noch: Gerade in schwierigen Zeiten
haben sich Volksabstimmungen und Volksinitiativen segensreich auf die
politische Entwicklung ausgewirkt.
Ausgangspunkt für diese Betrachtung ist die Abstimmung vom
kommenden 14. Juni über die Volksinitiative zur Einführung einer
Erbschaftssteuer auf Bundesebene, die auf Erbschaften über zwei Millionen Franken
20 Prozent Steuern erheben will. Es ist eine Art Reichtumssteuer, die nur
zwei Prozent der Steuerpflichtigen betreffen würde. Im folgenden steht jedoch
weniger der Inhalt dieser Initiative im Vordergrund als das Ereignis, dass das
Volk über eine Bundessteuer abstimmt. Einerseits ist dies weltweit einmalig und
andererseits steht dies in einer Tradition, die im Ersten Weltkrieg begonnen
hat, als das Volk in der Schweiz in mehreren Urnengängen darüber abgestimmt
hat, wie die Kosten für die Landesverteidigung zu finanzieren seien, und später
nach dem Krieg, wie die Schulden getilgt werden müssen.
Der 14. Juni 2015 erinnert an ein ganz besonderes Datum. Vor
fast genau hundert Jahren – am 6. Juni 1915 – wurde in der Schweiz mitten im
Ersten Weltkrieg zum ersten Mal über eine neue Bundessteuer abgestimmt.
Erinnern wir uns an die Ereignisse von damals und deren Bedeutung für die
politische Entwicklung des heutigen Bundesstaates.
Der eine oder andere Leser wird hier einwenden, dass es
schon früher gesamtschweizerische Verfassungsabstimmungen gegeben habe. Das ist
richtig – jedoch nicht über Bundessteuern, weil es solche gar noch nicht gab.
Vor 1915 finanzierte sich der Bund ausschliesslich über Zölle und Abgaben.
Einkommens- und Vermögenssteuern blieben den Gemeinden und Kantonen
vorbehalten, die schon weit früher über Steuern abstimmten.
Bewährungsprobe der direkten Demokratie im Ersten Weltkrieg
Als der Erste Weltkrieg begann, zeigte es sich bald, dass
die Gelder des Bundes bei weitem nicht ausreichten, die Mobilmachung und die
schnell steigenden Ausgaben für die Landesverteidigung zu decken. Als Abhilfe
fasste der Bundesrat eine progressive direkte Bundessteuer auf Einkommen und
Vermögen für die Dauer des Krieges ins Auge. Die Diskussion drehte sich vorerst
um die Frage, ob diese neue Steuer über die Kriegsvollmacht – das heisst ohne
Volksabstimmung – eingeführt werden sollte oder ob man den ordentlichen Weg
beschreiten sollte, indem das Parlament dem Volk einen Verfassungsartikel zur
Beurteilung vorlegen sollte. Die Politiker entschieden sich aus
urdemokratischer Gesinnung für das letztere, was damals und ganz besonders in
der Kriegssituation überhaupt nicht selbstverständlich war. Das Volk bewies
seine hohe politische Reife, indem es trotz schwieriger Lebensbedingungen mit
93 Prozent Ja für die sogenannte «Kriegssteuer» stimmte, die höchste
Zustimmung, die eine Bundesvorlage bis heute je erreicht hat. Ein Jahr später
folgte eine Abstimmung über die Stempelsteuer, die Besitzer von Wertpapieren zu
bezahlen hatten. Auch diesmal stimmte das Volk zu – wenn auch nur noch mit 53
Prozent. Daraufhin reichten die Sozialdemokraten eine Volksinitiative ein, die
die direkte Bundessteuer auf Einkommen und Vermögen auf Dauer – das heisst über
den Krieg hinaus – einführen wollte. Die Ansprüche an den Staat seien
gestiegen, und er brauche deshalb zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben auf
Dauer mehr Steuern. 54 Prozent der Stimmenden lehnten am 2.6.1918 ab. Diese
Abstimmungen haben den Zusammenhalt zweifellos gestärkt.
Nach dem Krieg stellte sich die Frage der Rückzahlung der
«Kriegsschulden» von etwa 1 Milliarde Franken (heutiger Wert etwa
10 Milliarden). Während andere Länder diese Inlandschulden über die
Inflation erledigten, schlug der Bundesrat vor, die 1915 ausserordentliche, ursprünglich
nur für die Dauer des Krieges beschlossene Steuer weiterzuführen, bis diese
Schulden zurückbezahlt wären. Am 4.5.1919 stimmte das Volk zu und akzeptierte
den Plan des Bundesrates mit hohen 63 Prozent Ja-Stimmen. (Diese Steuer
sollte erst 12 Jahre später wieder aufgehoben werden.) Diesmal gab es jedoch
Opposition. Die Sozialdemokraten waren nicht einverstanden. Die Arbeiter waren
von den Nöten, Entbehrungen und Problemen des Krieges ungleich härter getroffen
als der Mittelstand und die Reichen. Sie wiesen auch darauf hin, dass etliche
auch vom Krieg profitiert hätten und es mehr als gerecht sei, dass die Reichen
und Profiteure des Krieges für die Kriegsschulden aufkommen müssten. 1921
reichte die SP die Volksinitiative für «die Erhebung einer einmaligen
Vermögensabgabe» für Reiche ein. Ein Bürger mit einem Vermögen im heutigen Wert
von 10 Millionen Franken hätte zum Beispiel 20 Prozent von seinem Vermögen
abgeben müssen, noch reichere deutlich mehr. Juristische Personen, das heisst
vor allem Aktiengesellschaften, hätten 10 Prozent vom Geschäftsvermögen
bezahlen müssen. Eine kleine Minderheit von gerade einmal sechs Promille der
Steuerpflichtigen wäre betroffen gewesen, und diese hatten Grund zu befürchten,
dass sich die übergrosse Mehrheit gegen ihre Interessen entscheiden würde. Um
den Unternehmen die Zahlung zu erleichtern, wurde vorgeschlagen, dass diese die
neuen Steuern statt mit Geld auch mit Wertpapieren und mit eigenen Aktien
bezahlen könnten. Der Staat wäre so zum Miteigentümer an privaten Unternehmen
geworden. Das führe zur «Verstaatlichung der Produktionsmittel» und zum
Kommunismus, wie es die Marxisten forderten und wie es Lenin in Russland
praktiziere, protestierten die Gegner dieser Vorlage. Der Ertrag der Steuer –
so die SP – sollte zur Tilgung der Kriegsschulden und für soziale Zwecke
verwendet werden. Der Abstimmungssonntag vom 3.12.1922 sollte in die Geschichte
der direkten Demokratie eingehen. Fast alle Stimmberechtigten – 86,3 Prozent –
gingen zur Urne und lehnten die Volksinitiative mit 87 Prozent der Stimmen
wuchtig ab. Das geht uns eindeutig zu weit, war die Botschaft an die
Initianten. Grosse Teile der Arbeiter hatten mit Nein gestimmt. Diese
rekordhohe Stimmbeteiligung sollte bis heute nie mehr erreicht werden.
Generalstreik 1918
Ein weiterer Punkt im Zusammenhang mit dieser Abstimmung
fällt auf. Die «Rückzahlung der Kriegsschulden durch die Besitzenden» war eine
zentrale Forderung gewesen im Landesgeneralstreik vom November 1918. Zum
Generalstreik einige Stichworte: Im Herbst 1918 riefen linke Parteien und die
meisten Gewerkschaften zu einem landesweiten Streik auf. Er war begründet mit
der Notlage, in die viele Schweizer Arbeiter während des Krieges geraten waren.
Die Preise hatten sich verdoppelt, während sich die Löhne nur wenig verändert
hatten. Die Rationierung der Lebensmittel war erst 1917 in Angriff genommen
worden. Der Lohnersatz während des Militärdienstes war nur unzureichend
geregelt. Das Land war ganz allgemein schlecht vorbereitet auf die lange
Kriegszeit – was sich auf die Arbeiterschaft am stärksten ausgewirkt und sie
verbittert hatte.
Dazu gab es weitere Gründe, dass sich die politischen Gräben
vertieften. Lenin, Trotzki und andere russische Revolutionäre hielten sich
längere Zeit als Asylanten in der Schweiz auf und agierten von hier aus. Vor
allem Lenin nahm auch zu innenpolitischen Fragen der Schweiz Stellung und
radikalisierte mit seiner revolutionären Ideologie Teile der Linken. So
enthielt das Parteiprogramm der SP von 1920 eine ganze Passage über die Diktatur
des Proletariats – ganz nach leninistischem Vorbild. Dieser Punkt war jedoch
auch innerhalb der Partei umstritten. (100 Jahre Sozialdemokratische Partei der
Schweiz, Zürich 1988, S. 47)
Der für den November 1918 geplante Generalstreik wurde in
Zeitungsartikeln und Flugblättern mit einigem revolutionären Pathos
angekündigt, so dass der Bundesrat einen Militäreinsatz in Erwägung zog. Vor
allem die Armeeführung drängte in diese Richtung, um allfälligen
Umsturzversuchen frühzeitig begegnen zu können. Der Armeestab von General Wille
ging sogar davon aus, dass ein Umsturz erfolgreich sein könnte und arbeitete
eine Strategie für eine «Gegenrevolution» aus. Wille war eben nicht der General
für das ganze Schweizervolk wie Henri Guisan im Zweiten Weltkrieg.
Als die Sozialdemokraten unmittelbar vor dem Streik im
ganzen Land zu Gedenkveranstaltungen zur Oktoberrevolution in Russland
aufriefen, die ein Jahr zuvor stattgefunden hatte, reagierten der Bundesrat und
die Armeeführung übertrieben. Sie boten grosse Teile der Armee auf – ungefähr
95 000 Mann –, um die Bahnhöfe,
Regierungsgebäude, Banken, Telefonzentralen usw. zu bewachen – alles
Einrichtungen, die bei Umstürzen und Revolutionen jeweils als erstes besetzt
werden. In einzelnen Gemeinden wurden Bürgerwehren gegründet.
Das Militäraufgebot war so massiv, dass sich die Streikenden
zu Recht provoziert fühlten und ihren Protest zum Ausdruck brachten. An 107
Orten in der Schweiz legten schliesslich 250 000
Streikende gleichzeitig die Arbeit nieder.
Im Raume Zürich, wo grössere Unruhen erwartet wurden, waren
8000 Mann im Einsatz, und die Kantonsregierung verlegte ihren Sitz zeitweise in
die Kaserne. Die Streikleitung rief zur Besonnenheit auf und forderte die
Arbeiter auf, sich vom Riesenaufgebot der Armee nicht provozieren zu lassen.
Auf dem Fraumünsterplatz kam es zu Zusammenstössen, und es wurde geschossen.
Ein Schweizer Soldat blieb tot auf dem Platz liegen – von einem Pistolenschuss
getrosffen. Es ist anzunehmen, dass es Heckenschützen gab, die an einer
Eskalierung interessiert waren. Der Zürcher Kommandant rüstete die Soldaten mit
Handgranaten aus und gab den Befehl, diese auch zu gebrauchen, falls sie aus
Fenstern beschossen würden. Die Streikenden verhielten sich in der Regel
diszipliniert. Trotzdem bestand Gefahr, dass solche Situationen zu einem
Blutbad hätten führen können.
Als sich in der Folge die politische Situation nicht
wesentlich entspannte, verlangte der Bundesrat mit Unterstützung des
Parlamentes ultimativ, den Streik abzubrechen, was die Streikleitung auch tat.
Der Streik endete so nach nur drei Tagen.
Hauptgrund für den glimpflichen Verlauf dieser ernsten
Situation war die Tatsache, dass die Demonstrierenden bis vor kurzem dieselbe
Uniform getragen hatten wie die gegenüberstehenden Truppen. Sowohl die Soldaten
und ihre Kommandanten hatten ihre Pflicht in dieser schwierigen Situation in
der Regel mit viel Verantwortungsgefühl erfüllt. Auf der andern Seite hat auch
die Streikleitung immer wieder zur Gewaltfreiheit und zur Mässigung aufgerufen
und an ihren Veranstaltungen immer auf ein striktes Alkoholverbot geachtet.
Trotzdem war die Situation gefährlich, und es grenzt fast an ein Wunder, dass
während des Streiks nur ein einziges Todesopfer zu beklagen war. In anderen
europäischen Städten wie München, Berlin, Wien und Budapest kam es in diesen
Wochen ebenfalls zu politischen Unruhen, die viel gewalttätiger verlaufen sind
und wo es tatsächlich zu Revolutionsversuchen kam. Auch in England, Frankreich
und in Norditalien kam es zu grossen Streiks.
In der späteren gerichtlichen und historischen Aufarbeitung
der Ereignisse in der Schweiz stellte sich jedoch heraus, dass wohl vereinzelt
wenige Waffen und etwas Sprengstoff gefunden wurden. Es gab jedoch keine
Umsturzpläne, wie vor allem General Wille fälschlicherweise angenommen hatte.
Innenpolitisch waren diese Tage zweifellos der absolute Tiefpunkt in der
Geschichte des Bundesstaates. Auch aussenpolitisch hatte der Streik Folgen. Der
Bundesrat brach die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab, weil er
vermutlich mit Recht annahm, dass Lenin sein Gastrecht missbraucht hatte und
für den Streik mitverantwortlich war. Die Beziehungen zur Sowjetunion wurden
erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen. Wieweit Lenin für die
Radikalisierung von Teilen der Linken am Ende des Ersten Weltkrieges
mitverantwortlich war, ist heute umstritten.
Gefährlich war der Landesgeneralstreik noch aus einem andern
Grund. Die oft tödlich verlaufende Spanische Grippe grassierte. Bereits waren
300 000 Fälle registriert. Man
musste davon ausgehen, dass die grossen Menschenansammlungen zu zahlreichen
Ansteckungen und Todesfällen geführt haben. Die Statistik der Armee weist 200
Todesfälle für die Spanische Grippe aus.
Abkehr vom Klassenkampf und Annäherung in einer schwierigen
Zeit
Was haben nun die Ereignisse um den Generalstreik mit
unserem Thema der direkten Demokratie zu tun? – Sehr viel. Es kam nach dem
Ersten Weltkrieg zu zahlreichen Volksabstimmungen. Nach dem Streikabbruch kamen
zwar noch einige Scharfmacher zu Wort. So kommentierte das zum Teil marxistisch
indoktrinierte Streikkomitee den Abbruch des Generalstreiks wie folgt:
«[…] Wir sind mit unseren Forderungen nicht durchgedrungen.
Die Arbeiterschaft erlag der Macht der Bajonette. Aber sie ist nicht besiegt.
Im Ganzen hat sie zum ersten Mal eine Waffe von grosser und furchtbarer
Bedeutung, wenn es sein muss, erlangt. Sie gilt es auszubauen und zu schärfen.»
Zur Ausweitung und Verschärfung des Generalstreiks kam es
aber nicht – wegen der direkten Demokratie. So wurde in den Monaten und Jahren
danach über fast alle Punkte im Forderungskatalog des Generalstreiks einzeln
abgestimmt, und die Arbeiter erlebten, dass die meisten ihrer Anliegen eine
Mehrheit fanden – ein weltweit einzigartiger Vorgang. Die Liste dieser
Volksabstimmungen ist lang und beeindruckend.
Am 13.10.1918 hatte das Volk eine Volksinitiative der
Sozialdemokraten mit 67 Prozent angenommen, die die Proporzwahl des
Nationalrates verlangte.
Am 10.8.1919 sagte es mit 71 Prozent ja zur vorzeitigen
Auflösung des Nationalrates und zur Neuwahl nach dem neuen Verfahren. (Die
Sitzzahl der Sozialdemokraten verdoppelte sich fast.)
Am 21.3.1920 wurde das Bundesgesetz betreffend die Ordnung
des Arbeitsverhältnisses mit 50,2 Prozent Nein hauchdünn abgelehnt.
Am 31.10.1920 sagte das Volk ja zu kürzeren Arbeitszeiten
bei den Eisenbahnen und Verkehrsbetrieben (Staatsbetriebe).
Am 3.12.1922 lehnte es – wie bereits berichtet – die
Volksinitiative für die «Erhebung einer einmalige Vermögensabgabe» zur Tilgung
der Kriegsschulden massiv ab.
Am 17.2.1924 stimmte das Volk in einer Referendumsabstimmung
mit 57 Prozent Ja der gesetzlichen Einführung der 48-Stundenwoche zu.
