Um das Schweizer Modell in allen seinen Facetten zu
erfassen, ist es nötig, die grundlegenden Elemente einzeln zu
beleuchten. Im folgenden werden das Genossenschaftsprinzip, die
Gemeindeautonomie, das Milizsystem, die direkte Demokratie,
Föderalismus und Subsidiarität, die nachhaltige Finanzpolitik, die
Konkordanzdemokratie sowie die Neutralität genauer betrachtet. Die
einzelnen Elemente ergänzen sich fruchtbar und bestimmen in ihrer Summe
die spezifische politische Kultur in der Schweiz.
1. Das Genossenschaftsprinzip als Grundlage der schweizerischen politischen Kultur
Die Genossenschaften stellen in ihren verschiedenen
Ausformungen für den schweizerischen Bundesstaat ein zentrales Fundament
dar. Als wirtschaftliche Organisationsform der Selbsthilfe fusst die
Genossenschaft auf einem personalen Menschenbild. Sie darf nicht nur als
blosse Rechtsform, sondern muss in einem umfassenden Sinn als wichtige
Gesellschaftsform verstanden werden.
Stets ist die Genossenschaft
lokal verankert und eingebettet in das föderalistisch-subsidiäre
politische System der Schweiz. Die Genossenschafter entscheiden
demokratisch über alle anfallenden Fragen, jeder hat eine Stimme.
Der
Zweck einer Genossenschaft besteht immer in der von allen Mitgliedern
im Zweckartikel festgelegten Lösung einer gemeinsamen Aufgabe, die sich
in verschiedenen Bereichen bewegen kann. Es kann sich um soziale
Aufgaben (zum Beispiel Alters- und Pflegeheim), öffentliche Versorgung
(zum Beispiel Wasserversorgung, Stromversorgung, Waldpflege),
Produktivzweige (zum Beispiel Einkauf und Verkauf landwirtschaftlicher
Güter, Weinbaugenossenschaften, Nähwerkstätten, Ausbildungsstätten für
Behinderte) oder um optimale Nutzung einer gemeinsamen Sache handeln.
Die Tätigkeits- und Nutzungsformen können verschieden sein, der Zweck
muss immer dem naturrechtlich verankerten Gemeinwohl – dem Bonum commune
– dienen.
Der bekannte Schweizer Historiker Prof. Dr. Adolf Gasser
hat die Bedeutung des genossenschaftlichen Prinzips besonders klar und
eingängig hervorgehoben. Für ihn war die europäische Geschichte stark
vom Gegensatz zweier verschiedener Gesinnungen geprägt, und zwar von
Herrschaft und Genossenschaft. In diesen Erscheinungen stehen sich, so
betont Gasser, zwei Welten gegenüber, die ganz verschiedenen
Entwicklungsgesetzen unterstehen: die Welt der von oben her und die Welt
der von unten her aufgebauten Staatswesen oder mit anderen Worten: die
Welt der Herrschaft und die der Genossenschaft, die Welt der
Subordination und die der Koordination, die Welt des Zentralismus und
die des Kommunalismus, die Welt der Befehlsverwaltung und die der
Selbstverwaltung, die Welt der Gemeindeunfreiheit und die der
Gemeindefreiheit:
«Der Gegensatz Herrschaft – Genossenschaft ist
vielleicht der wichtigste Gegensatz, den die Sozialgeschichte kennt.
Beim Gegensatz Obrigkeitsstaat – Gesellschaftsstaat geht es eben um
schlichtweg fundamentale Dinge: nämlich um die elementaren Grundlagen
des menschlichen Gemeinschaftslebens.»1
In seinem
Hauptwerk «Gemeindefreiheit als Rettung Europas. Grundlinien einer
ethischen Geschichtsauffassung» führt Gasser aus, dass es das
genossenschaftliche Ordnungsprinzip ist, das zu einer kommunalen
Gemeinschaftsethik führt:
«Während im obrigkeitlich-bürokratischen
Staate Politik und Moral auf grundsätzlich verschiedenen Ebenen liegen,
gehören sie im gesellschaftlich-kommunalen Staate untrennbar zusammen.
Demgemäss wird man das genossenschaftliche Ordnungsprinzip, wie es den
von unten nach oben aufgebauten Gemeinwesen zugrunde liegt, besonders
zweckmässig als ‹kommunale Gemeinschaftsethik› bezeichnen.»2
Dieses
genossenschaftliche Prinzip gilt aber in der Schweiz nicht erst seit
1848, sondern war schon seit Jahrhunderten fester Bestandteil der
eidgenössischen Gesinnung.
