Wie 512 Millionen Menschen verwaltet werden
von Robert Seidel
Ein anhaltendes Schweigen herrscht in den Schweizer
Medien, wenn es um die Probleme der Europäischen Union geht, wie Dieter
Sprock in Zeit-Fragen Nr. 3 vom 28. Januar feststellten musste. Bei den
Problemen der EU handelt es sich nicht um kleine kosmetische, sondern um
gravierende, zum Teil systembedingte Fehlentwicklungen.
Viele
Schweizer fragen sich zurzeit, ob die Probleme der EU verschwunden
seien, seit der Bundesrat mit Brüssel über eine engere Anbindung
verhandelt, weil sie nichts mehr darüber in den Medien lesen und hören
können. Im folgenden soll kurz an einige Probleme des supranationalen
Gebildes erinnert werden.
In den vergangenen Jahren wurde deutlich,
dass in der EU die Entscheidungen zwischen den Machtzentren einzelner
mächtiger Staaten (die EU-Staaten Deutschland, Frankreich und von aussen
die USA) getroffen werden und die kleineren sich den Entscheidungen zu
fügen haben. Diese Entscheidungen werden nicht demokratisch
herbeigeführt, sondern fallen nach Macht und Einfluss aus. Passt der
Kurs eines einzelnen Landes den Mächtigeren nicht, dann wird massiver
Druck aufgebaut (wie auf Österreich 2000/2001, Ungarn seit 2010,
Griechenland 2010–2015, Italien seit 2018, Polen seit 2005,
Grossbritannien seit 2016).
80 % der nationalen Gesetze eines
Mitgliedsstaates werden in Brüssel entschieden. Den nationalen
Parlamenten bleibt nur noch, diese Entscheidungen aus Brüssel
abzunicken. Ein relevanter Einfluss der Bürger auf ihre Belange wird auf
nationaler und gliedstaatlicher Ebene immer geringer, und auf der
EU-Ebene ist er gar nicht vorhanden. Volksrechte, die man ernstnehmen
könnte, kennt die EU nicht.
Das EU-Parlament ist in seinen Rechten
eingeschränkt, seine Zusammensetzung nicht demokratisch, und ausserdem
erweckt es in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr den Eindruck, zu
einem Selbstbedienungsladen seiner Parlamentarier und deren Parteien
verkommen zu sein (vgl. Hans Herbert von Arnim. Die Hebel der Macht,
2017).
Stehen nationale Entscheidungen der EU entgegen, werden sie
durch den Europäischen Gerichtshof EuGH oder durch die eigene Regierung
im Namen der EU rückgängig gemacht, dabei können sie noch so
demokratisch zustande gekommen sein. Durch ihr Handeln zerstört die EU
noch bestehende demokratische Entscheidungsspielräume auf nationaler
oder regionaler Ebene.
Undemokratischer Moloch
Dass die EU keine Demokratie und auch nicht
demokratisch ist, gilt als Binsenwahrheit. Kein Bürger konnte in
irgendeiner Weise darüber mitbestimmen, wer Mitglied in der
EU-Kommission wird. Das bleibt den Regierungschefs der EU-Staaten
vorbehalten (Europäischer Rat). Vielleicht kennen 5 % der Einwohner der
EU ihren EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker oder die
«EU-Aussenministerin» Federica Mogherini, aber andere Kommissare wie
Frans Timmermans, Andrus Ansip, Maroš Šefčovič, Valdis Dombrovskis,
Jyrki Katainen oder Günther Oettinger kennt kaum mehr jemand. Von den
Qualitäten dieser Führungsspitze bleibt das «Ischias»-Leiden von
Präsidenten Juncker im Juli 2018 (
gloria.tv/video/n7pCZZaEnTm72dN6bURXdD7PK) oder sein Auftritt im Juni 2015 (
www.20min.ch/ausland/news/story/EU-Chef-Juncker-ohrfeigt-Regierungschefs-12300484) in bleibender Erinnerung. Wahrscheinlich spiegeln sie auch den Zustand der gesamten EU wider.
Auf
die nachgeordnete EU-Verwaltung mit ihren riesigen Behörden, die kaum
jemand kennt, hat ein normaler Bürger grundsätzlich keinen Einfluss –
von Kontrollmöglichkeiten ganz zu schweigen. Um so heftiger wird aus
Brüssel das Leben der einzelnen Menschen reglementiert, bürokratisiert
und eingeengt. Von der sprichwörtlichen Krümmung der Banane bis hin zur
Zwangsernährung mit durch Spritzmittel verseuchten Lebensmitteln
entscheiden Brüsseler Bürokraten (nach eigenen Angaben
32 000 Beschäftigte).
Hemmungsloser Lobbyismus
Als eines der grössten Probleme gilt immer noch und
immer mehr der ungehemmte und übergreifende Lobbyismus in Brüssel.