Die Schaffung einer Alters- und Invalidenversicherung war
ein zentraler Punkt im Forderungskatalog des Generalstreiks. Dazu kam es zu
einer ganzen Reihe von Abstimmungen: Am 6.12.1925 legte das Volk mit 65 Prozent
der Stimmen den Grundstein zur Einführung der Alters- und
Hinterlassenversicherung (AHV) in der Verfassung.
Ein erster Versuch, die AHV konkret einzurichten, scheiterte
1931 in der Volksabstimmung deutlich mit 60 Prozent Nein. Die Wirtschaftskrise
und der Zweite Weltkrieg verzögerten daraufhin das anspruchsvolle Projekt, das
nach dem Kriegsende sofort wieder aufgenommen wurde. 1947 stimmte das Volk bei
einer Stimmbeteiligung von 80 Prozent mit 80 Prozent Ja der AHV zu – in den
Grundzügen, die heute noch gelten.
Im Forderungskatalog des Generalstreiks von November 1918
hatten die Arbeiter die «Sicherung der Lebensmittelversorgung im Einvernehmen
mit den landwirtschaftlichen Produzenten» verlangt. In drei Abstimmungen – dazu
gehörte auch eine Volksinitiative – leitete das Volk die Abkehr von der
liberalen Landwirtschaftspolitik der Vorkriegszeit ein. Der Bund erhielt den
Auftrag, den Getreideanbau zu fördern, Vorräte zu halten, Müllereien zu
erhalten und den Handel mit Getreide zu überwachen. 1914 waren 90 Prozent
des Getreides importiert worden, was im Verlauf des Krieges immer schwieriger
wurde, so dass es zu Hunger und zu schweren innenpolitischen Spannungen
gekommen war. Das sollte nicht wieder vorkommen. Im Zweiten Weltkrieg war die
Schweiz deutlich besser vorbereitet, die Bevölkerung ausreichend zu ernähren.
Neben diesen wirtschaftlichen Vorlagen wurden 1921 eine
Volksinitiative aus der französischen Schweiz mit 71 Prozent Ja-Stimmen
angenommen, die unbefristete oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren
abgeschlossene Staatsverträge dem Referendum unterstellte, womit auch die
Schweizer Aussenpolitik im Sinne der Volksrechte demokratisiert wurde.
Eine sehr grosse Zahl von ganz zentralen Anliegen der
Bevölkerung und gerade auch aus Arbeiterkreisen wurde in diesen Jahren
direktdemokratisch entschieden. Dazu gehörten auch zwei Volksinitiativen der
Sozialdemokraten über Bundessteuern. Zahlreiche weitere Abstimmungen sollten im
Laufe der Jahrzehnte folgen. Die im Landesgeneralstreik unterlegenen Arbeiter
machten die Erfahrung, dass ihre Anliegen ernst genommen wurden und dass es
bessere Wege gab, diese durchzusetzen. Dazu gehörten auch die Gesamtarbeitsverträge,
die in den 1920er Jahren zwischen den Verbänden der Arbeitgeber und den
Gewerkschaften zunehmend ausgehandelt wurden. Begriffe wie «revolutionärer
Generalstreik» oder überhaupt «Streik» verloren im Vokabular der Arbeiter an
Bedeutung. Ein erstes Zeichen eines deutlichen Wandels hatte sich bereits Ende
1920 gezeigt. Der sozialdemokratische Parteitag weigerte sich mit deutlichem
Mehr, der von Lenin begründeten Dritten Internationale beizutreten – ein
Entscheid, der auch von der Basis in einer Urabstimmung mitgetragen wurde.
Das Friedensabkommen von 1937 zwischen den Gewerkschaften
und Arbeitgeberverbänden der Uhren-, Maschinen- und Metallindustrie stellte
schliesslich die Weichen für eine Arbeitswelt mehr oder weniger ohne Streiks –
bis heute. Die Kontrahenten standen sich nicht mehr im Klassenkampf gegenüber,
sondern als Sozialpartner, die im Gedeihen der Unternehmen gemeinsame
Interessen haben. Im Unterschied zum Streik geht es in der Schweiz bei der
Volksabstimmungen oder bei Gesamtarbeitsverträgen nicht darum, der Regierung,
dem Parlament oder einem Arbeitgeber eine Konzession abzutrotzen, sondern es
ist ein freier Entscheid der Bürger und Vertragspartner und hat damit eine ganz
andere Qualität. Es ist eine ganz andere politische Kultur, die sich
herausgebildet hat und die ausgleichend und mässigend wirkt.
Diese Überlegungen lassen sich auch für die schwierige Zeit
der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren fortführen und vertiefen. Auch in
dieser Zeit lässt sich feststellen, dass die vielen Volksabstimmungen und
Volksinitiativen mitgeholfen haben, diese Krise politisch und wirtschaftlich zu
bewältigen und so wesentlich zum Zusammenhalt und zur gedeihlichen Entwicklung
der Schweiz beigetragen haben. Dazu mehr im zweiten Teil.
Die Bedeutung der
direkten Demokratie für die Sicherung des sozialen Friedens (Teil 2)
Wirtschaftsverfassung und direkte Demokratie
von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich
Im Teil 1 dieser Artikelfolge wurde aufgezeigt, wie
zahlreiche Volksabstimmungen und Volksinitiativen in der schweren Zeit des
Ersten Weltkrieges und den Jahren danach wesentlich dazu beigetragen haben, den
sozialen Frieden in der Schweiz zu sichern und die politisch und wirtschaftlich
schwierige Zeit zu bewältigen. Nur wenige Jahre später – in den 1930er Jahren –
steckte Europa erneut in einer grossen Krise. Die Weltwirtschaft war aus den
Fugen geraten. Hohe Arbeitslosigkeit und soziale Not plagten die Bevölkerung in
vielen Ländern. Niemand wusste einen Ausweg. Mancherorts – vor allem in
Deutschland – war die Wirtschaftsdepression der Boden für politische
Umwälzungen.
In der Schweiz kam es zu intensivsten politischen
Auseinandersetzungen. Hat das liberale Wirtschaftskonzept der Schweiz noch
Zukunft, war die zentrale Frage, oder muss die Wirtschaft von Grund auf neu
eingerichtet werden. Muss die liberale Wirtschaftsverfassung über Bord geworfen
und durch etwas Krisentaugliches ersetzt werden? Hochbrisante Fragen wie diese
bestimmten das politische Leben, und es bestand Gefahr, dass das Land instabil werden
könnte. In keiner Zeit waren die wirtschafts- und ordnungspolitischen
Gegensätze so gross und die politischen Auseinandersetzungen so hart. Wiederum
kam es zu zahlreichen Volksabstimmungen und Volksinitiativen. Insgesamt zehn
Volksinitiativen beanspruchten, eine Antwort oder einen Beitrag zur Lösung der
Krise zu haben. Während in andern Ländern sich die politischen Gegner
Strassenschlachten lieferten oder in Bürgerkriegen gegenüberstanden, wurden in
der Schweiz Unterschriften gesammelt. Die Brisanz der Vorlagen zeigt sich auch
in der Unterschriftenzahl. Die Sozialdemokraten und Gewerkschaften zum Beispiel
sammelten 567 188 Unterschriften für ihre
Krisen-Initiative, die 1935 zur Abstimmung kam – elfmal mehr als in der
Verfassung verlangt. Die Tage der liberalen Wirtschaftsverfassung schienen
gezählt.
Wie war es möglich, dass es in dieser angespannten Situation zu keiner
politischen Umwälzung kam und der soziale Friede gewahrt blieb? Wie war es
möglich, dass extreme Parteien keine Chancen hatten? Diesen Fragen soll hier
nachgegangen werden.
Die Wirtschaftsverfassung von 1874
Um die Ereignisse dieser Jahre zu verstehen, müssen wir als
Ausgangslage und als Vorgeschichte die Wirtschaftsverfassung in der
Bundesverfassung der Schweiz von 1874 betrachten, die in den Debatten zentral
war und in der Krise von den verschiedenen politischen Lagern wieder und immer
wieder angegriffen oder verteidigt wurde.
Die Wirtschaftsverfassung in der Bundesverfassung von 1874 war liberal. Sie
enthielt in ihrem Kern drei zentrale Elemente:
1. Die Wirtschaftsfreiheit als naturrechtlich begründetes
Freiheitsrecht des Bürgers
2. Die Wirtschaftsfreiheit als Grundsatz, das heisst als
Leitidee für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung
3. Die direkte Demokratie – als Entscheidungsverfahren, um
den rechtlichen Rahmen und die Regeln für ein geordnetes Wirtschaftsleben
festzulegen. Die Verfassungsgeber waren von der Überzeugung geleitet, dass das
Volk wichtige Eckpunkte direkt bestimmen und die Weichen für die
Weiterentwicklung selber stellen soll. Damit sollte der soziale Frieden gewahrt
werden und die Wirtschaft am besten gedeihen.
Diese ungewöhnliche Verfassung hat eine Vorgeschichte. Sie ist es wert,
erforscht zu werden.
Der Verfassungsgeschichtler Alfred Kölz kommt in seinem epochalen Werk «Neuere
Schweizerische Verfassungsgeschichte» von 2004 zum Schluss, dass die Schweiz
gemäss der BV von 1874 weltweit das einzige Land war, das die
Wirtschaftsfreiheit als naturrechtlich begründetes Grundrecht in die Verfassung
aufgenommen hat, weil sie zur menschlichen Existenz gehört und sich aus dem
natürlichen Recht des Menschen auf seine individuelle Freiheit ableitet: Dazu
Kölz: «Die Schweiz war und ist das einzige Land der Welt, welches die
Wirtschaftsfreiheit als Freiheitsrecht anerkennt.» (S. 870) Wer sich für die
Entstehungsgeschichte dieser aussergewöhnlichen Rechtsauffassung interessiert,
muss in den Büchern weit zurückblättern.
Die Thurgauer Verfassung als Beispiel in der
Regenerationszeit
Im Jahr 1830 sass Thomas Bornhauser, Pfarrer in der
Thurgauer Gemeinde Matzingen, zusammen mit einigen Kollegen aus dem
Kantonsparlament um den Tisch im Pfarrhaus. Sie hatten vom Parlament den
Auftrag erhalten, für den Kanton eine neue Verfassung zu entwerfen, die die
Ideen der Aufklärung und der Menschenrechte wieder aufleben lassen und sie
deutlicher als bisher umsetzen sollte. Andere Politiker in anderen Kantonen
hatten ähnliche Ziele. Diese Bewegung sollte als Regeneration in die Geschichte
eingehen.
Thomas Bornhauser war sehr volksverbunden und setzte sich mit Herzblut für die
neue Bewegung und für den Kanton Thurgau ein. Auf dem Tisch im Pfarrhaus zu Matzingen
lagen die Eingaben von 130 Gemeinden und Berufsverbänden, die konkret ihre
Wünsche für die neue Verfassung äusserten. Zuoberst auf ihrer Liste standen
wirtschaftliche Reformen und die Garantie der wirtschaftlichen Freiheit, die
einfach zur menschlichen Existenz gehöre. Manche der damaligen
Wirtschaftsformen im Thurgau hatten ihre Wurzeln im Mittelalter. So gab es im
Thurgau noch Feudalabgaben, die der neuen Zeit längst nicht mehr entsprachen.
Verbreitet waren auch noch die sogenannten Ehehaften: Für die Errichtung von
Mühlen, Bäckereien, Metzgereien, Schmieden, Ziegeleien, Gastwirtschaften und
weiterer Betriebe musste bei den Behörden gegen Entgelt ein Patent eingeholt
werden. Dieses wurde nur erteilt, wenn ein Bedürfnis bestand. Ein
Konkurrenzbetrieb konnte so nicht eröffnet werden und ein Wettbewerb konnte
nicht entstehen. Thomas Bornhauser betrachtete die Ehehaften als Privileg, das
nicht mehr zeitgemäss war. Auch manche der bestehenden Handwerksordnungen – die
industrielle Revolution hatte eben erst begonnen – galten nicht mehr als
zeitgemäss.
Die Verfassung, die Thomas Bornhauser und seine Kollegen entwarfen und die am
14. April 1831 vom Thurgauer Volk mit grosser Mehrheit angenommen wurde, hatte
unter anderem folgende Eckpunkte: «Das Volk regiert sich selbst durch von ihm
gewählte Stellvertreter.» (Artikel 4) Die Staatsgewalt wird in eine
gesetzgebende, vollziehende und in eine richterliche Gewalt aufgeteilt. (Art.
5) Die ganze Staatsverwaltung, insbesondere auch Gerichtsverhandlungen, sind
öffentlich. (Art. 6) Der Staat ist verantwortlich und sorgt für ein gutes
Schulwesen. (Art. 20) Der Verfassungsentwurf enthielt einen für damals
erstaunlichen Katalog von Menschen- und Bürgerrechten wie die Rechtsgleichheit,
die Meinungsäusserungs- und die Religionsfreiheit:
«[…] Es bestehen sonach keine Vorrechte der Geburt, der
Personen, der Familien, des Ortes, des Amtes und des Vermögens. Der Bürger ist
einzig dem Gesetz unterthan, welches für alle dasselbe ist.» (Art. 9) Die
Meinungsäusserungsfreiheit – in Wort und Schrift (Art. 11) ist garantiert,
ebenso die Glaubens- und Gewissenfreiheit für christliche Konfessionen.
(Art. 21) Diesem Katalog der Menschenrechte fügte Thomas Bornhauser die
Wirtschaftsfreiheit hinzu – und in Ergänzung dazu den Schutz des Privateigentums:
«Alle Bürger des Kantons geniessen volle Arbeits-, Erwerbs- und
Handelsfreiheit. Nur der Missbrauch dieser Freiheit ist durch weise
Polizeigesetze zu verhüten. […].» (Art. 12) «Das Eigentum ist heilig. Es
kann niemand gezwungen werden, sich seines Eigentums weder im Ganzen, noch
theilweise zu begeben, ausser in dem Fall eines gesetzlichen anerkannten
allgemeinen Bedürfnisses, und auch dann nur gegen gerechte Entschädigung.»
(Art. 14)
Diese Verfassung vom 14. April 1831 war für ihre Zeit revolutionär.
Im Ausdruck «weise Polizeigesetze», die die Handels- und Gewerbefreiheit
einschränken, kommt etwas zum Ausdruck, das Thomas Bornhauser bereits
vorausgeahnt hatte. Es würde nicht einfach werden, der Wirtschaftsfreiheit des
Bürgers Grenzen zu setzen, so dass sie den verschiedenartigen Bedürfnissen und
Interessen der Bürger gerecht werden und dem Gemeinwohl dienen. In den Jahren
nach 1831 folgten weitere Kantone mit ähnlich liberalen Verfassungen. In
städtischen Kantonen wie Zürich, Schaffhausen oder St. Gallen
ging es vor allem darum, das strenge Regime der Zünfte zu lockern.
Entwicklung der direkten Demokratie in den Kantonen
In diesen Jahren waren auch die ersten Ansätze von direkter
Demokratie auch in Kantonen zu beobachten, die die Landsgemeinde nicht kannten.
Einige führten das sogenannte Vetorecht ein. (vgl. René Roca, «Wenn die
Volkssouveränität wirklich eine Wahrheit werden soll …», Zürich 2012, ISBN
978-3-7255-6694-5). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten erhielt im Prinzip die
Möglichkeit, zu einem neuen Gesetz des Parlamentes nein zu sagen. Daraus
entwickelte sich in verschiedenen Kantonen das Referendum, das wie folgt
funktioniert: Das Parlament beschliesst ein neues Gesetz und legt es dem Volk
zur Beurteilung vor, das dazu ja oder nein sagen kann. Damit wurde das Volk
wirklich zum Souverän – im eigentlichen Sinn des Wortes.
Die 1860er Jahre waren ein Jahrzehnt der «demokratischen Bewegungen», die in
etlichen Kantonen das Referendumsrecht und auch das Initiativrecht zum
Durchbruch brachten. Als Beispiel soll auch hier der Kanton Thurgau aufgeführt
werden. So stand im Artikel 4 der Verfassung vom 28.2.1869:
Der Volksabstimmung […] unterliegen:
a alle Gesetze und Konkordate
b alle Grossratsbeschlüsse, welche eine neue einmalige
Gesamtausgabe von wenigstens 50 000 Franken,
oder eine jährlich wiederkehrende Verwendung von mehr als 10 000 Franken zur Folge
haben; […]
Die Abstimmung ist obligatorisch und geschieht durch geheime
Stimmabgabe.