Meistens gingen die Genossenschaften aus
der mittelalterlichen Flurverfassung oder, anders ausgedrückt, aus der
«mittelalterlichen Gemeinmark» hervor. Für das Verständnis des
schweizerischen Staatswesens sind diese frühen Wurzeln des
Genossenschaftswesens zentral. Dazu schreibt der Historiker Prof.
Dr. Wolfgang von Wartburg:
«Diese kleinen, natürlichen, sich selbst
verwaltenden Gemeinwesen sind Schule und Nährboden der schweizerischen
Freiheit und Demokratie geworden und sind es heute noch. Die
ausgedehntesten und lebensfähigsten Markgenossenschaften aber bestanden
im Gebirge, wo die gemeinsame Alp- und Viehwirtschaft ganze Talschaften
umfasste.»3
In der Schweiz waren für die allgemeine
Verbreitung und Ausgestaltung der Genossenschaften die Allmenden
zentral. Dies waren Flächen, die als Weide-, Wald- und Ödlandflächen
allen offenstehen mussten. Die Gründung von Allmenden lief so ab, dass
die Bewohner eines Siedlungsverbandes – eines oder mehrerer Dörfer,
Weiler oder Hofgruppen – ein bestimmtes Gebiet zur kollektiven
wirtschaftlichen Nutzung aussonderten. Dadurch entstand für eine
bäuerliche Familie eine Dreiteilung: Neben der Ackerflur und dem
Wohnbereich mit Hofstätten und Garten stellte die Allmend eine dritte
Zone dar, die gemeinsam verwaltet wurde. Seit dem frühen Mittelalter
versuchte der europäische Adel, die Allmendverfassung zu bestimmen oder
mindestens zu beeinflussen. An vielen Orten, so auch auf dem Gebiet der
heutigen Schweiz, konnte sich das Genossenschaftsprinzip aber halten.
Durch die Verschiedenheit der lokalen Verhältnisse und der menschlichen
Beziehungen entstand mit der Zeit eine Vielfalt von genossenschaftlichen
Formen.
Für die Schweiz waren die siedlungsgeschichtlichen
Voraussetzungen besonders wichtig. Im schweizerischen Mittelland, wo
sich die Wohnstätten zu Dörfern verdichteten, war nebst Haus, Garten und
Ackerflur die Gemeinmark oder Allmend für alle Dorfbewohner
lebensnotwendig. Im hügeligen Alpenvorland schlossen sich die Höfe zu
Allmendgenossenschaften zusammen. In den Alpen bildeten sich vielerorts –
ausgehend von den Talschaften als ländliche Verbände –
Talgenossenschaften, so in Uri, Ursern, Schwyz, Glarus, im Entlebuch, in
Graubünden, im Wallis und in den Tessiner Tälern.
Die
Wirtschaftsnobelpreisträgerin Prof. Dr. Elinor Ostrom hat in einer
weltweit angelegten grundlegenden Studie die «Verfassung der Allmende»
untersucht.4 Ausgehend von historischen Beispielen aus
verschiedenen Kontinenten zeigt sie damit die Bedeutung des
Genossenschaftsprinzips für die Gegenwart auf. Anhand der Allmend führt
sie vor Augen, wie sich Menschen bei knappen, natürlichen Ressourcen
organisieren, um gemeinschaftlich komplexe Probleme zu lösen. Elinor
Ostrom kommt mit ihren umfassenden Studien zum Schluss, dass für eine
gute Bewirtschaftung von lokalen Allmendressourcen in vielen Fällen
eine Kooperation der unmittelbar Betroffenen besser ist als eine
staatliche Kontrolle oder Privatisierung. Damit würdigt sie eindrücklich
das genossenschaftliche Prinzip und zeigt klar die Bedeutung dieses
Prinzips für das Wirtschaften des 21. Jahrhunderts auf.
Für den
geographischen Raum der heutigen Schweiz schufen die Allmenden im
Mittelalter ein wichtiges Fundament gemeinschaftlichen Wirkens und
sorgten mit ihren Regeln für Ordnung und Sicherheit. Neben den
Allmenden, über die in der Regel alle Agrardörfer bis ins
18. Jahrhundert verfügten, entstanden besondere Genossenschaftsformen,
die bestimmten weiteren, kommunalen Zwecken dienten.