Internationale Konzerne, Banken, Stiftungen sind in grosser Anzahl mit
geschätzten 25 000 Lobbyisten in Brüssel tätig, um Entscheidungen zu
ihren Gunsten herbeizuführen. Fernab von jeder staatlichen Kontrolle,
ganz zu schweigen von einer bürgernahen Kontrolle, werden in
Konferenzsälen der Hotels oder in den Dependancen der Konzerne mögliche
Entscheidungsträger auf Kurs gebracht. Über diesen Weg werden
sachgerechtere und bürgernähere Entscheidungen, die auf nationaler Ebene
gefällt wurden oder werden könnten, umgangen, vorweggenommen oder
ausgehebelt. Natürlich liegt es auf der Hand, dass auch Syndikate oder
kriminelle Strukturen wie die N’drangeta oder Mafia in diesem
undurchsichtigem Milieu versuchen, ihren Einfluss auszuweiten.
Staatssozialismus à la Bruxelles
Der EU-Zentralismus fördert durch die massive
Umverteilung von Steuergeldern (EU-Förderprogramme, aber auch der
Kohäsionsfonds) geradezu Korruption und Vetternwirtschaft. Der Bau von
Autobahnen oder Eisenbahnlinien mit Hilfe von EU-Geldern ist
sprichwörtlich: Autobahnen, die im Nichts enden, Eisenbahnlinien und
Flughäfen, die keine Passagiere finden. Die EU ist damit ein
Paradebeispiel für das Gegenteil eines sinnvollen, schlanken
Föderalismus und erinnert eher an die Plan- und Vetternwirtschaft aus
staatskommunistischen Zeiten.
Abenteuerliche Finanzpolitik
Die Finanzpolitik der EU bzw. der Europäischen
Zentralbank EZB ist von Beginn an ein Desaster. Durch die
Zwangsanbindung der einzelnen Volkswirtschaften an den Euro sind die
einzelnen Staaten nicht mehr in der Lage, eine unabhängige Finanz- und
Wirtschaftspolitik zu betreiben. Diese Kritik ist nicht neu, sondern
wurde schon vor der Einführung des Euro von namhaften Wissenschaftlern
formuliert (Hankel, Nölling, Schachtschneider, Starbatty, 1997). Nicht
nur Griechenlands, Italiens und auch Frankreichs Wirtschaft leiden heute
massiv unter dieser Zwangsanbindung. Sie können keine sinnvolle
Abwertung ihrer Währung mehr vornehmen, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Die schleichende Verarmung der Bevölkerung nicht nur in diesen Ländern
ist eine langfristige Folge.
Die Euro-Geldmenge ist seit 2008 in
einem unverantwortlichen Ausmass angestiegen und steigt immer weiter.
Ein geldpolitischer Kurswechsel ist nicht in Sicht. Auch hier verhallen
die Mahnungen namhafter Experten (zum Beispiel Jens Weidmann, 2019) vor
den Toren der EZB. Wie der Ausstieg aus diesem «quantitative easing»
ohne Wirtschaftskrise, Inflation oder Krieg vonstatten gehen soll,
bleibt ungeklärt. Inzwischen schmelzen durch die rigorose
Nullzins-Politik die Vermögen und auch die Renten der Bürgerinnen und
Bürger.
Liegt es an dem EZB-Präsidenten Mario Draghi, (dessen Ruf
durch seine vorherige Tätigkeiten bei der Goldman-Sachs-Bank im
Zusammenhang mit der Aufnahme Griechenlands in die Euro-Zone und der
späteren grosszügigen Übernahme der Staatsschulden Griechenlands durch
die EU – zugunsten eben jener Grossbanken – mehr als zweifelhaft ist),
dass die Finanzpolitik eher den Interessen der internationalen
Grossbanken folgt?
Durch die Haftungsunion (EFSM, ESM) werden
inzwischen alle EU-Staaten gezwungen, die Schulden eines oder mehrerer
bankrotter Euro-Staaten zu übernehmen. Und dies kann heutzutage sehr
schnell geschehen. In letzter Konsequenz werden die Schulden mit den
Guthaben der Bürger beglichen – das geflügelte Wort von der
«Einlagensicherung» wird zur Makulatur.