Die Kantonsverfassung des Thurgaus enthielt zusätzlich ein Vorschlagsrecht
(Initiativrecht) des Volkes zur Abänderung von Gesetzen und der Verfassung. –
Vor der Abstimmung gab der Verfassungsrat den Stimmbürgern folgendes Geleit:
«Es ist nun an Euch selbst, werthe Mitbürger, ernst und gewissenhaft zu prüfen,
ob Ihr in die eigene Kraft und Einsicht das genügende Vertrauen setzet, um die
Zügel der Staatsleitung selbst in die Hand nehmen zu können.» (Alfred Kölz,
Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte, S. 186) Das Volk stimmte bei
einer Beteiligung von 80 Prozent mit 64 Prozent Ja-Stimmen zu. –
Diese und auch andere Kantonsverfassungen dieser Zeit waren wirklich
revolutionär – und zwar ohne dass nur ein einziger Gewehrschuss abgefeuert
wurde.
Die Handels- und Gewerbefreiheit muss mit der direkten
Demokratie verbunden sein: der Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit
Der Verfassungsgrundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit
von 1874 steht im Zusammenhang mit den politischen Veränderungen in der Mitte
des 19. Jahrhunderts. Die ersten sozialistischen Bewegungen und Parteien
traten auf. Frühsozialisten wie Saint Simon oder Charles Fourier
veröffentlichten ihre Gedanken. Sie prangerten die sozialen Missstände an, die
als Folge der industriellen Revolution in verschiedenen Ländern wie auch in der
Schweiz auftraten und entwickelten Gegenmodelle zur wirtschaftlichen Freiheit
aus Sicht der Fabrikbesitzer. Karl Marx und Friedrich Engels gingen noch einen
Schritt weiter und publizierten 1848 das Kommunistische Manifest, in dem sie
zum Klassenkampf aufriefen: «Proletarier aller Länder vereinigt euch», war ihr
Schlachtruf, der die Welt noch erschüttern sollte. Marx zog nach London ins
Exil und begann mit der Niederschrift seines Hauptwerks «Das Kapital», in dem
er die liberale Marktwirtschaft analysierte und als untauglich verwarf. Das
Buch sollte die Grundlage für künftige, meist gewalttätige Revolutionen
sein.
Von besonderer Bedeutung für die Schweiz waren die Ereignisse in Paris nach der
Februarrevolution von 1848. Die sozialistische Partei unter Führung von Louis
Blanc gewann die Wahlen und zögerte nicht lange, ihre Vorstellungen von neuen
Wirtschaftsformen in die Tat umzusetzen. Sie fügten in die Verfassung ein neues
Menschenrecht ein: das Recht auf Arbeit. Sie setzten es um, indem sie in kurzer
Zeit und in grosser Zahl staatliche Nationalwerkstätten mit hunderttausend
neuen Arbeitsplätzen errichteten. Sie wollten damit «die Privatwirtschaft durch
die Konkurrenz der Staatswirtschaft zurückdrängen». (Proudhon, Bekenntnisse
eines Revolutionärs, S. 62) Das Wirtschaftsprojekt der Nationalwerkstätten
beanspruchte jedoch grosse Teile der Steuergelder, die der Regierung an anderen
Orten fehlten. Zudem traten bald Mängel auf, die später auch in kommunistischen
Ländern zu beobachten waren. Als Folge von Fehlplanungen wurden Produkte
produziert, die bei den Konsumenten keinen Anklang fanden. Die politische
Quittung kam prompt: Die Sozialisten verloren die nächsten Wahlen deutlich und
Louis Blanc musste nach England fliehen. In Paris kam es zu schweren,
politischen Unruhen mit mehreren Tausend Toten.
Die Ereignisse von Paris machten deutlich, dass die Bevormundung von Handel und
Gewerbe und das Recht auf Arbeit in der Praxis nicht so leicht zu handhaben
waren und ein erhebliches Konfliktpotential enthielten. Die Sozialisten hatten
ihre weitreichenden Wirtschaftsexperimente zwar auf Grund eines Wahlerfolgs in
die Wege geleitet, ohne das Volk zu fragen, ob es dies wirklich auch will. Eine
Volksabstimmung hat mehr Legitimation als ein Wahlerfolg. Hier galt es zu
lernen.
Die Ereignisse von Paris hatten Auswirkungen auf die Schweiz. 1856 verstärkte
der Kanton Solothurn die Handels- und Gewerbefreiheit als Bürgerrecht, indem er
ihr in der Verfassung einen politischen Rahmen zuordnete, den die
Verfassungsgeber als Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit bezeichneten. Das heisst
konkret: Gesetze oder staatliche Aktivitäten, die im Sinne des Gemeinwohls die
Handels- und Gewerbefreiheit einschränken, müssen sich im Grundsatz, das heisst
in der Leitidee an einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung orientieren. Es soll
nicht möglich sein, dass das Parlament oder die Regierung mit übertriebenen
Polizeigesetzen oder staatlichen Aktivitäten verschiedenster Art die
Privatwirtschaft zurückdrängen, wie dies in Paris geschehen war. Das
Solothurner Volk stimmte am 1. Juni 1856 der neuen Verfassung mit
78 Prozent Ja-Stimmen zu.
Die drei Säulen der Wirtschaftsverfassung von 1874
1874 flossen alle drei der oben geschilderten Elemente, die
zuvor alle in zahlreichen Kantonsverfassungen erprobt wurden, in die Bundesverfassung
von 1874 ein. Es sind dies:
Die Handels- und Gewerbefreiheit als Grundrecht des Bürgers
Der Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit als Leitidee und
Rahmen für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung und
Die direkte Demokratie als Entscheidungsverfahren, mit dem
das Volk der Handels- und Gewerbefreiheit einen konkreten Ordnungsrahmen gibt –
und zwar in zweifacher Hinsicht:
a) Sämtliche der «weisen Polizeigesetze» (um bei der Formulierung von Thomas
Bornhauser zu bleiben), die den Ordnungsrahmen bilden und dem Gemeinwohl
dienen, unterstehen dem fakultativen Referendum. Das heisst, mit 30 000 Unterschriften kann
eine Volksabstimmung herbeigeführt werden.
b) Falls ein politischer Vorstoss jedoch vom Verfassungsgrundsatz der
Wirtschaftsfreiheit abweicht, das heisst nicht in eine freiheitliche
Wirtschaftsordnung passt, kommt es zu einer obligatorischen
Verfassungsabstimmung. Anders formuliert: Regelungen, die vom Grundsatz der
Handels- und Gewerbefreiheit abweichen, sind zulässig – aber nur mit Zustimmung
des Volkes und der Stände. Somit wären staatliche Nationalwerkstätten, wie sie
die Sozialisten in Frankreich eingerichtet hatten, auch in der Schweiz möglich
gewesen – aber nur mit Zustimmung des Volkes und der Stände. Nur so kann der
soziale Frieden gesichert werden, war die Auffassung der Verfassungsgeber –
wahrlich eine «weise» Lösung, wie sie Thomas Bornhauser gefallen hätte. –
Weiter gilt: Die Initiative für eine Verfassungsänderung kann in der Schweiz
vom Parlament her kommen oder auch direkt vom Volk, falls interessierte Bürger
(damals) 50.000 Unterschriften
sammelten und entweder einen ausformulierten Vorschlag oder eine Anregung für
eine Totalrevision der Verfassung einreichten.
Dieses einzigartige und einmalige Konzept der
Wirtschaftsverfassung ermöglicht es dem Volk auch heute, den Ordnungsrahmen für
die Wirtschaft direkt mitzugestalten, weiterzuentwickeln und laufend den
aktuellen Bedürfnissen anzupassen. Von den über 600 gesamtschweizerischen
Volksabstimmungen, die seit 1874 bis heute stattgefunden haben (von denen
ungefähr 200 über Volksinitiativen ausgelöst wurden) betrafen etwa hundert
Abstimmungen Fragen der Wirtschaft und der Wirtschaftsordnung. Darin ging es um
das Arbeitsverhältnis, Gesundheitsschutz, die wöchentliche Höchstarbeitszeit, Ferien,
Mitbestimmung, Pensionskassen, Unfallversicherung, Mindestlohn, Berufsbildung,
Managerlöhne und manches mehr. Es gab eine Vielzahl von Vorlagen zur
Landwirtschaft. Es wurde abgestimmt über Themen der Krisenbewältigung und
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Mieterschutz, Konjunkturpolitik und die
Förderung einzelner Wirtschaftszweige. Abgestimmt wurde über
aussenwirtschaftliche Themen wie zum Beispiel über den Freihandelsvertrag mit
der EG von 1972. Abgestimmt wurde auch immer wieder über Fragen der Steuern,
des Geldes, der Goldreserven und der Währungsverfassung. – Dabei ist
bemerkenswert, dass weder im Bund noch in den Kantonen neue Steuern oder deren
Erhöhung eingeführt werden können ohne obligatorische Volksabstimmung.
Eines muss hier noch hinzugefügt werden: Wenn man die Volksabstimmungen in den
2600 Gemeinden und in den 26 Kantonen miteinbezieht (wo zum Beispiel
über die Einkommens- und Vermögenssteuern, Gewerbeordnung und
Ladenschlussgesetze abstimmt wird), sind es wohl Zehntausende von Volksabstimmungen,
die den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft der Schweiz im Grossen wie im Kleinen
bestimmen und weiterentwickeln. Niemand hat sie gezählt.
Zahlreiche Wirtschaftsabstimmungen in den 1930er Jahren –
ein wahrer Härtetest für die direkte Demokratie
In der Geschichte des Bundesstaates gab es eine Zeitspanne
mit besonders vielen Wirtschaftsabstimmungen, die es wert sind, genauer
betrachtet zu werden. In den 1930er Jahren war die Weltwirtschaft aus den Fugen
geraten. Vieles funktionierte nicht mehr. Grosse Länder wie die USA oder
Deutschland hatten eine Arbeitslosigkeit von 20 und mehr Prozent. Hitler gelang
es, diese Situation auszunützen und die Macht zu erobern. Auch in der Schweiz
waren die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die soziale Not gross.
Es ist gut nachvollziehbar, dass sich die Bürger in dieser desolaten Situation
Gedanken machten, ob die Wirtschaft nicht grundsätzlich neu organisiert und die
liberale Wirtschaftsverfassung über Bord geworfen werden müsste. Wie oben
bereits erwähnt, waren die politischen Gegensätze in keiner Zeit so gross und
die wirtschafts- und ordnungspolitischen Vorstellungen der verschiedenen
politischen Lager von rechts bis links so verschieden. Liberale, Konservative,
Sozialdemokraten, Gewerkschaften, Freisinnige, Katholisch-Konservative,
Bürgerliche, Arbeiter und Unternehmer, Kommunisten, Frontisten usw. – aus
diesen Kreisen stammten in diesen Jahren zehn stark unterschiedliche
Volksinitiativen, von denen manche das Wirtschaftsleben auf den Kopf und die
Wirtschaftsverfassung auf einen neuen Boden stellen wollten. Zwei Initiativen
hatten das Menschenrecht «Recht auf Arbeit» zum Thema, eine wollte staatliche
Arbeitsbeschaffungsprogramme ermöglichen, eine andere mit einer staatlich
gelenkten Wirtschaft die Krise bekämpfen, eine andere verfolgte
ständestaatliche Ziele und wollte neben dem Parlament einen Wirtschaftsrat
einrichten, der die Angelegenheiten der Wirtschaft regelt, wiederum eine andere
wollte die Wirtschaft nach sozialistischen und mehr genossenschaftlichen Grundsätzen
umbauen, etliche wollten die direkte Demokratie im Bereich der Wirtschaft
stärken, für andere war sie ein Auslaufmodell, usw. – Kann man ein Land so
überhaupt noch führen, musste sich der Bundesrat damals gefragt haben. – Ja,
man kann. Während in den umliegenden Ländern sich die politischen Kontrahenten
Strassenschlachten lieferten und mancherorts totalitäre Regime eingerichtet
wurden, wurden in der Schweiz Unterschriften gesammelt – in allen politischen
Lagern – und das nicht zu knapp. Es kam zu zahlreichen Volksabstimmungen, die
zu einem wahren Härtetest für die direkte Demokratie und für die liberale
Wirtschaftsverfassung wurden.
Würde die Schweiz in der angespannten Situation diesen Test bestehen und sich
wieder auf einer gemeinsamen Linie finden? Würden der Zusammenhalt und der
soziale Friede gewahrt bleiben? Dazu mehr in Teil 3 der Artikelfolge.
•
Die Bedeutung der
direkten Demokratie zur Sicherung des sozialen Friedens (Teil 3)
Wie schützt man die direkte Demokratie in schwierigen
Zeiten?
von Dr. rer. publ. W. Wüthrich
Der Leser hat in Teil 2 dieser Artikelfolge die
Wirtschaftsverfassung der Schweiz in der Bundesverfassung von 1874
kennengelernt. Sie wird in ihrem Kern auch heute von drei Säulen getragen:
1. Von der Handels- und Gewerbefreiheit (heute Wirtschaftsfreiheit) als
Freiheitsrecht des Bürgers; 2. vom Grundsatz der Handels- und
Gewerbefreiheit als Leitidee für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung und
3. von der direkten Demokratie – als Mitsprache des Volkes, um die
Eckpunkte des Ordnungsrahmens festzulegen und um die Weichen für die Zukunft zu
stellen. Die Zwischenkriegszeit mit der grossen Wirtschaftskrise der 1930er und
auch die Zeit des Zweiten Weltkriegs waren besondere Epochen, weil hier die
Grundlagen der Wirtschaftsverfassung zur Diskussion standen. Es kam zum
Friedensabkommen in der Metallindustrie und zu insgesamt zehn Volksinitiativen:
Allein in fünf ging es um den Erhalt der direkte Demokratie – insbesondere im
Bereich der Wirtschaft. Die anderen fünf Initiativen warfen grundsätzliche
Fragen der Ökonomie auf. Taugen die Ideen von Adam Smith noch in dieser
schweren Zeit? Oder ist John Maynard Keynes die neue Lichtgestalt, die den Weg
in die Zukunft zeigt? Oder haben Karl Marx oder der Papst Ideen, wie die
schwere Wirtschaftskrise zu lösen ist? Lässt sich das Menschenrecht «Recht auf
Arbeit» in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung umsetzen? Wenn ja, wie? Über
solche Fragen wurde heftig diskutiert und gestritten und schliesslich
abgestimmt.
In den folgenden Zeilen geht es als Einleitung um den Erhalt der direkten
Demokratie in schwierigen Zeiten. Die weiteren Themen folgen im nächsten
Artikel.
Ist direkte Demokratie im Bereich der Wirtschaft möglich?
Zweifel oder gar Angriffe auf die direkte Demokratie kamen
nach dem Ersten Weltkrieg nicht etwa von Extremisten, sondern vom Bundesrat und
aus dem Parlament. Mancher Bundespolitiker warf die Frage auf: Ist das Volk
auch in schwierigen Zeiten wirklich in der Lage, in anspruchsvollen und
manchmal komplizierten Fragen der Wirtschaft direkt mitzureden und diese auch
zu entscheiden?
Die verfassungsmässige Ausgangslage dieses Streits, der 30 Jahre lang
andauern sollte, war folgender.
Art. 89 der Bundesverfassung von 1874 regelte das fakultative Referendum
wie folgt:
«Bundesgesetze sowie allgemein verbindliche
Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur sind, sollen überdies dem Volk
zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn es von 30 000 stimmberechtigten
Schweizerbürgern oder von acht Kantonen verlangt wird.»
Das an sich sehr wichtige Detail der dringlichen
Bundesbeschlüsse in der Verfassung wurde lange Zeit gar nicht beachtet, weil es
bis zum Ersten Weltkrieg praktisch nie zur Anwendung kam. Das änderte sich nach
dem Ersten Weltkrieg.
Bundesrat und Parlament erklärten mehr und mehr Wirtschaftsvorlagen als
dringlich und entzogen sie dem Referendum und der Entscheidung des Volkes.
Problematisch war, dass nirgends genau definiert war, was dringlich eigentlich
heisst. Die dringlich erklärten Vorlagen waren in der Regel auf zwei oder drei
Jahre befristet. Die Frist wurde jedoch nach Ablauf häufig immer wieder
erneuert, so dass eine solches Gesetz oder eine Verordnung oft jahrelang in Kraft
blieb – ohne Volksabstimmung. Das widersprach dem Grundprinzip der direkten
Demokratie. Dazu Staatsrechtsprofessor Alfred Kölz in seinem Werk «Neuere
Schweizerische Verfassungsgeschichte» von 2004: «Es wurde Recht gesetzt, das
ohne vollständige Legitimation jahrelang in Kraft blieb.» Er zählte für die
1920er und 30er Jahre 151 Vorlagen, die vom Parlament als dringlich
erklärt wurden und so am Volk vorbei ohne Referendum in Kraft gesetzt wurden,
und die – was besonders auffiel – ausschliesslich wirtschaftlicher Art waren.