Die
Genossenschaften entwickelten eine gemeinschaftsbildende Kraft, ohne die
eine Willensnation Schweiz nicht hätte entstehen können. So übernahmen
im Laufe des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit die Dorf- oder
Talgenossenschaften nebst ihren traditionellen Bereichen noch weitere
Aufgaben des Gemeinwerks. Solche waren etwa die Bestellung von Weg und
Steg oder etwa Wasserbau, Wasserversorgung, die Erstellung von
kirchlichen Bauten oder auch die Fürsorgepflicht für die Armen. Damit
entwickelten sich die Dorf- und Talgenossenschaften langsam zu Dorf- und
Talgemeinden, dem Fundament des späteren Bundesstaates.
Wolfgang von Wartburg schreibt zu diesem Vorgang:
«Dieser
menschlichen Wirklichkeit, nicht einer abstrakten Idee, entstammt das
Schweizer Freiheitsideal […]. So steht die schweizerische Staatsbildung
im Gegensatz zu allen andern Staatsbildungen Europas. Es liegt ihr nicht
der Wille zur politischen Einheit zugrunde, sondern im Gegenteil der
Wille zur Erhaltung der ursprünglichen Eigenart und Freiheit der
Glieder, somit zur Erhaltung der Mannigfaltigkeit. Ihre Einheit entsteht
nicht durch übergeordnete Macht oder durch Gleichförmigkeit, sondern
durch freie Zusammenarbeit an gemeinschaftlichen Aufgaben.»5
Die
Genossen wurden also zu Dorfbürgern und die bisherigen
Dorfgenossenschaften entwickelten sich zu öffentlichen Dorfgemeinden.
Dies führte mit der Zeit zur Entwicklung der heute noch in vielen
Kantonen bestehenden Bürgergemeinden.
Die Helvetik bewirkte ab 1798
die Teilung in Einwohner- und Bürgergemeinde. Die Aufteilung der Allmend
intensivierte sich nun. Einzelne Allmenden gingen in Pacht- oder
Privatbesitz über, andere beanspruchten Einwohnergemeinden oder es
bildeten sich privatrechtliche Korporationen. Die Korporationen und
Bürgergemeinden sind in der Schweiz bis heute ein wichtiges
Traditionsgut und stellen menschliche Verbindungen zu Geschichte und
Kultur einer Gemeinde her. Im Kanton Graubünden zum Beispiel leben die
alten Dorfgenossenschaften immer noch in den Einwohnergemeinden weiter,
deshalb sind diese auch die Besitzer der meisten Gemeingüter. Im
bernisch-zentralschweizerischen Gebiet besitzen die Bürgergemeinden als
Nachfolgerinnen der ursprünglichen Dorfgenossenschaften das Gemeingut
und verwalten es, so auch im Kanton Wallis. Im nordalpinen Raum und im
Tessin finden sich die Korporationen oder Korporationsbürgergemeinden
als Eigentümer und Verwalter der Gemeinmark.
Ohne die Tradition der
Allmend und den beschriebenen «Genossenschaftsgeist» hätte in der
Schweiz 1848 die Bundesstaatsgründung nicht stattgefunden. Adolf Gasser
betont, dass dieser «Genossenschaftsgeist» stets im kleinen Raum
wurzelt, eben in der kleinen übersichtlichen Raumeinheit der Gemeinde,
die als Grundlage das Genossenschaftsprinzip besitzt. Nur in einer
solchen Raumeinheit kann sich eine lebendige genossenschaftliche
Selbstverwaltung entfalten. Adolf Gasser bemerkt dazu:
«Grossräumige
Staatskörper von nationalstaatlichem Gepräge konnten immer nur dann in
genossenschaftlichem Geiste emporwachsen, wenn sie aus einer
Zusammenfügung freier, wehrhafter Volksgemeinden hervorgingen.»6
Aufbauend
auf der beschriebenen schweizerischen Tradition der Allmend und
Genossenschaften bildete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem
mit der zunehmenden Industrialisierung, eine breite
Genossenschaftsbewegung. Diese Bewegung – in der Schweiz wie in Europa –
drang in neue, auch industrielle Bereiche vor, nicht aber ohne die
genossenschaftlichen Grundprinzipien zu bewahren. So entstanden neben
den landwirtschaftlichen Genossenschaften Produktions-, Konsum-,
Wohnbau- sowie Kredit- und Spargenossenschaften.