In haushaltspolitischer
Hinsicht bleibt die EU weiterhin eine «black box». Während in den 2000er
Jahren noch kritisch über die fehlenden Millionenbeträge oder wie
Steuergelder verschwinden oder verprasst werden, berichtet wurde (Paul
van Buitenen, 2004), ist es seit einigen Jahren auffällig still um
dieses Thema geworden …
Der Bürger als Verdächtiger – Orwell lässt grüssen
Im Hinblick auf autoritäres und undemokratisches
Handeln sind die Entscheidungen der EU, ihre Vorgaben und die Urteile
des EuGHs im Bereich der Innenpolitik mehr als bedenklich: Die EU ist
dabei, ein Überwachungssystem auf- und auszubauen, das den einzelnen
Bürger wie einen Verbrecher beobachtet, abspeichert und behandelt. Die
gesamte Vorratsdatenspeicherung, die Erstellung von
Persönlichkeitsprofilen – auch im Rahmen von Schengen/Dublin – findet
fast ungehindert statt. Ähnlich verhält es sich mit dem Zugriff auf das
Internet bzw. auf die Pressefreiheit. Eine kritische Berichterstattung
zur EU wird unter dem Begriff «fake news» oder «hate speach» zunehmend
eingeschränkt.
Verluderung des Rechtssystems
Die EU leidet an einer autokratischen Verluderung
des Rechtssystems. Ein Höhepunkt war die eigenmächtige Entscheidung der
deutschen Kanzlerin, alle Migranten in den Schengen/Dublin-Bereich der
EU bzw. nach Deutschland einreisen zu lassen. Dies entgegen geltendem
Recht und allen rechtlichen Verträgen (Schengen-Dublin). Alle anderen
EU-Staaten und auch die assoziierten, wie die Schweiz, mussten sich
ihrem Handeln beugen.
Auch sonst leidet das EU-Rechtssystem an
Intransparenz und Bürgerferne. Der Europäische Gerichtshof EuGH, der
letztinstanzlich zu entscheiden hat, ist mit Richtern aus
28 verschiedenen Ländern aus unterschiedlichen Rechtssystemen und
Rechtstraditionen besetzt, die die Probleme der anderen Staaten kaum
kennen, aber sehr weitreichende Urteile über sie sprechen. Durch sie
wird der Alltag von 512 Millionen Einwohnern reglementiert – fernab der
Realität.
Friedensprojekt EU?
Die Werbebotschaft, die EU sei ein
«Friedensprojekt», kann mit einem kurzen Blick auf ihre Aufrüstung, ihre
enge Anbindung an die Nato (Pesco) und die vielen militärischen
Abenteuer ihrer einzelnen Mitgliedsstaaten dem Bereich der modernen
Märchenerzählung zugeordnet werden. Jedes kriegerische Handeln eines
EU-Staates fällt auf alle Mitgliedsstaaten zurück. Stichwörter: Kosovo,
Syrien, Jemen, Irak, Afghanistan, Libyen, Ukraine, Mali. Die neutralen
Staaten verlieren dadurch unweigerlich ihre Glaubwürdigkeit (Schweden,
Österreich, Irland). Zu dem aggressiven Vorgehen gehört auch das
aussenpolitische Verhalten, das, eng angebunden an die USA, eine
Konfrontation mit Russland und China heraufbeschwört.
An der transatlantischen Leine
Der US-amerikanische Nachrichtendienst NSA spioniert
ungehindert und lückenlos die einzelnen EU-Staaten und insbesondere
Brüssel aus. Sowohl in politischer und militärischer als auch in
wirtschaftlicher Hinsicht können Entscheidungen nie ohne Anbindung an
die Machtzentren in den USA gefällt werden. – Diese Machtzentren
entsprechen nicht immer der offiziellen Regierung.
Dass die
«europäische Einigung» ohnehin keine europäische war, sondern – entgegen
der Brüssler Hagiographie – dem Wunsch Washingtons nach dem Zweiten
Weltkrieg entsprach, Europa unter einem Telefonanschluss steuern zu
können, beschreibt Werner Wüthrich detailliert anhand der Schlüsselfigur
Jean Monnet (vgl. Zeit-Fragen Nr. 50 vom 12.12.2011, [
https://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2011/nr-50-vom-12122011/die-methode-monnet-als-schluessel-zum-verstaendnis-der-euro-krise.html] Zeit-Fragen Nr. 3 vom 17.1.2012 [
https://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2012/nr3-vom-1712012/das-europaeische-orchester-wieder-zum-klingen-bringen.html]).
Keine Besserung in Sicht
Der Zustand der EU bzw. ihre Auswirkung auf die
einzelnen Mitgliedsstaaten ist besorgniserregend. Aus einem
supranationalen Gebilde entwickelt sich eine autokratische Staatsform
mit einer weitgehenden Entmündigung ihrer Bevölkerungen. Trotz aller
Beteuerungen seitens der EU, mehr demokratische Elemente einzuführen,
blieben diese uneingelöst.
Die an dieser Stelle zusammengetragenen
Fakten sind öffentlich zugänglich und für jeden einsehbar. Es gilt, sie
wahrzunehmen und bei allfälligen Entscheidungen, zum Beispiel bei einer
engeren Anbindung an die Europäische Union, einzubeziehen.
(Quelle:
Zeit-Fragen)