In den Jahren 1929 bis 1933 allein waren es deren 92. Aus der «Hintertüre», die
es dem Parlament erlaubte, eine Vorlage ohne Volksabstimmung in Kraft zu
setzen, war ein riesiges «Scheunentor» geworden. Dazu Alfred Kölz: «Somit war
ein erheblicher Teil der wirtschaftsrechtlichen Bundesbeschlüsse auf dreifache
Weise nicht verfassungskonform: Sie wurden dem Referendum entzogen,
widersprachen dem Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit und standen der
föderalistischen Kompetenzordnung entgegen.» (S. 768)
Der hauptsächliche Grund für diese verfassungswidrige Praxis lag – nach Kölz –
wohl darin, dass man die wirtschaftlichen Massnahmen nicht der «Zufälligkeit
eines Volksentscheides» aussetzen wollte. Dies kam auch damals in einer
Nationalratsdebatte deutlich zum Ausdruck. (Protokoll Nationalrat 1933, S. 217) Man müsse aus Sicht der
Volksrechte – so Kölz – von einem «Teilzusammenbruch des politischen Systems»
sprechen.
Einige Beispiele: Um den Detailhandel zu schützen, wurde 1934 die Neueröffnung
von Warenhäusern verboten. Diese Massnahme war eindeutig gegen Gottlieb
Duttweiler gerichtet, der begonnen hatte, die Migros aufzubauen. Gottlieb
Duttweiler hätte als profilierte Persönlichkeit in Wirtschaft und Politik mit
Sicherheit dagegen das Referendum ergriffen. Es war ihm jedoch verwehrt, weil
diese Massnahme vom Parlament als dringlich eingestuft wurde. Mit demselben
Manöver wurden die Einfuhren von Waren beschränkt, die Zölle erhöht, die
Eidgenössische Darlehenskasse errichtet, Preise überwacht, private Bahnen und
Schiffsunternehmen subventioniert, die Uhren- und die Stickereiindustrie
unterstützt und vieles mehr. Die Beschlüsse waren zwar jeweils befristet,
wurden dann teilweise immer wieder erneuert. Gottlieb Duttweiler liess sich vom
behördlichen Verbot nicht entmutigen und fuhr mit mobilen Migros-Verkaufswagen
in die Gemeinden und städtischen Quartiere.
Der Bundesrat begründete seine Haltung 1937 im Ständerat wie folgt: «Die
Wirtschaftskrise von bisher ungeahntem Ausmass hat die Grundlage der Existenz
weiter Kreise der Bevölkerung erschüttert und das Fundament unserer Wirtschaft
untergraben, so dass eine schwere Gefahr unser Land bedroht. In derartigen
Zeiten müssen zur Erhaltung des Staatswesens ausserordentliche Massnahmen
getroffen werden. Es kommt alles darauf an, dass rasch und durchgreifend
gehandelt werden kann, ohne auf die Einhaltung aller normalen
verfassungsmässigen Wege verpflichtet zu werden.» (zit. in Kölz 2004, S. 827) Dies leuchtet ein. Um die
Rechtsstaatlichkeit zu wahren und die Volksrechte zu schützen, hätte jedoch in
der Verfassung ein Notstandsartikel mit einem klar geregelten Verfahren
eingeführt werden müssen.
Alarm in der Bevölkerung – zahlreiche Volksinitiativen
Als die Notrechtspraxis von Bundesrat und Parlament immer
grössere und krassere Ausmasse annahm, war die Bevölkerung alarmiert.
Zahlreiche Volksinitiativen wurden eingereicht. Die Politik «am Volk vorbei»
sollte gestoppt und dem Versuch, durch die Hintertüre die repräsentative
Demokratie einzuführen, sollte ein Riegel geschoben werden. Die Initianten
wurden unterstützt von einem Teil der Staatsrechtsprofessoren – allen voran der
Zürcher Zaccaria Giacometti. Die Liste der fünf Volksinitiativen, die alle
dieses Ziel verfolgten, beeindruckt, so dass ich sie im folgenden wiedergebe.
Die vielen Bürger, die Unterschriften sammelten, wollten das Notrecht zwar
nicht abschaffen, sondern so gestalten, dass die Volksrechte und die
Rechtsstaatlichkeit gewahrt blieben.
1934: Ein bürgerliches Komitee reicht die Volksinitiative
«Zur Wahrung der Volksrechte in Steuerfragen» erfolgreich ein. Der Bundesrat
stellte sie zurück – im Politjargon hiess dies, er schubladisierte sie. (Sie
wurde 1953(!) zurückgezogen, weil sie nicht mehr aktuell war.)
1936: Ein Komitee mit dem Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler
lancierte die Volksinitiative zur «Wahrung der verfassungsmässigen Rechte der
Bürger». Die Initiative wurde am 22. Januar 1939 vom Volk verworfen.
1936: Die kommunistische Partei der Schweiz sammelte
Unterschriften für die Initiative «Dringliche Bundesbeschlüsse und Wahrung der
demokratischen Volksrechte». Sie wurde am 20.02.1938 vom Volk deutlich
verworfen – vor allem darum, weil einzelne Passagen im Text marxistisch klangen.
So war die Rede vom «werktätigen Volk».
1938: Der Landesring der Unabhängigen – ebenfalls mit
Gottlieb Duttweiler – reichte die Volksinitiative «Notrecht und Dringlichkeit»
ein. Die Initiative wurde viele Jahre später zurückgezogen.
1938: Verschiedene Gruppierungen aus sozialdemokratischen
und gewerkschaftlichen Kreisen sammelten für die Initiative «Einschränkung der
Anwendung der Dringlichkeitsklausel» fast 300.000 Unterschriften (sechs Mal so viel wie nötig). Sie
verlangte, dass für dringliche, allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse ein
qualifiziertes Mehr im Parlament, das heisst Zweidrittel, zustimmen müssten und
ein solcher Beschluss nur drei Jahre in Kraft bleiben dürfte. Diese
Volksinitiative veranlasste den Bundesrat und das Parlament, einen Gegenvorschlag
auszuarbeiten und dem berechtigten Anliegen der Initianten ein Stück weit
entgegenzukommen. Dieser Gegenvorschlag setzte die Hürden für einen
Notrechtsbeschluss jedoch deutlich tiefer. Das Volk stimmte am 22. Januar
1939 ausschliesslich über diesen Gegenvorschlag ab und stimmte zu. Die
Volksinitiative selber wurde an diesem Tag jedoch nicht zur Abstimmung
vorgelegt, was vielleicht in der ungewissen Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg den
Bundesbehörden nicht allzu übel genommen werden darf. Die Initianten zogen sie
nach dem Krieg zurück.
Fazit: Von den fünf Volksinitiativen, die das Notrecht
reformieren wollten, kamen drei nicht zur Abstimmung, weil der Bundesrat diese
hinausschob beziehungsweise weil der Zweite Weltkrieg ausbrach. Die letzte
wurde 1953 zurückgezogen. Zwei Initiativen wurden verworfen. Nur ein zahnloser
Gegenvorschlag des Parlamentes wurde angenommen. Es zeigte sich, dass es gar
nicht so einfach war, eine überzeugende Rechtsgrundlage für das Notrecht zu
finden.
Sollen Richter den Verfassungskonflikt entscheiden?
Eine weitere Volksinitiative darf hier nicht weggelassen
werden. Ein Komitee mit etlichen Staatsrechtsprofessoren – darunter auch
Zaccaria Giacometti und Fritz Fleiner –schlug vor, ein Verfassungsgericht
einzurichten, um solche und ähnliche Konflikte zu klären. Ein Richterkollegium
sollte entscheiden, was dringlich sei und was nicht. Auch dieses Komitee
sammelte Unterschriften und reichte eine Volksinitiative ein. Sie kam am
22. Januar 1939 zur Abstimmung. Wir wollen keinen Richterstaat, war der
Tenor der Gegner. Gerade in Hitler-Deutschland könne man beobachten, wie
schnell sich Richter nach dem Zeitgeist ausrichten. Das Volk sei der beste
Hüter der Verfassung und der Grundrechte. Diese Aufgabe gehöre zum
Selbstbestimmungsrecht und zur Souveränität des Volkes. Man werde sie nicht aus
der Hand geben. Die Stimmbürger sagten sehr deutlich mit 71 Prozent nein
zu einem Verfassungsgericht. Ebenfalls nein sagten sämtliche Kantone.
Vollmachtenregime im Zweiten Weltkrieg
Im Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Situation weiter.
Am 30. August 1939 verabschiedete das Parlament einstimmig den
Vollmachtenbeschluss (Bundesbeschluss über Massnahmen zum Schutz des Landes und
zur Aufrechthaltung der Neutralität), der vor allem dem Bundesrat als Exekutive
weitreichende Vollmachten gab, kriegsnotwendige Massnahmen zu ergreifen und
sofort in Kraft zu setzen. Bundesrat und Parlament fassten in dieser Zeit gegen
600 Vollmachtenbeschlüsse – unter Ausschluss des Referendums. Vor allem
Zaccaria Giacometti verfolgte auch diese Praxis kritisch. Während im Ersten
Weltkrieg das Volk über die Einführung der sogenannten Kriegssteuer
(Einkommens- und Vermögenssteuer) noch abgestimmt und mit über 90 Prozent
zugestimmt hatte, führte im Zweiten Weltkrieg das Parlament die Wehr- und die
Warenumsatzsteuer Wust (die heutige direkte Bundessteuer und die
Mehrwertsteuer) ein, ohne das Volk zu fragen. Dem Volk stand jedoch noch das
Notventil der Verfassungsinitiative zur Verfügung. Die Bundesbehörden wagten es
trotz Vollmachtenregime nicht, Volksinitiativen zu ignorieren, weshalb auch
während des Krieges Unterschriften gesammelt wurden und Volksabstimmungen
stattfanden. So wurden zum Beispiel anfangs 1943, als in Stalingrad eine der
brutalsten Schlachten der Weltgeschichte tobte, in der Schweiz Unterschriften
zu zwei Volksinitiativen zum Thema «Recht auf Arbeit» gesammelt. Die Soldaten
im Aktivdienst halfen mit, dass die beiden Initiativen mit beeindruckender
Unterschriftenzahl zustande kamen und unmittelbar nach Kriegsende darüber
abgestimmt wurde.
Insgesamt hat die Bevölkerung die Einschränkung der Volksrechte während des
Krieges mehrheitlich als unumgänglich akzeptiert.
Rückkehr zur direkten Demokratie
Die Debatte über das Notrecht und die Wahrung der
Volksrechte lebte nach Beendigung des Krieges jedoch sofort wieder auf, weil
sich der Bundesrat und das Parlament dagegen wehrten, sofort auf das Notrecht
zu verzichten. Am 6. Dezember 1945 fasste die Bundesversammlung den
«Bundesbeschluss über den Abbau der ausserordentlichen Vollmachten des
Bundesrates». Darin wurde der Bundesrat ermächtigt, nur noch ausnahmsweise
dringliche Massnahmen zu beschliessen, die «wegen ihrer Dringlichkeit nicht auf
dem Weg der ordentlichen Gesetzgebung getroffen werden können». (Kölz 2004, S. 780) Der Begriff
«ausnahmsweise» weckte Misstrauen. Waadtländer Freisinnige und Liberale (Ligue
Vaudoise) lancierten wenige Wochen später die Volksinitiative «Rückkehr zur
direkten Demokratie» und reichten sie am 23. Juli 1946 ein. Ihr Text
verrät die Handschrift von Professor Zaccaria Giacometti, der Mitglied im
Initiativkomitee war. Der Text der Volksinitiative wurde in der Totalrevision
der Bundesverfassung von 1999 unverändert übernommen. Er lautet:
Art. 165
1 Ein Bundesgesetz, dessen Inkrafttreten keinen Aufschub
duldet, kann von der Mehrheit der Mitglieder jedes Rates dringlich erklärt und
sofort in Kraft gesetzt werden. Es ist zu befristen.
2 Wird zu einem dringlich erklärten Bundesgesetz die
Volksabstimmung verlangt, so tritt dieses ein Jahr nach Annahme durch die
Bundesversammlung ausser Kraft, wenn es nicht innerhalb dieses Jahres vom Volk
angenommen wird.
3 Ein dringlich erklärtes Bundesgesetz, das keine
Verfassungsgrundlage hat, tritt ein Jahr nach Annahme durch die
Bundesversammlung ausser Kraft, wenn es nicht innerhalb dieser Frist vom Volk
angenommen wird. Es ist zu befristen.
4 Ein dringlich erklärtes Bundesgesetz, das in der Abstimmung
nicht angenommen wird, kann nicht erneuert werden.
Die Initiative traf in «Bundesbern» auf keinerlei
Zustimmung. Der Nationalrat lehnte sie mit 84 zu 43 Stimmen deutlich
ab, ohne einen Gegenvorschlag auszuarbeiten. Der Ständerat verwarf sie gar mit
19 zu 1 Stimmen noch klarer. Alle vier Regierungsparteien sprachen
sich deutlich gegen das Volksbegehren aus. Am 11. September 1949 kam es
zur Volksabstimmung, und es kam zu einer Situation, die in der Schweiz nicht so
selten ist. Obwohl die gesamte Classe politique, das heisst alle grossen
Parteien, das Parlament und die Regierung, sich dagegen aussprach, sagten Volk
und Stände ja zur Initiative und beendeten damit die seit mindestens
20 Jahre andauernde, zermürbende Diskussion über den Schutz der direkten
Demokratie in schwierigen Zeiten. Diese Volksinitiative verankerte das Notrecht
in der Verfassung, das auch heute noch unverändert gilt. Sie ist ein
Meilenstein und mehr noch ein Leuchtturm in der Geschichte der direkten
Demokratie.
Zaccaria Giacometti – Würdigung einer grossen Persönlichkeit
Hervorzuheben und zu würdigen ist die Rolle von Zaccaria Giacometti
(1893–1970). Der Zürcher Staatsrechtsprofessor, der aus der bekannten Bergeller
Künstlerfamilie stammt, hat die Diskussion seit den 1920er Jahren wesentlich
mitgeprägt. Giacometti verstand sich als Wächter von Freiheit und Demokratie
und hat sich in seinen Werken immer wieder zur schweizerischen Eigenart
bekannt. Die Argumentation des Bundesrates (wonach die Umstände Notrecht
begründen) widerspreche den staatsrechtlichen Grundprinzipien der Schweiz. Er
sprach von der Zersetzung ihrer föderalistischen und demokratisch-liberalen
Staatsform.
Über zwanzig Jahre hatte sich Giacometti immer wieder mutig, laut und
vernehmlich für die direkte Demokratie eingesetzt und einen Verfassungsartikel
für das Notrecht gefordert, das die Volksrechte nicht aushebelt, sondern
einbezieht. Wenn höhere Staatsraison Notstandsrecht bedinge, so müsste das
Verfahren geregelt sein. Er sprach vehement von einer «chaotischen,
prinzipienlosen Praxis», die zu einem «Parlamentsabsolutismus», ja zu einer
«Parlamentsdiktatur» führe. Wieder und immer wieder warnte er vor dem
«Missbrauch» des Dringlichkeitsrechts. Giacometti sah die Ursache darin, dass
die Bundesbehörden letztlich dem Volk misstrauten und ihre Gesetze nicht durch
ein Referendum gefährdet wissen wollten. Die Behörden misstrauten letztlich dem
Volk. Das Referendum habe sich – so Giacometti – in unserer Staatspraxis
vollauf bewährt. Es habe die notwendige Anpassung an die Bedürfnisse nicht
verhindert. Das Referendum habe sich überdies «als Schutz der Kantone gegen
eine starke Zentralisierung» sowie als «Kitt der nationalen Einheit erwiesen».
Es sei «zweifelhaft, ob die Dringlichkeitspraxis vor dem Forum der Geschichte
bestehen» könne. Die Schweiz würde mit der Preisgabe der «genossenschaftlichen,
individuellen und politischen Freiheit ihren inneren Sinn verlieren. Damit
fiele aber für die Eidgenossenschaft der Grund zum Leben dahin, und sie wäre
infolgedessen auf die Länge wohl kaum mehr lebensfähig.»
Solche deutlichen Worte in einer Zeit, in der die Demokratie wenig geschätzt
wurde, müssen auch heute nachdenklich stimmen. Giacometti wurde in den 1950er
Jahren zum Rektor der Universität Zürich berufen.