Die Genossenschaft
als Rechtsform wurde 1881 im schweizerischen Obligationenrecht
festgeschrieben und erfreute sich zunehmender Beliebtheit. So stieg die
Zahl der Genossenschaften in der Schweiz um die Jahrhundertwende massiv
an (1883: 373; 1890: 1551; 1910: 7113). Der wichtigste Grund waren vor
allem die wiederkehrenden Krisen der kapitalistischen Wirtschaft. Mit
der grossen Krise der 30er Jahre stiegen die Genossenschaftsgründungen
nochmals kräftig an, bis sie im Jahre 1957 mit über 12 000 einen
Höhepunkt erreichten.
Knapp die Hälfte der Genossenschaften war
landwirtschaftlicher Natur, neu dazu kamen Dienstleistungsbereiche, wie
zum Beispiel die Elektrizitätswirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurden besonders häufig Bau- und Wohngenossenschaften gegründet und
gefördert.
In der Schweiz gibt es heute immer noch über 12 000 Genossenschaften.
Elinor
Ostrom zählt als Resümee ihrer Forschungen über die Allmend
naturrechtlich begründete genossenschaftliche Prinzipien für eine
erfolgreiche wirtschaftliche Tätigkeit auf. Diese Prinzipien konnte sie
anhand von Beispielen weltweit beobachten. Sie sind ein Ansatz, wie wir
auch heute wirtschaftliche Probleme in den Griff bekommen könnten. Die
genossenschaftlichen Prinzipien Ostroms sind folgende:
• Klar definierte Grenzen und wirksamer Ausschluss von externen Nichtberechtigten.
• Regeln bezüglich der Aneignung und der Bereitstellung der Allmendressourcen, angepasst an die lokalen Bedingungen.
• Anpassung an sich ändernde Bedingungen; Mitbestimmung der Nutzer bei Änderung der Regeln.
• Überwachung der Einhaltung der Regeln.
• Abgestufte Sanktionsmöglichkeiten bei Regelverstössen.
• Mechanismen zur Konfliktlösung.
• Anerkennung der Selbstbestimmung der Gemeinden durch übergeordnete Regierungsstellen (subsidiäres Prinzip).
2. Die Gemeindeautonomie
Historisch sind die etwa 2700 Gemeinden in der
Schweiz aus der Genossenschaftsidee entstanden, das heisst, sie sind
Zusammenschlüsse von Bürgern mit dem Zweck, die anstehenden Aufgaben
gemeinschaftlich zu lösen. Zu den Stammaufgaben gehören zum Beispiel die
Wahl der Gemeindebehörden, die Festsetzung des Steuersatzes, der Bau
von Gemeindestrassen, von Schulhäusern und Kindergärten, von
Schwimmbädern und Gemeindehäusern, von eigenen Krankenhäusern und
Bibliotheken, die Unterhaltung einer Feuerwehr und vieles mehr. In
neuerer Zeit sind weitere Aufgaben wie Abfallentsorgung und Kläranlagen
dazugekommen. Aufgaben alter Genossenschaften setzen sich also heute,
ergänzt durch viele aktuelle Lebensbereiche, in den modernen
schweizerischen Gemeindeverwaltungen fort. Nicht verändert hat sich die
von unten gewachsene Grundlage der Gemeindeautonomie: Die Einwohnerinnen
und Einwohner führen die Geschäfte von jeher in gemeinsamer
Eigenverantwortung und fühlen sich deshalb mit ihrer Gemeinde und deren
Bewohnern verbunden. Mit gutem Grund nennt man die Schweiz die «Nation
der Gemeinden», denn kaum irgendwo sonst besitzen die Gemeinden ein so
grosses Mass an Freiheit und Selbstverwaltung. Daraus ergibt sich auch
die Bedeutung der Gemeinde als Schule der direkten Demokratie.
3. Das Milizsystem
Ausdruck einer gemeinschaftlichen Gesinnung ist auch
das Milizsystem in den Gemeinden. Die Milizarbeit der Gemeindebewohner
vereint neben menschlichen und sozialen unbestreitbar auch finanzielle
Vorteile auf sich. Die freiwillige und oft ehrenamtliche Mitarbeit im
Gemeinwesen entspricht der Weiterführung der Genossenschaftstradition.