(Mehr dazu: Giacometti Zaccaria, Staatsrecht der Kantone, Zürich 1940,
S. 552 f, S. 769, S. 776.
Alfred Kölz, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte S. 768ff. Andreas
Kley, Von Stampa nach Zürich – Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein
Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie.)
Lebendige demokratische Kultur
Eines muss hier angefügt werden: Giacometti konnte seine
massive Kritik an der Politik des Bundesrates und des Parlamentes äussern, ohne
behelligt zu werden. Die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit waren durch das
Notrecht nicht tangiert, was in diesen Zeiten überhaupt nicht
selbstverständlich war. Auch im Zweiten Weltkrieg gab es zwar Ansätze, die
Pressefreiheit einzuschränken, um die Machthaber in Berlin nicht zu
provozieren, wie der Bundesrat es begründete. Im allgemeinen blieb aber auch in
diesen Jahren die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit gewahrt.
Die rechtsstaatlich abgestützte Regelung des Notrechts – als Resultat der
Volksinitiative von 1949 – bedeutete einen grossen Lernschritt in der
Geschichte der direkten Demokratie. Diese grosse Tat wäre nie möglich gewesen,
hätten die Bürger und Bürgerinnen nicht immer wieder zum Ausdruck gebracht, wie
wichtig ihnen die Volksrechte sind. Die Zahl der Unterschriften, mit denen in
den 1930er Jahren die meisten Volksinitiativen eingereicht wurden, ist dafür
Beweis. Sie war oft ein Vielfaches der in der Verfassung verlangten Zahl. Wenn
es um die Erhaltung der direkten Demokratie ging, sammelte die gesamte
Bevölkerung mit – sogar die moskauhörigen Kommunisten und die auf Deutschland
ausgerichteten Frontisten. Selbst eine verlorene Abstimmung war schnell vergessen
und liess den interessierten Bürger bald an das nächste Projekt denken, mit dem
man in der Welt etwas bewegen wollte. – Dieses gemeinsame Anliegen erwies sich
als Klammer, die alle Bevölkerungskreise zusammenhielt und am gleichen Strick
ziehen liess. Dabei bewegt das «Unterschriftensammeln» die Menschen auch
gefühlsmässig. Man wird aktiv, spricht mit seinen Mitbürgern und versucht sie
zu überzeugen. Die Politik wird so zu etwas Lebendigem, an der die Menschen
unmittelbar beteiligt sind und Mitverantwortung tragen. Die Führer-Ideologie
Hitlers, die die Verantwortung zu 100 Prozent an eine übergeordnete Person
oder Instanz übertrug und den einzelnen Bürger zur absoluten Gefolgschaft
verpflichtete, hatte deshalb in der Schweiz nie eine Chance.
Wer die Debatte über die direkte Demokratie in den 1930er Jahren verfolgt,
denkt unweigerlich an die laufende Diskussion heute. Während die Behörden
damals immer wieder die schwierigen Zeitumstände vorbrachten, um ohne Volk oder
am Volk vorbei zu entscheiden, so sind es heute andere Argumente wie die
«Menschenrechte», das «Völkerrecht», die Verträge mit der EU und anderes mehr.
Es braucht auch heute viele Bürger, die sich mit Herzblut für die direkte
Demokratie einsetzen, wie es Zaccaria Giacometti damals über Jahrzehnte in
hervorragender Weise getan hatte.
Test für das neue Verfahren in der Hochkonjunktur
Die neue Regelung des Notrechts sollte in der Praxis bald
getestet werden und Zaccaria Giacometti noch erleben, wie Bundesrat und
Parlament zahlreiche notrechtliche Vorlagen nach dem neuen Verfahren
behandelten. Viele erwarteten 1949 eine Wirtschaftsentwicklung wie nach dem
Ersten Weltkrieg – mit Inflation und einer zögerlichen Erholung. Es kam ganz
anders. Ein nie dagewesener Wirtschaftsaufschwung trat ein, und die Behörden
waren bald mit den Exzessen einer boomenden Wirtschaft beschäftigt. In den
1960er Jahren waren im ganzen Land zeitweise weniger als 100 Personen als
arbeitslos registriert. Wer seine Stelle verlor, fand meistens innert Stunden
eine neue und konnte dabei unter zehn Angeboten auswählen. Überstunden wurden
zu einem Dauerzustand, der das Familienleben belastete. Ökonomen sprachen von
Konjunkturüberhitzung und von Überbeschäftigung. Hunderttausende von
ausländischen Arbeitskräften wurden zugezogen, um den Wirtschaftsmotor am
Laufen zu halten – zuerst aus Österreich, dann aus Italien und später aus
anderen südlichen Ländern. Die Wohnungsnot nahm zeitweise dramatische Ausmasse
an. Die gesamte Infrastruktur wie Strassen, Kanalisation, Schulen, der öffentliche
Verkehr und vieles mehr genügten den gestiegenen gesellschaftlichen Ansprüchen
und der stark wachsenden Wirtschaft bei weitem nicht mehr. Neue Schulen und
Kläranlagen mussten eingerichtet, der öffentliche Verkehr modernisiert, die
Autobahnen gebaut werden und vieles mehr. Die Behörden waren in hohem Masse
gefordert. Die Gewässerverschmutzung zum Beispiel war so schlimm geworden, dass
man im Zürich- oder im Luganersee gar nicht mehr baden konnte. Infolge der
steigenden Nachfrage im In- und Ausland stiegen auch die Preise massiv, so dass
die Inflation bedrohliche Ausmasse annahm und Ende der 1960er Jahre auf
12 Prozent jährlich anwuchs. Flucht- und Spekulationsgelder aus dem
Ausland verschlimmerten die Situation weiter.
Ganz ähnlich wie in den dreissiger Jahren griffen die Behörden wieder auf das
Notrecht zurück. Nur diesmal verlief es anders: Es kam zu zehn
Volksabstimmungen. Diesmal sollte nicht die Arbeitslosigkeit bekämpft, sondern
der heisslaufende «Wirtschaftsmotor» abgebremst und die Konjunktur gedämpft
werden. Bundesrat und Parlament erliessen zehn dringliche Bundesbeschlüsse, von
denen die meisten von der Verfassung nicht gedeckt waren, und es kam jedes Mal
nach kurzer Zeit zu einer Volksabstimmung:
Am 13.3.1964 erliess die Bundesversammlung zwei dringliche
Bundesbeschlüsse über die Bekämpfung der Teuerung durch Massnahmen auf dem
Gebiet des Geld- und Kapitalmarktes und des Kreditwesens sowie auf dem Gebiet
des Baumarktes. Die beiden Beschlüsse waren auf zwei Jahre befristet und wurden
am 28.2.1965 von Volk und Ständen gutgeheissen.
1964 wurde über einen Verfassungszusatz abgestimmt, der die
befristete Weiterführung der Preiskontrollen ermöglichte.
1971 verabschiedete die Bundesversammlung zwei dringliche
Bundesbeschlüsse – der eine zur Stabilisierung des Baumarktes und der andere
zum Schutz der Währung (der die Einführung von Negativzinsen für ausländische
Spekulationsgelder ermöglichte). Beide waren auf drei Jahre befristet und
wurden am 4.6.1972 von Volk und Ständen gutgeheissen.
Am 20.12.1972 verabschiedete die Bundesversammlung vier
dringliche Bundesbeschlüsse (die von der Verfassung nicht gedeckt waren) über
die Geld- und Kreditpolitik, über die Überwachung der Preise, Löhne und Gewinne
und über die Preisüberwachung. Diese vier Beschlüsse waren auf drei Jahre
befristet und wurden am 2.12.1973 ebenfalls von Volk und Ständen gutgeheissen.
Am 19.12.1975 verabschiedete das Parlament zwei dringliche
Bundesbeschlüsse (die von der Verfassung nicht gedeckt waren) wiederum über die
Geld- und Kreditpolitik und über die Preisüberwachung. Sie wurden am 5.12.1976
von Volk und Ständen gutgeheissen.
Goldene Jahre – zufriedene Schweizer
Die Demokratie funktionierte ausgezeichnet. Es gab
niemanden, der sich beklagte. Das Volk wurde zehnmal an die Urne gerufen und
segnete die Massnahmen von Bundesrat und Parlament jedes Mal ab. Die
Stimmbeteiligung sank zwar bei einzelnen Abstimmungen auf unter 30 Prozent
– weit entfernt von den 85 Prozent anlässlich der Abstimmung über die
Kriseninitiative im Jahr 1935. Der Schweizerin und dem Schweizer und auch den
Zugewanderten ging es eben mehrheitlich gut. Der Lohn stimmte. Die ständigen
Überstunden belasteten zwar das Familienleben. Annehmlichkeiten im Haushalt wie
Kühlschrank, Waschmaschine, für viele das erste Auto, der Fernsehapparat,
grössere Wohnungen und manches mehr machten das Leben einfacher. Mehr Ferien
und der Übergang zur Fünftagewoche veränderten das Leben ungefähr zu dem, wie
es heute ist. Wir, die Nachkriegsgeneration, kannten das Phänomen der
Arbeitslosigkeit nur noch aus den Erzählungen der Eltern und Grosseltern. Wir
hatten das Privileg, in einer ganz anderen Welt aufzuwachsen.
Im Rahmen dieser Artikelfolge verabschieden wir uns wieder von den goldenen
Jahren der Nachkriegszeit und gehen zurück in das Jahr 1937, als das
Friedensabkommen zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden der
Metallindustrie abgeschlossen wurde. Dieses Abkommen und zahlreiche
Volksabstimmungen im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise haben mitgeholfen,
den sozialen Frieden zu festigen – bis heute. Mehr dazu im nächsten
Beitrag. •
«Die Menschenrechte, das sind die Freiheitsrechte, sollen
die Freiheit und Würde der Menschen gegenüber der Staatsgewalt schützen, die
Entfaltung der Persönlichkeit ermöglichen und damit einen rechtlichen Damm
gegen die Aktualisierung der Staatsallmacht bilden. […] Ja, die Schweiz bildet
einen einzig dastehenden Fall von Demokratie, wo das Volk als Gesetzgeber
selbst Hüter der Menschenrechte ist, und sie erbringt damit in schönster Weise
den lebendigen Beweis der Existenzmöglichkeit eines echten, eines
freiheitlichen demokratischen Staates.»
aus der Festrede «Die Demokratie als
Hüterin der Menschenrechte»
von Rektor Zaccaria Giacometti anlässlich der 121. Stiftungsfeier der
Universität Zürich im Jahr 1954
Die Bedeutung der
direkten Demokratie als Sicherung des sozialen Friedens (Teil 4)
Das Friedensabkommen vom 19. Juli 1937 in der Maschinen- und
Metallindustrie
von Dr. rer. publ. W. Wüthrich
Ein kurzes Résumé zu Beginn: In Teil 1 dieser Artikelfolge
(Zeit-Fragen vom 26.5.2015) wurde aufgezeigt, wie sich in den letzten Jahren
des Ersten Weltkriegs die Spannungen zwischen der Arbeiterschaft und ihren
Organisationen und der politischen Führung der Schweiz immer mehr verschärften
und schliesslich im November 1918 der Generalstreik ausgerufen wurde. Nach
dieser Staatskrise haben zahlreiche Volksabstimmungen beigetragen, den sozialen
Frieden herzustellen.
Teil 2 (Zeit-Fragen vom 9.6.2015) ist zu den Wurzeln unserer
Wirtschaftsverfassung vorgedrungen und hat die Bedeutung der direkten
Demokratie für eine friedliche wirtschaftliche Entwicklung betont.
Teil 3 (Zeit-Fragen vom 23.6.2015) hat aufgezeigt, wie Bundesrat und Parlament
nach dem Ersten Weltkrieg die Volksrechte im Bereich der Wirtschaft allzuoft
über das Notrecht aushebelten und wie die Bevölkerung sich dagegen wehrte.
Teil 4 thematisiert nun das Friedensabkommen von 1937 zwischen den Verbänden
der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Metallindustrie und seine Bedeutung für
die Schweiz. Aber auch für jedes andere Land wäre eine solche Entwicklung
wünschenswert.
Vorgeschichte: Volksabstimmungen als Alternative zum
Klassenkampf
In der Schweiz haben die Arbeiter in den Monaten und Jahren
nach dem Generalstreik immer wieder erlebt, dass ihre Anliegen von der
Gesamtbevölkerung ernst genommen wurden und sie in den Abstimmungen obsiegten.
Die 48-Stunden-Woche und die Einführung des Proporzsystems (mit dem die
Sozialdemokraten ihre Sitze im Nationalrat verdoppeln konnten) sind Beispiele
dafür. Die Zahl der Streiks nahm ab und die Angelegenheiten der Arbeitswelt
wurden mehr und mehr über Gesamtarbeitsverträge geregelt. Der Streik blieb aber
bis weit in die Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre die Hauptwaffe der
Gewerkschaften.
Aber auch in dieser Zeit kam es zu zahlreichen Volksabstimmungen, in denen die
Arbeiter erlebten, dass ihre Anliegen von der Gesamtbevölkerung ernst genommen
wurden. Dazu zwei eindrückliche Beispiele: Der Bundesrat verfolgte damals die
Politik des «guten Hausvaters», der es vermeidet, Schulden zu machen, und die
Ausgaben auf die Einnahmen abstimmt. Weil die Steuern in der Krise eingebrochen
waren, wollte er die Löhne beim Bundespersonal herabsetzen. Zudem würden
tiefere Löhne ganz allgemein die Kosten senken und die Wettbewerbsfähigkeit der
Schweizer Produkte im Ausland stärken. Er begründete dies dem Personal
gegenüber wie folgt: Die Preise seien ja in der Deflation gesunken, und die
Kaufkraft des Geldes sei somit gestiegen, also könne man auch die Löhne senken.
Die Gewerkschaften waren begreiflicherweise damit nicht einverstanden,
ergriffen das Referendum, sammelten fast 300 000
Unterschriften (zehnmal mehr als verlangt). 80 Prozent der Stimmberechtigten
gingen am 28.5.1933 an die Urne, und die Gewerkschaften bekamen recht. Man beachte:
Selbst gegen die Lohnpolitik der Regierung konnte in der Schweiz damals das
Referendum ergriffen werden. Ein weiterer Erfolg kam hinzu. 1934 lancierten die
Gewerkschaften und die Sozialdemokraten eine Volksinitiative, die sogenannte
Kriseninitiative. Sie sammelten innert sechs Monaten achtmal so viele
Unterschriften wie verlangt und erlebten, dass gar 85 Prozent der
Stimmberechtigten an die Urne gingen. Ihre Volksinitiative wurde zwar
abgelehnt, erreichte aber eine hohe Zustimmung und hatte eine Wirkung auf die
spätere Reform der Wirtschaftsverfassung. Die Arbeiter erlebten auch in diesen
Jahren immer wieder, dass sie dazugehörten und dass Klassenkampf und
Klassendenken in der direktdemokratischen Schweiz nicht mehr nötig waren.
Friedensabkommen von 1937 – Vorgeschichte
Unmittelbar nachdem sich die Sozialdemokraten zur
militärischen Landesverteidigung bekannt hatten, ging Konrad Ilg, der Präsident
des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes SMUV, auf Ernst Dübi,
den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Schweizerische Maschinen- und
Metallindustrieller ASM, zu und schlug vor, die Beziehung zwischen den
Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden auf einen neuen Boden zu stellen. Konrad
Ilg, aufgewachsen im thurgauischen Salenstein, war ein Schlosser, der sich
leidenschaftlich für die Interessen der Arbeiter einsetzte. Schon als junger
Arbeiter organisierte er einen Streik für die Bauarbeiter und gründete in
Lausanne die Gewerkschaft der Metallarbeiter. Er studierte mit Vorliebe die
Schriften von Pierre Proudhon und des französischen Sozialisten Jaurès, dessen
tiefe Menschlichkeit ihn beeindruckte. 1909 wurde er als 32jähriger Sekretär
des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverbandes SMUV, 1917 – 8 Jahre
später – Präsident. 1918–1919 und 1922–1947 war er für die Sozialdemokraten im
Nationalrat.
1918 war Konrad Ilg Vizepräsident im Oltener Aktionskomitee, das den
Generalstreik organisierte. Seine späteren Stellungnahmen und Vorträge lassen
darauf schliessen, dass er hier mässigend auf allzu revolutionär gesinnte
Kollegen eingewirkt hat. Vor allem widersprach er marxistisch orientierten
Kollegen, die die Auffassung vertraten, dass zwischen Arbeit und Kapital ein
unüberbrückbarer Gegensatz bestehe. Das Gegenteil sei wahr, nämlich dass
zwischen beiden Gruppen eine wechselseitige Interessengemeinschaft bestehe. In
jedem Betrieb flössen die Mittel, die die Arbeiterschaft zum Leben brauche, und
die Mittel, die der Betrieb für seine Existenz und für seinen Aufbau benötige,
aus der gleichen Quelle – nämlich dem Verkauf der gemeinsam im Werk erzeugten
Produkte. Beide Seiten seien gleichermassen an einem erfolgreichen Verkauf
interessiert. Diese Einsicht sei um so wichtiger, weil die Schweiz die
Rohstoffe für ihre Industrieprodukte zur Gänze im Ausland kaufen müsse und
diesen Nachteil einzig mit einer höheren Qualität kompensieren könne. Alle –
Unternehmer, Arbeiter, Kader – müssten zusammenarbeiten und die
Leistungsfähigkeit des Betriebes sichern.
Mit dieser Einstellung ging Konrad Ilg in die Vertragsverhandlungen mit dem
Arbeitgeberverband. Sein Gegenüber war Ernst Dübi, Direktor von Von Roll in
Gerlafingen – in der Armee Oberst und Chef der Artillerie im
4. Armeekorps. Ernst Dübi wirkte seinerseits auf Veränderungen auf der
Arbeitgeberseite hin. Ihm war es ein Anliegen, dass mancher Arbeitgeber vom
«Herr im Haus»-Standpunkt abrückt. Diese sollten die typischen «Arbeitersorgen»
wie Lohn, Arbeitszeit, Ferien, Versicherungen und anderes nicht mehr defensiv
als überspannte Ansprüche einer Gegenpartei wahrnehmen, sondern in ihnen
wichtige Faktoren erkennen, die die Qualität der Produkte verbessern und die
Existenz des Unternehmens sichern.
Beide – Konrad Ilg und Ernst Dübi – leiteten einen Gesinnungswandel, mehr noch
einen Kulturwandel in der Beziehung zwischen Arbeitgebern und -nehmern ein.
Diese sollten sich nicht mehr als Über- und Untergeordnete in einer sozialen
und beruflichen Hierarchie gegenübertreten, sondern als Gleichberechtigte
begegnen und menschlich auf gleicher Stufe verkehren. Sie leiteten damit eine
Entwicklung ein, die bis heute anhält. Heute spricht niemand mehr von Arbeitern
und Angestellten – sondern von Mitarbeitern. Das Friedensabkommen von 1937 war
ein erster und grosser Schritt in diese Richtung. Es erleichterte das
Zusammenrücken in einer bedrohlichen Zeit. 1942 erhielten Konrad Ilg und Ernst
Dübi gemeinsam die Ehrendoktorwürde der Universität Bern.
Das Friedenabkommen wurde in der Bevölkerung mehrheitlich begrüsst. Nur die
Kommunisten hielten an ihrer Meinung fest, dass der Gegensatz zwischen
Lohnarbeit und Kapital unüberbrückbar sei. Dieses Abkommen wurde zum Modell für
zahlreiche Gesamtarbeitsverträge bis heute. In den folgenden 20 Jahren wurden
in allen Industriezweigen des Landes nicht weniger als 1500
Gesamtarbeitsverträge abgeschlossen, die alle die Verbesserung der
Lebensverhältnisse zum Inhalt hatten. Während in den Jahren vor dem Zweiten
Weltkrieg noch ungefähr 90 000
Arbeitstage pro Jahr wegen Streiks verlorengingen, sank diese Zahl in den
Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gegen null, obwohl es in der Hochkonjunktur
(in der die Auftragsbücher voll sind) eigentlich leichter wäre, mit einem
Streik Druck auf die Arbeitgeber auszuüben.
Bewährungsprobe für das Friedensabkommen nach dem Zweiten
Weltkrieg
Die Vertragspartner hatten in den Verhandlungen zum
Friedensabkommen abgemacht, nicht nur auf Streiks zu verzichten, sondern die
Fragen des Arbeitsverhältnisses vermehrt im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen
zu regeln – auch Fragen, die zuvor gesetzlich geregelt waren.
Gesamtarbeitsverträge waren flexibler als das Fabrikgesetz, man konnte
dezentral vorgehen und auch betriebliche und regionale Unterschiede
berücksichtigen – ganz nach dem Subsidiaritätsprinzip: Ins Gesetz gehören nur
Fragen, die die Sozialpartner nicht selber lösen können.
Zahlreiche Abstimmungen und Volksinitiativen haben im Vorfeld des
Friedensabkommens von 1937 die Annäherung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden
begünstigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste das Abkommen jedoch eine ernste
Bewährungsprobe bestehen. Ausgelöst wurde diese Krise ausgerechnet durch eine
Volksinitiative. Die damalige Partei des Landesrings der Unabhängigen lancierte
1954 eine Initiative zur Einführung der 44-Stunden-Woche. Sie sollte den
Einstieg in die 5-Tage-Woche ermöglichen. Die reguläre Arbeitszeit in der
Industrie betrug damals 48 Stunden an 6 Tagen. Gottlieb Duttweiler, Gründer und
Patron der Genossenschaft Migros, galt als Vater dieser Initiative, so dass
diese in den kommenden Auseinandersetzungen als «Duttweiler-Initiative»
bezeichnet wurde. Erstaunlich war, dass dieser Vorstoss zur
Arbeitszeitverkürzung von Arbeitgeberseite kam. Die Migros ist heute der grösste
Arbeitgeber in der Schweiz.
Duttweiler wollte die Bundesverfassung mit folgendem Satz ergänzen: «Die
ordentliche Arbeitszeit in den Fabriken darf 44 Stunden nicht
überschreiten. […] Die Vorschrift hat ein Jahr nach der Annahme durch die
Volksabstimmung in Kraft zu treten.» Das Fabrikgesetz hätte nach einer Annahme
entsprechend geändert werden müssen. Duttweiler knüpfte hier als Arbeitgeber an
eine lange Tradition der Arbeiterbewegung an, die so oft am 1. Mai für den
8-Stunden-Tag demonstriert hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte das Volk
zweimal über die 48-Stunden-Woche im Fabrikgesetz abgestimmt und beide Male mit
Ja. Die Duttweiler-Initiative fügte sich scheinbar nahtlos in diese Tradition
ein, stiess jedoch beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB auf keine
Gegenliebe. Walter Steiner, SGB-Präsident, wies sein Ansinnen zurück. Die
Zeiten hätten sich seit Abschluss des Friedensabkommens geändert.
Walter Steiner war ein enger Mitarbeiter von Konrad Ilg und hatte mit ihm 1937
die Verhandlungen über das Friedensabkommen geführt. Nun sagte Steiner nein zur
Einladung von Gottlieb Duttweiler, sich an der Unterschriftensammlung zu
beteiligen, und präzisierte: Das sei kein Nein zur 44-Stunden-Woche, sondern
ein Nein zu einer zentralistischen, einheitlichen Lösung. Die 44-Stunden-Woche
könne nicht mehr von oben mit staatlichem Zwang über eine Gesetzesänderung
herbeigeführt werden. Die Gewerkschaften würden in der Tradition des
Friedensabkommens Verhandlungen führen, die das Ziel erreichen würden – auch
wenn dies mehr Zeit beanspruche als eine Gesetzesänderung. Dieser Weg sei viel
flexibler und würde die unterschiedlichen Verhältnisse in den verschiedenen
Branchen und Betrieben berücksichtigen. Das sei der Weg, den die Gewerkschaften
1937 gemeinsam mit den Arbeitgebern beschlossen hätten und an dem sie
festhalten würden.
Die Frage war nun: Würden die Stimmbürger, also auch die Gewerkschafter, in der
Volksabstimmung dem Weg über die Gesamtarbeitsverträge zustimmen und die
Verfassungs- und Gesetzesänderung ablehnen, die wahrscheinlich schneller zum
Ziel führen würde? Die Arbeitgeber sprachen damals lieber über Lohnerhöhungen
als über die Verkürzung der Arbeitszeit, waren doch die Auftragsbücher damals
übervoll und die Zahl der zulässigen Überstunden ausgereizt. Der freie Samstag
war aber für viele sehr verlockend. – Der Ausgang dieser Abstimmung würde
Weichen stellen. Ein Ja hätte sofort neue Volksinitiativen zur Folge gehabt,
die auf diesem Weg die Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer hätten
verbessern wollen.
SGB-Präsident Walter Steiner musste gegen einige Widerstände vor allem in den
eigenen Reihen ankämpfen, bis die Delegiertenversammlung des
Gewerkschaftsbundes die Nein-Parole für die Abstimmung beschloss. Das Volk gab
Steiner jedoch recht – und lehnte am 26.10.1958 die Duttweiler-Initiative mit
65 % Nein-Stimmen klar ab. In
diesem Ergebnis kam zum Ausdruck, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung den
Weg des SGB-Präsidenten unterstützte und sich bewusst war, was das
Friedensabkommen für die Schweiz bedeutet. Die Arbeitszeit wurde trotz des
Volks-Neins in den Jahren nach 1958 in unterschiedlichem Tempo weiter verkürzt
und die 5-Tage-Woche eingeführt – aber eben freiwillig und flexibel im Rahmen
der Gesamtarbeitsverträge und nicht von oben mit staatlichem Zwang.
Weichenstellung für die Zukunft
Die Abstimmung vom 26.10.1958 hat die Tradition des
Friedensabkommens gefestigt. Es kam und kommt zwar immer wieder vereinzelt zu
Streiks und auch zu Volksinitiativen, die kürzere Arbeitszeiten, längere Ferien
und auch andere gewerkschaftliche Forderungen wie Mitbestimmung oder
Mindestlohn auf gesetzlichem Wege durchsetzen wollen – bis heute. Das Volk
stimmte aber immer wieder nein. 1976 lehnte es die 40-Stunden-Woche mit 78 % Nein ab. Im gleichen Jahr
fanden zwei Abstimmungen statt, die dem Bund die Kompetenz gegeben hätten,
Vorschriften über die «Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen
in Betrieb, Unternehmung und Verwaltung» zu erlassen. Das Volk sagte nein zur
Volksinitiative und auch nein zum Gegenvorschlag des Parlaments. 1985 sagte es
mit 65 % nein zur Verlängerung der
Ferien auf vier Wochen für jüngere und auf fünf für ältere Arbeitnehmer. 1988
sagte das Volk mit 64 % erneut
nein zur 40-Stunden-Woche. 2002 stimmte das Volk mit 75 %
nein zu einer flexiblen Reduktion der Arbeitszeit auf 1872 Stunden im Jahr –
was im Durchschnitt einer 36-Stunden-Woche entsprochen hätte. 2012 – vor drei
Jahren – sagten 67 % der
Stimmenden nein zur Initiative «6 Wochen Ferien für alle», und 2015 sagte das
Volk wiederum nein zu einem gesetzlich festgelegten Mindestlohn.
Die Abstimmungsergebnisse über die Arbeitszeit wurden vor allem im Ausland
gelegentlich so interpretiert, dass die Schweizerinnen und Schweizer eben
fleissig seien und lieber Arbeit und mehr Verdienst als mehr Freizeit oder
Ferien hätten. – Das stimmt so nicht ganz. Das Nein war immer auch ein Ja zur
Tradition des Friedensabkommens von 1937. Jede Abstimmung hat diese Tradition
bestätigt und verfestigt – so dass sie heute zu einer festgefügten, im Volk
verankerten Institution geworden ist. Eine Rückkehr zur Kultur vor 1937 – mit
Streiks und einheitlichen, gesetzlichen Regelungen – erscheint heute fast
unmöglich – (obwohl die Reden der heutigen Gewerkschaftsführer manchmal anders
klingen). Dabei ist es nicht so, dass die Arbeitszeit und die Ferien gesetzlich
gar nicht erfasst werden. Sie sind seit einigen Jahrzehnten im Arbeitsgesetz
und im OR geregelt – aber nur als Minimalstandard, der Raum lässt für
weitergehende Lösungen in den Gesamtarbeitsverträgen. Und dies ist auch
geschehen auf vielfältige Art und Weise.
Die Tradition des Friedensabkommens entspricht dem Schweizer Modell: Die
Bevölkerung bevorzugt dezentrale und freiheitliche Lösungen, die die
vielfältigen regionalen und kulturellen Unterschiede berücksichtigen. Auch
werden die Bürgerinnen und Bürger selber aktiv und suchen Lösungen und Wege, so
dass eine gesetzliche Regelung gar nicht nötig ist.
Nach diesen Ausführungen über das Friedensabkommen von 1937 kehren wir im
fünften Teil dieser Artikelfolge erneut zurück in die 1930er Jahre, wo es in
der Krise um drängende Fragen der Ökonomie und um eine grundlegende Reform der
Wirtschaftsverfassung von 1874 ging. Diskutiert wurden Fragen wie: Sollen wir
an der liberalen Wirtschaftsverfassung festhalten? In welchem Ausmass muss die
Wirtschaft stärker vom Staat geführt und gelenkt werden? In welchem Ausmass
können sich die Bürgerinnen und Bürger in der Krise selber helfen, indem sie
sich zusammenschliessen, Genossenschaften bilden und selber nach Wegen aus der
Krise suchen? Alles Fragen, die auch heute aktuell sind. – Bei diesen Debatten
ging es immer auch um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Sicherung des
sozialen Friedens. Vier Volksinitiativen spielten damals eine ganz zentrale
Rolle. Dazu mehr in Teil 5 dieser Artikelfolge. •
Quellen:
Historisches Lexikon der Schweiz
David Lasserre. Schicksalsstunden des Föderalismus, 1963 (Originaltitel
«Etapes du Fédéralisme»)
Werner Wüthrich. Ökonomische, rechtliche und verbandspolitische Fragen
der Arbeitszeitverkürzung in der Hochkonjunktur in der Schweiz und in
Österreich (Diss. 1987)
Wolf Linder, Christian Bolliger, Yvan Rielle. Handbuch der eidgenössischen
Volksabstimmungen 1848–2007, 2010
Diverse Schriften zum Genossenschaftswesen
Inhalt des Friedensabkommens
Die Einleitung des Vertrages lautete: «Im Bestreben, den im
Interesse aller an der Erhaltung und Fortentwicklung der schweizerischen
Maschinen- und Metallindustrie Beteiligten liegenden Arbeitsfrieden zu wahren,
verpflichten sich (der Arbeitgeberverband und die Arbeitnehmerverbände),
wichtige Meinungsverschiedenheiten und allfällige Streitigkeiten nach Treu und
Glauben gegenseitig abzuklären, nach den Bestimmungen dieser Vereinbarung zu
erledigen und für ihre ganze Dauer unbedingt den Frieden zu wahren.
Infolgedessen gilt jegliche Kampfmassnahme wie Sperre, Streik oder Aussperrung
als ausgeschlossen […].» Weitere Bestimmungen: Lohnverhandlungen sollten im
Einzelbetrieb und nicht für eine ganze Branche geführt werden. Konflikte
sollten in einem mehrstufigen Verfahren gelöst werden: zuerst im Betrieb, dann
in den Verbänden und drittens in einer paritätisch zusammengesetzten
Schlichtungsstelle von beidseitig akzeptierten Vertrauenspersonen – und zwar
ohne Beizug der Politik und von staatlichen Stellen.
Die Bedeutung der direkten Demokratie zur Sicherung des
sozialen Friedens (Teil 5)
Volksrechte als Instrument und Wegweiser in der
Wirtschaftskrise
von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich
Ein kurzes Résumé zu Beginn: In Teil 1 dieser
Artikelfolge (Zeit-Fragen Nr. 14
vom 26.5.2015) wurde aufgezeigt, wie sich in den letzten Jahren des Ersten
Weltkriegs die Spannungen zwischen der Arbeiterschaft und ihren Organisationen
und der politischen Führung der Schweiz immer mehr verschärften und
schliesslich im November 1918 der Generalstreik ausgerufen wurde. Nach
dieser Staatskrise haben zahlreiche Volksabstimmungen beigetragen, den sozialen
Frieden herzustellen.
Teil 2 (Zeit-Fragen Nr. 15/16
vom 9.6.2015) ist zu den Wurzeln unserer Wirtschaftsverfassung vorgedrungen und
hat die grosse Bedeutung der direkten Mitsprache des Volkes in
Wirtschaftsbelangen für die Entwicklung der Volkswirtschaft und für die
Bewahrung des sozialen Friedens untersucht.
Teil 3 (Zeit-Fragen Nr. 17
vom 23.6.2015) hat aufgezeigt, wie Bundesrat und Parlament nach dem Ersten
Weltkrieg die Volksrechte im Bereich der Wirtschaft allzuoft über das Notrecht
aushebelten und wie die Bevölkerung sich dagegen wehrte.
Teil 4 (Zeit-Fragen Nr. 19/20
vom 21.7.2015) hat das Friedensabkommen von 1937 in der Maschinen- und
Metallindustrie und seine Bedeutung für die Schweiz dargestellt.
Teil 5 zeigt die Bedeutung der Volksrechte als Instrument zur
Krisenbewältigung und zum Erhalt des sozialen Friedens in der schweren
Wirtschaftsdepression der 1930er Jahre. Auch damals ging die Krise von den USA
aus.
Am 25. Oktober 1929 lösten Kursstürze an der New Yorker
Börse eine Weltwirtschaftskrise aus, die viele Jahre andauern sollte. Die
Schweiz war ebenfalls stark betroffen. Das Volkseinkommen brach um
20 Prozent ein. Die Zahl der Arbeitslosen stieg bis 1935 auf 120 000 an – etwa
7 Prozent der Erwerbstätigen, für die Schweiz eine ausserordentlich hohe
Zahl. Lediglich 30 Prozent der Erwerbstätigen waren gegen Arbeitslosigkeit
versichert. Die Hauptlast der Arbeitslosenunterstützung lag bei den Gemeinden
und Kantonen. Nicht wenige Menschen litten gar Hunger. Städte richteten
Suppenküchen und Notunterkünfte ein. Das Ausmass der globalen ökonomischen
Krise stellte alle bisherigen Krisen in den Schatten. Die Produktion der
wichtigsten Industrieländer schrumpfte um 30 bis 50 Prozent. 1932 war
der gesamte Welthandel nur noch ein Drittel so gross wie 1929. Die Schweiz war
schon damals stark exportorientiert und deshalb stark betroffen, wenn auch die
Arbeitslosigkeit von 7 Prozent im internationalen Vergleich niedrig war.
Immer weniger Touristen besuchten das Land. Die Löhne und die Steuereinnahmen
des Bundes sanken. Jedermann stellte sich die Frage, was nun und was tun?
Debatte unter Ökonomen: Drei Tendenzen
Angesichts der desolaten Wirtschaftssituation in vielen
Ländern wurde der klassische Liberalismus, der der Wirtschaft viel Freiheit
beliess, mehr und mehr in Frage gestellt. Wenn man von der kommunistischen
Planwirtschaft in der Sowjetunion absieht, waren drei grosse Tendenzen zu beobachten
– der Liberalismus beziehungsweise der Neoliberalismus (als erneuerter
Liberalismus), eine Denkrichtung, die sich am englischen Ökonomen John Maynard
Keynes orientierte und eine Politik, die Berufsständen oder
Berufsgenossenschaften als Kollektiv mehr Gewicht geben wollte.
Liberale Ökonomen vertraten die Auffassung, die unerwartet aufgetretene Krise
mache es notwendig, den Ordnungsrahmen für die Wirtschaft neu zu überdenken und
krisentauglich zu machen. Manches müsse geändert werden, neue krisentaugliche
Regeln seien nötig, und der Staat müsse in der Lage sein, sie durchzusetzen. Am
Kern beziehungsweise am Grundsatz einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung
hielten sie jedoch fest. Deutsche Ökonomen wie Alexander Rüstow, Walter Euken
und andere prägten an der Jahrestagung des Vereins für Sozialpolitik im Jahr
1932 für diese erneuerte Art des Liberalismus den Begriff «neoliberal», der
heute oft ganz anders verwendet wird – nämlich als Inbegriff für einen
ungezügelten Kapitalismus. Der Verein für Sozialpolitik, der 1873 gegründet
worden war, führte regelmässig Tagungen durch und ist mit Namen von zahlreichen
bekannten Wissenschaftlern verbunden wie Max Weber und Walter Sombart.
Etwas anders als die liberalen Ökonomen argumentierte John Maynard Keynes. Die
Wirtschaft brauche eine feste Führung. Der Staat müsse das Kommando übernehmen
und energisch eingreifen. Fehlentwicklungen – wie zum Beispiel die hohe
Arbeitslosigkeit – hätten Ausmasse angenommen, so dass von allein gar nichts
mehr gehe und nur noch der Staat helfen könne. Dieser müsse planmässig und
systematisch vorgehen – zum Beispiel auch mit Arbeitsbeschaffungsprogrammen.
Der Staat soll sich antizyklisch verhalten, das heisst, er soll in der Krise
mit Mehrausgaben die Nachfrage stärken und die Wirtschaft ankurbeln. Dazu sei
es angebracht, sich zu verschulden und auch die Notenpresse massiv einzusetzen.
Keynes prägte das Bild von einer Regierung, die als Steuermann die Wirtschaft
lenkt, die Arbeit plant und für soziale Gerechtigkeit sorgt. Inbegriff dieser
Politik war das Programm des US-Präsidenten Roosevelt, der mit seiner
New-Deal-Politik gegen die massive Krise in den USA ankämpfte, wo die
Arbeitslosigkeit zeitweise bis gegen 25 Prozent anstieg.
(G. Braunberger, Keynes für jedermann, 2009)
Der Unterschied in der Betrachtungsweise liegt im Menschenbild. Liberale
Ökonomen wie zum Beispiel Wilhelm Röpke trauten den Menschen mehr zu, dass sie
in der Lage seien, sich selber zu organisieren, selber nach neuen Wegen zu
suchen und diese auch autonom beschreiten könnten. Ein staatliches Eingreifen
im Übermass sei schädlich und würde ihre Initiative und ihren Forscher- und
Unternehmergeist lähmen. Der Mensch sei in seiner Individualität so vielfältig
und seine Möglichkeiten im sozialen Verbund so immens, dass keine Regierung in
der Welt in der Lage sei, das komplexe Geschehen wirklich zu erfassen. Eine
grossräumige, zentralistische «Feinsteuerung» der Wirtschaft von oben – wie sie
von «Keynesianern» oft versucht werde – sei deshalb schlicht unmöglich und
werde den Menschen nicht gerecht (von Hayek). Sie schade oft mehr als sie
nütze. Wer den Rezepten von Keynes folge, für den bestehe Gefahr, dass die
Verschuldung in unkontrollierbare Höhen ansteige und das Geldwesen aus den
Fugen gerate. Zwar sei es nötig, Rahmenbedingungen festzulegen und klare Regeln
zu erlassen und diese möglichst kleinräumig auf die Bedürfnisse der Bevölkerung
abzustimmen (Wilhelm Röpke). Ebenso brauche es einen starken Staat, der sie
durchsetze. Ebenso brauche es einen gewissen sozialen Ausgleich und ein
«Auffangnetz». Andererseits müsse sich die Regierung bescheiden und sich
zurückhalten, um den Menschen vermehrt die Chance zu geben, selber aktiv zu
werden, sich zusammenzuschliessen und neue Wege zu suchen. Auch in der Krise
gelte es, auf die positiven Kräfte in den Menschen abzustellen.
Niedergang und Renaissance der liberalen Ökonomen
Im Verlauf der 1930er Jahre wurden die liberalen Stimmen
unter den Ökonomen immer leiser, bis sie fast ganz verstummten. Der deutsche
Verein für Sozialpolitik löste sich 1935 selber auf, um der Eingliederung in
eine nationalsozialistische Organisation zuvorzukommen. (Er wurde nach dem
Krieg neu gegründet und existiert heute noch.) John Maynard Keynes beherrschte
das Feld unter den Ökonomen und in der Politikberatung fast vollständig. Sein
Denken hat bis heute grossen Einfluss. Die Frage der Staatsverschuldung ist
allerdings im Verlaufe der Jahrzehnte in vielen Ländern zu einem fast
unlösbaren Problem angewachsen.
1938 traf sich ein ganz kleines Grüppchen von liberalen Ökonomen aus
verschiedenen Ländern im Walter-Lippmann-Kolloquium in Paris und diskutierte
über Wege, den Liberalismus wieder zu neuem Leben zu erwecken und inhaltlich zu
erneuern. Die Deutschen Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Walter Euken und die
Österreicher Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek waren dabei. Der
Liberalismus brauche neue Regeln und einen starken Staat, der sie durchsetze,
war auch ihr Credo. Die Diskussion drehte sich auch hier um einen neuen Namen.
«Sozialer Liberalismus» und «positiver Liberalismus» wurden vorgeschlagen. Wie
bereits sechs Jahre zuvor im Verein für Sozialpolitik einigten auch sie sich
auf die Bezeichnung «Neoliberalismus». (Thomas Sprecher, Schweizer Monat 2013,
S. 84) Die Zeit für den neuen Liberalismus sollte nach dem Zweiten
Weltkrieg kommen – in verschiedenen Schattierungen. In Deutschland waren es
neben den Genannten Alfred Müller-Armack und Ludwig Ehrhard, die mit ihren
Ideen die soziale Marktwirtschaft und das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit
prägten, und deren Denken heute als «Ordoliberalismus, «Freiburger Schule» oder
als «Rheinischer Kapitalismus» bezeichnet wird.
Mit Volksinitiativen gegen die Wirtschaftskrise
In der Schweiz hatte die Diskussion um eine neue,
krisentaugliche Wirtschaftspolitik schon zu Beginn der dreissiger Jahre
eingesetzt. Sie war weniger theoretisch, sondern mehr praxis- und
lösungsorientiert, wie es dem direktdemokratischen Modell entspricht. In
welchem Ausmass soll der Bund aktiv werden, die Wirtschaft von oben lenken und
die Wirtschaftsabläufe planen? Gilt es vermehrt Lösungen zu suchen, die die
individuelle Freiheit geringer gewichten, und die stärker das Kollektiv betonen
– wie zur Zeit der Zünfte? Oder soll sich der Staat weiterhin bescheiden und im
liberalen Sinn darauf beschränken, klare Regeln zu setzen und den Menschen Raum
für Selbsthilfe und Eigeninitiative geben? Kurz: Es ging um grundlegende Fragen
der Wirtschaftspolitik und letztendlich um eine Reform der Wirtschaftsartikel
in der Bundesverfassung. Es verstand sich in der direktdemokratischen Schweiz
von selbst, dass sich bald engagierte Bürger mit Volksinitiativen zu Wort
meldeten. Das war auch der Fall: Insgesamt vier Initiativkomitees legten in den
dreissiger Jahren und im Zweiten Weltkrieg Vorschläge auf den Tisch, wie die
Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung zu reformieren seien.
Es gab wohl selten einen Moment in der neueren Geschichte der Schweiz, wo sich
die Bevölkerung so intensiv mit der Frage beschäftigte, wie eine «weise
Politik» oder wie «weise Polizeigesetze» aussehen müssten, um die aus den
Fugen geratene Wirtschaft wieder ins Lot zu bringen. Thomas Bornhauser hatte
diesen Begriff im 19. Jahrhundert geprägt. (vgl. Teil 2 der
Artikelfolge vom 9.6.2015)
Volksinitiative der Gewerkschaften zur «Bekämpfung der
Wirtschaftskrise» (Kriseninitiative)
Die Sozialdemokraten und Gewerkschaften forderten 1934 eine
Politik ganz nach keynesianischem Vorbild. Sie wollten in ihrer Volksinitiative
dem Bund auf zahlreichen Gebieten weitreichende Kompetenzen geben und
zahlreiche Aufgaben übertragen, um die Krise «planmässig und systematisch» zu
bekämpfen (Nationalrat Obrecht, SP-Präsident). Die Sozialdemokraten hatten in
ihrem Programm einen «Plan der Arbeit». Die Wirtschaftspolitik des Bundesrates
und des Parlaments sollte sich grundlegend ändern. So sollten die Behörden für
Preis- und Lohnstabilität sorgen, ein Minimaleinkommen garantieren,
Arbeitsbeschaffungsprogramme initiieren, Landwirtschaft, Industrie und
Fremdenverkehr fördern, den Kapitalmarkt regulieren und den Kapitalexport sowie
Kartelle und Trusts kontrollieren und manches mehr. Dazu könnte der Bund – so
die Volksinitiative – vom Grundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit abweichen
und sich verschulden. Die Massnahmen wären auf fünf Jahre befristet und müssten
danach erneuert werden.
Diese Volksinitiative war in verschiedener Hinsicht einzigartig: Sie wurde am
15. Mai 1934 lanciert, bereits am 30. November des gleichen Jahres
mit rekordhohen 334 699 Unterschriften
eingereicht (50 000 Unterschriften
waren verlangt) und von Bundesrat und Parlament nach nur sechs Monaten, am
2. Juni 1935 ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung gebracht. Die
Stimmbeteiligung an diesem Tag betrug rekordhohe 84,4 Prozent, was zeigt,
wie sehr die Wirtschaftskrise die ganze Bevölkerung beschäftigte. Aus Sicht der
Volksrechte war sie jedoch problematisch. Die Bundesversammlung hätte die
vielen Gesetze (die zur Umsetzung notwendig gewesen wären) «endgültig», das
heisst unter Ausschluss des Referendums erlassen. Die Wirtschaftsverfassung der
Schweiz hätte also ihren direktdemokratischen Kern verloren, der es bisher
erlaubte, die Gesetze in einem hohen Masse auf die Bedürfnisse der Bevölkerung
abzustimmen. Die Wirtschaftsverfassung hätte einen «dirigistischen Charakter»
bekommen. (Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, 2004
S. 754) Zudem hätte sich der Bund stark verschulden und die Verwaltung
massiv aufstocken müssen, um die vielen Aufgaben auch nur annähernd bewältigen
zu können. Das Parlament und auch die Bevölkerung waren – wie bei kaum bei
einer anderen Initiative – stark gespalten.
Am 2. Juni 1935 gingen fast alle an die Urne. 57,2 Prozent stimmten
mit Nein. Auch in 18 der 22 Kantone gab es eine ablehnende Mehrheit.
Der Wunsch, auch in Wirtschaftsfragen an der direkten Demokratie festzuhalten,
hat wahrscheinlich den Ausschlag gegeben, dass die Initiative deutlich
abgelehnt wurde. Aber der Ja-Anteil von über 40 Prozent war hoch. Viele
haben sich wohl von der Hoffnung leiten lassen, dass der Staat es richten werde.
Korporativer Ständestaat statt Parlament und Volk
Die Kriseninitiative der Gewerkschaften war jedoch nicht
allein. Es gab fast gleichzeitig eine zweite Initiative, die ebenfalls die
Wirtschaft in der Verfassung auf einen neuen Boden stellen wollte. 1934
lancierten katholisch-konservative Kreise und Jungliberale eine
Volksinitiative, die eine berufsständische Wirtschaftsordnung einrichten
wollte, die sich in manchen Punkten von der liberalen Wirtschaftsauffassung
unterschied. Weil die Initianten aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern
kamen, konnten sie sich nicht auf einen gemeinsamen Text einigen, wählten die
Form der «Allgemeinen Anregung» (Initianten geben nur die Richtung vor und
überlassen die genaue Formulierung dem Parlament) und arbeiteten individuell
verschiedene Verfassungsentwürfe aus.
Die Bewegung wurde geschwächt, weil sich auch Frontisten daran beteiligten, die
in vielen Punkten antidemokratische Ansichten vertraten. Für die Jungliberalen,
die bereits einen Entwurf ausgearbeitet hatten, war dies Grund, die 30 000 gesammelten
Unterschriften nicht einzureichen, um nicht zusammen mit der Nationalen Front
genannt zu werden. Die Volksinitiative kam trotzdem zustande. Die Nationale
Front als bekannteste Organisation der Frontisten war keine Massenpartei und
befand sich bereits 1934 im Niedergang. Sie beteiligte sich, um ihr Ansehen
aufzubessern und ohne selber einen konkreten Vorschlag zu machen. Es gelang ihr
nicht. 1935 hatte sie lediglich noch einen einzigen Nationalrat und verlor ständig
Mitglieder. Im Zweiten Weltkrieg wurden ihre Zusammenkünfte verboten. (Walter
Wolf, Faschismus in der Schweiz, 1969; A. Gebert, Die jungliberale Bewegung der
Schweiz 1928–1938, 1981))
1935 stellte die Katholisch-Konservative Partei ihren Verfassungsvorentwurf
vor: Berufsverbände sollen als Kollektiv an Stelle des Parlamentes anstehende
Fragen regeln. Die damals 600 Berufsverbände sollten in sieben
Branchenverbänden zusammengefasst werden:
1. Landwirtschaft, 2. Industrie, 3. Gewerbe, 4. Handel,
Banken und Versicherungen, 5. Gastwirtschaften, 6. Verkehr und
7. Freie Berufe. Diese würden Delegierte in die Schweizerische
Wirtschaftskammer entsenden, die an Stelle des Parlamentes Gesetze erlassen
könnte. (Kölz 2004, S. 755) Unterstützung erhielten die Initianten durch die
katholische Soziallehre: Papst Pius XI empfahl zeitgleich mit dem
Aufkommen der kommunistischen Parteien in Europa eine Politik der sozialen
Gerechtigkeit, die die Arbeit mit dem Kapital versöhnt. Auch er sah die Lösung
in einer berufsständischen Wirtschaftsordnung. So hiess es in der Enzyklika
«Quadragesimo anno» von 1931: «So wenig die Einheit der menschlichen
Gesellschaft auf die Gegensätzlichkeit der Klassen gründen kann, so wenig kann
die rechte Ordnung der Wirtschaft dem freien Wettbewerb anheim gestellt
werden.»
Der Trend zum berufsständischen Staat war damals gesamteuropäisch zu beobachten
und solche Ideen wurden in den meisten schweizerischen Parteien diskutiert.
Selbst der Verfassungsentwurf der Jungliberalen Bewegung der Schweiz sah einen
«Wirtschaftsrat» vor, der allerdings nur mit konsultativen Befugnissen
ausgestattet war. Auch in den Reihen der Sozialdemokraten gab es solche
Stimmen. Das vom Volk gewählte Parlament und die Volksrechte hätten an
Bedeutung verloren.
Das berufsständische Wirtschaftsmodell hätte die liberale Wirtschaftsordnung in
ihrem Kern verändert und zu einem autoritären Staat geführt. So äusserte sich
Bundesrat Schulthess am 11. Oktober 1933 im Ständerat wie folgt:
«Korporationen, wie manche sie erträumen, führen […] zur Diktatur und zur
Gleichschaltung; und will man eine solche weitgehend berufständische Ordnung,
dann muss man auch die Allmacht des Staates mitschlucken.» Selbst die
Arbeiterschaft habe dem Bundesrat geschrieben, eine berufsständische Ordnung rieche
«nach Faschismus und davon wollen wir nichts wissen». (zit. in Kölz, 2004, S.
766)
Die Volksinitiative der Katholisch-Konservativen wurde am 8. September
1935 mit 72,3 Prozent der Stimmen abgelehnt. In den katholischen Kantonen
Wallis, Freiburg, Appenzell Innerrhoden und Obwalden wurde sie angenommen –
aber auch nur mit knappen Mehrheiten.
Der Vorschlag, Berufsverbände zu bilden und sie in die Gesetzgebung
einzubeziehen, war nicht neu. Bereits 1894 hatte das Volk über einen Artikel in
der Bundesverfassung abgestimmt. Es war geplant, ein eidgenössisches
Gewerbegesetz zu erlassen, das es ermöglicht hätte, Berufsgenossenschaften zu
bilden, die an Stelle des Parlaments gesetzliche Vorschriften hätte erlassen
können. Das Volk stimmte im Jahr 1894 mit 54 Prozent nein.
1935 – Das Volk stellt die Weichen für die direkte
Demokratie
Das Jahr 1935 wurde zu einem «Schicksalsjahr der
schweizerischen Demokratie» (Alfred Kölz). Das Volk zeigte sich seiner
politischen Verantwortung würdig, und es lehnte beide oben vorgestellten
Volksinitiativen ab. Eine Annahme hätte zu einer autoritären Ordnung geführt
und die Volksrechte eingeschränkt. Das ganze politische System der Schweiz
hätte sich verändert.
Die Schweiz hatte in ihrer Wirtschaftsverfassung am liberalen Prinzip –
verbunden mit sozialen Komponenten – festgehalten und stand damit in den dreissiger
Jahren ziemlich einzig da. In der Sowjetunion herrschte der Kommunismus, in
Deutschland und Italien faschistische Staatswirtschaft, in Frankreich die
Volksfront mit einer Art Wirtschaftsregierung und Österreich stand unter dem
Regime einer ständestaatlichen Wirtschaftsordnung. Die angelsächsischen Länder
folgten dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der in einem hohen Masse
staatliche Intervention, Wirtschaftslenkung und Staatsverschuldung empfahl.
Fast alle Ökonomen (die nicht Kommunisten waren) folgten seinem Credo.
Das Volks-Nein zu den beiden Wirtschaftsinitiativen von 1935 hatte noch eine
ganz andere Wirkung. Es war ein Signal, dass die Bevölkerung die Lösung der
Probleme nicht ausschliesslich von den Behörden erwartete, sondern dass die
Bürgerinnen und Bürger selber viel in der Hand haben, ihre Lebensumstände zu
verbessern. Es sollte sich zeigen, dass diese Anstrengungen oft nachhaltiger
waren und mehr Erfolg hatten als die staatlichen Massnahmen. Zum Beispiel
wurden zahlreiche Genossenschaften neu gegründet oder bisherige erweitert. Es
besteht immer Gefahr, dass in politischen Diskussionen vergessen wird, welchen
Beitrag zur Krisenbewältigung die Bevölkerung selber leisten kann.
Selbsthilfe und Eigenverantwortung in der Krise: die Gründung
von Genossenschaften
Um die Rechtssicherheit zu verbessern, überarbeiteten der
National- und Ständerat 1935 das Genossenschaftsrecht im Obligationenrecht, und
es kam in den folgenden Jahren bis in die Nachkriegszeit zu einer Vielzahl von
Genossenschaftsgründungen oder -erweiterungen in der Landwirtschaft, im
Konsumwesen, im Wohnungsbau und in manch andern Lebens- und
Wirtschaftsbereichen – und zwar in einer erstaunlichen Vielfalt. Zahlreiche
Schriften über das Genossenschaftswesen wurden publiziert – ganz im Sinne der
kürzlich erschienen Broschüre «Wie gründe ich eine Genossenschaft?». Bund,
Kantone und Gemeinden unterstützten diese Bewegung, indem sie die
Genossenschaften steuerlich begünstigten und auf mancherlei Art
subventionierten. Heute gibt es in der Schweiz etwa 12 000 Genossenschaften. Drei typische Beispiele aus
jener Zeit sollen die Vielfalt der Möglichkeiten andeuten, die die Bürgerinnen
und Bürger haben, selber aktiv zu werden und die Rettung aus der Krise in die
Hand zu nehmen.
WIR-Genossenschaft
Als sich 1934 die Wirtschaftskrise mehr und mehr zuspitzte,
trafen sich sechzehn Geschäftsleute, um die WIR-Genossenschaft zu gründen. Die
Banken waren in der Krise vorsichtig geworden und hielten sich in der
Kreditvergabe zurück. Die Genossenschafter bauten ein eigenes Kreditsystem auf
mit einer eigenen (Komplementär-) Währung – dem WIR–Franken. Die Kaufleute und
Handwerker luden ihre Zulieferer und Geschäftskunden ein mitzumachen. Diese
konnten bei der Zentrale zinsfrei Kredite in WIR-Franken beziehen, die diese
selber wie eine Bank aus dem «Nichts» schöpfte. Dazu benötigte die
Genossenschaft die Zulassung als Bank, die sie 1936 auch erhielt. Dieses
Genossenschaftsgeld erleichterte Zahlungen, löste manchen finanziellen Engpass
und förderte die Umsätze zwischen den Genossenschaftern, die auch über
gemeinsame Messen und regelmässige Treffen miteinander in Kontakt standen und
heute stehen. Das System hatte Erfolg – bis heute. Etwa 60 000 KMU – das ist ein
Viertel aller Schweizer Klein- und Mittelbetriebe – haben sich diesem System
angeschlossen. Die Umsätze in WIR-Franken betragen heute zwischen zwei und drei
Milliarden pro Jahr. Etwa 800 Millionen WIR-Kredite sind ausstehend. 1998
eröffnete die Genossenschaft eine «richtige» Geschäftsbank – die WIR Bank, die
sowohl Kredite in Schweizer- wie auch in WIR-Franken anbietet und auch
Spargelder (in Schweizerfranken) verwaltet.
Bauernhülfskassen
Viele Bauern gründeten im Sinne der Selbsthilfe unzählige,
verschiedenartige landwirtschaftliche Genossenschaften. Interessanterweise gab
und gibt es auch solche, die nicht aus Bauern bestehen: die sogenannten
Bauernhülfskassen. Ein Beispiel aus dem Kanton Zürich: 1932 gründeten die
Zürcher Kantonalbank, fünf Geschäftsbanken und einige reiche Privatpersonen
(die anonym blieben) die «Zürcher Bauernhülfskasse». Ihr Zweck bestand darin,
den Bauern in Not zu helfen, und zwar dann, wenn die bäuerlichen
Selbsthilfeorganisationen und insbesondere die Raiffeisenbanken gemäss ihren
Statuten keine Kredite mehr gewähren konnten. Die «Bauernhülfskasse» rettete so
in schwerer Zeit – wie der Name sagt – manchen Familienbetrieb. Sie besteht
heute noch.
Abenteuer Migros
Parallel zum Niedergang der Nationalen Front im Jahr 1935
trat eine neue Partei auf das politische Parkett: der Landesring der
Unabhängigen mit Gottlieb Duttweiler, Inhaber der Migros. Duttweiler machte
sich auf den Weg, in der Wirtschaft und in der Politik der Schweiz etwas zu
bewegen. Die neue Partei wurde gleich mit fünf Vertretern in den Nationalrat
gewählt. Im Jahr 1940 wandelte Gottlieb Duttweiler seine Migros von einer AG in
eine Genossenschaft um, indem er das Unternehmen seinen treuen Kunden schenkte.
Jeder der 75 540 Kundinnen
und Kunden, die eine Kundenkarte besassen und somit eingetragen waren, erhielt
gratis einen Genossenschaftsanteil von Fr. 30.– und wurde Miteigentümer. Für
viele kleine Lebensmittelgeschäfte brachte die Migros das Aus. Für viele
Hausfrauen mit knappem Budget dagegen waren die tiefen Preise für
Grundnahrungsmittel ein Segen. Zur Stärkung der staatsbürgerlichen Bildung und
des geistigen Widerstandes in jener schweren Zeit schenkte Duttweiler den neuen
Genossenschaftern ein Buch zum Thema «Wilhelm Tell». Es war die erste
«Buchgabe», denen noch viele weitere folgen sollten. Damit begann das Abenteuer
«Migros» mit stetigem Wachstum und einer eigenen Genossenschaftskultur, zu der
Klubschule, Exlibris, Kulturprozent und manches mehr gehören. Heute ist Migros
ein Grosskonzern und der grösste Arbeitgeber in der Schweiz.
Würdigung – Plädoyer für die direkte Demokratie
Diese Zeilen sollen mit einem Rückblick enden. Thomas
Bornhauser hatte im Jahr 1830 – hundert Jahre vor der grossen Wirtschaftskrise
im 20. Jahrhundert – im Kanton Thurgau die Handels- und Gewerbefreiheit
als naturrechtlich begründetes Freiheitsrecht postuliert. Andere Kantone
folgten ihm und auch der Bund baute die HGF als Grundrecht in die
Bundesverfassung ein. (siehe Teil 2 der Artikelfolge vom 9.6.2015) «Weise
Polizeigesetze», so die Worte von Bornhauser, sollten den Missbrauch verhindern.
Heute lässt sich dazu Folgendes sagen: Es gibt keine politische Instanz, die
solche «weisen Gesetze» hätte verabschieden oder gar die «ideale
Wirtschaftsordnung» hätte einführen können. Sondern Thomas Bornhauser hat mit
seinen Worten einen Lernprozess auf allen politischen Ebenen eingeleitet. Ein
ständiges Suchen und Weiterentwickeln, bei dem in der Schweiz die Bevölkerung
über die Volksrechte direkt beteiligt ist und eine ganz zentrale Rolle spielt.
Die direkte Demokratie mit Initiative und Referendum ist der wohl beste Weg, um
die Gesetze unmittelbar auf die Bedürfnisse der Bevölkerung abzustimmen. Die
damals relativ niedrige Zahl der Unterschriften von 50 000 für eine Initiative und 30 000 für ein Referendum hat den Einbezug der Bevölkerung in
den Lernprozess begünstigt. Auch heute – nach der Einführung des
Frauenstimmrechts – ist diese Zahl (100 000 und 50 000)
noch niedrig, wobei diese Unterschriften immer zuerst gesammelt und beglaubigt
werden müssen. Auch die verlangten Unterschriften in den Kantonen und Gemeinden
sind relativ niedrig.
Der heutige Zustand der Wirtschaft und die grosse Zahl der Volksabstimmungen,
die im Bund seit 1848 stattgefunden haben, sind der Beweis, dass der
Lernprozess oft besser funktioniert und bessere Resultate bringt, als wenn
grundlegende Entscheidungen nur von einer kleinen gewählten Elite in Regierung
und Parlament getroffen werden. Die Diskussionen sind intensiver und breiter
abgestützt. Anregungen aus der Bevölkerung fliessen ein, die sonst nicht gehört
würden. Eine Volksinitiative sensibilisiert die Politik, auch wenn sie in der
Abstimmung abgelehnt wird.
Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie etwas entschieden wird, sondern auch
um den Einbezug der Bevölkerung und damit um den Respekt der Politik gegenüber
dem Volk als Souverän. Die Identifikation mit dem politischen Geschehen und mit
der Rechtsordnung ist weit stärker, als wenn das Volk nur indirekt über Wahlen
beteiligt ist. All dies erhält den sozialen Frieden und stärkt den
Zusammenhalt, was in der heutigen unruhigen Welt nicht hoch genug eingeschätzt
werden kann.
Soziale Marktwirtschaft
Unsere Geschichte der Volksrechte ist nach diesem Exkurs
nicht zu Ende: Angeregt von den beiden grundlegenden und wegweisenden
Wirtschaftsabstimmungen im Jahr 1935, begann das Parlament mit der Reform der
Wirtschaftsartikel in der Bundesverfassung. Sie sollten krisentauglich und
stärker auf die Bedürfnisse der notleidenden Bevölkerung abgestimmt werden. Die
Gruppierungen, die die Kriseninitiative lanciert hatten, schlossen sich zur
Richtlinienbewegung zusammen, um diese Arbeiten in ihrem Sinn zu begleiten. Der
Zweite Weltkrieg verzögerte diesen Prozess, so dass die Sozialdemokraten und
der Landesring der Unabhängigen mit Gottlieb Duttweiler im Jahr 1943 die
Gelegenheit nutzten und zwei weitere Volksinitiativen einreichten – beide zum
Thema «Recht auf Arbeit», das sie auf unterschiedliche Art und Weise in der
Verfassung umgesetzt haben wollten. Fast gleichzeitig wurden zwei Gruppierungen
im Bereich der Sozialpolitik aktiv. Der Katholisch-Konservative Verein KKV
lancierte eine Volksinitiative mit dem Thema «Schutz der Familie», die eine
vermehrt familienfreundliche Politik ermöglichen sollte, und reichte sie mit
178 000 Unterschriften
ein. Ebenfalls fast gleichzeitig lancierte der Kaufmännische Verband Schweiz
mit 180 000 Unterschriften
eine Volksinitiative mit einem konkreten Vorschlag für die Errichtung und die
soziale Ausgestaltung der Alters- und Hinterlassenenversicherung, der das Volk
1925 in einer Verfassungsabstimmung bereits grundsätzlich zugestimmt hatte.
Einen ersten konkreten Gesetzesentwurf hatte es jedoch 1931 in einer
Referendumsabstimmung abgelehnt.
Als Folge dieser Bürgeraktivitäten mitten im Krieg sollten 1946 und 1947 fünf
Volksabstimmungen stattfinden, die die Weichen zur sozialen Marktwirtschaft
stellen, wie wir sie heute kennen. •
Quellen: Alfred Kölz, Neuere schweizerische
Verfassungsgeschichte (mit Quellenbuch), Bern 2004; 100 Jahre
Sozialdemokratische Partei, Zürich, 1988; Isabelle Häner, Nachdenken über den
demokratischen Staat und seine Geschichte, Beiträge für Alfred Kölz, Zürich
2003; W. Linder, C. Bolliger, Y. Rielle, Handbuch der eidgenössischen
Volksabstimmungen 1848–2007, 2010; Bruno Hofer, Volksinitiativen der Schweiz,
2012; Thomas Sprecher, Schweizer Monat, 2013.
A. Gebert, Die jungliberale Bewegung der Schweiz 1928–1938, 1981; Wolf Walter,
Faschismus in der Schweiz. Die Geschichte der Frontenbewegung in der deutschen
Schweiz, 1930–1945, 1969; diverse Unterlagen zum Genossenschaftswesen und zur Ökonomie.