Das Milizprinzip ist Teil des Zusammenlebens und mit ein Grund, warum
die Menschen in ihrer Gemeinde verwurzelt sind. Hier weiss jeder aktive
Bürger, dass er gebraucht wird, dass sein persönlicher Beitrag für die
Gemeinde wichtig ist.
Dieser Milizgedanke ist auch in der
schweizerischen Armee vorhanden und drückt sich in einer Milizarmee aus,
die in der Bevölkerung gut verankert ist. Aber auch in der Politik ist
das Milizprinzip auf allen Ebenen präsent. Alle Parlamente in der
Schweiz und viele Exekutivämter sind dem Milizprinzip verpflichtet, das
heisst, dass die Personen mit einem politischen Amt diese Arbeit nicht
hauptberuflich ausüben. Weil wir in der Schweiz praktisch keine
Berufspolitiker kennen, sind die Politiker viel stärker mit der
Bevölkerung verbunden.
4. Die direkte Demokratie
Bei der direkten Demokratie übt das Stimmvolk als
Souverän seine Hoheitsrechte unmittelbar durch Wahlen und Abstimmungen
aus. Das heisst, dass das Volk nicht nur die Behörden wählt, sondern
auch über Sachfragen entscheidet. Im differenzierten föderalistischen
System der Schweiz spielt die direkte Demokratie besonders auf
Gemeindeebene eine überragende Rolle. Das sorgfältig angewandte
Subsidiaritätsprinzip bietet Gewähr, dass sich die Gemeinden als Zellen
des Staates weitgehend selbst verwalten. Die Bürger können sich somit in
vielen Gemeinden direkt an den politischen Geschäften beteiligen. In
der Gemeindeversammlung ist jeder Stimmbürger Volksvertreter, der
mitreden und mitbeschliessen kann. Die Gemeindeversammlung gilt daher
als die beste Schule der direkten Demokratie.
Die zahlreichen
Abstimmungen in der Schweiz sind Ausdruck der Volksrechte. Mittels der
Initiative oder des Referendums besitzt das Volk weitgehende
Mitbestimmungsrechte und kann sich auf Gemeinde-, Kantons- und
Bundesebene aktiv politisch betätigen. Die Initiative und das Referendum
kennen bis heute keine allzu grossen Hürden; wer das Bürgergespräch
pflegt und eine redliche politische Debatte in Gang setzt, bringt die
nötigen Unterschriften in der geforderten Zeit zusammen.
Die
Grundlage der direkten Demokratie stellt die Gemeindeautonomie dar.
Diese Bürgernähe garantiert, dass der Einzelne stärker in den
allgemeinen politischen Prozess einbezogen wird. Auch werden so die
regional unterschiedlichen Anliegen der Bevölkerung besser
berücksichtigt. Der Bürger erhält die Möglichkeit, sich bei Sachfragen,
die er wichtig findet, ohne Umweg über Parteien oder Parlamentarier zu
engagieren. Dank der Volksrechte können sich auch Minderheiten, die
vielleicht nicht im Parlament vertreten sind, Gehör verschaffen. Die
somit durch Initiativen und Referenden aufgebrachten Diskussionen bieten
den Beteiligten die Gewähr, dass ihre Wünsche ernsthaft berücksichtigt
werden. Der gesamte politische Prozess gewinnt dadurch an Transparenz
und Tiefe. Die Verliererseite ist nach einem solchen Ablauf eher bereit,
getroffene Entscheide mitzutragen. Die direkte Demokratie ist also auch
Garant für den sozialen Frieden und schützt vor unliebsamer
Machtkonzentration. Mit Hilfe der direkten Demokratie hat die Schweiz im
Laufe ihrer Geschichte Fehlentwicklungen erfolgreich Gegensteuer geben
können und menschenwürdige Lösungen gefunden.
Der direkten Demokratie
kann auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein gutes Zeugnis ausgestellt
werden. So kommen drei Wirtschaftswissenschaftler nach empirischen
Untersuchungen zum Resultat, dass die direkte Demokratie in der Schweiz
modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig sei.7 Die
direkte Demokratie, so die drei Autoren, führe im Vergleich zu rein
repräsentativen Systemen zu ökonomisch wie politisch effizienteren
Lösungen. Sie stützen ihre Aussagen mit statistischen Analysen und
belegen, dass unter anderem in direktdemokratisch regierten Gemeinden
die Ausgabenpolitik sorgfältiger gehandhabt werde, die Steuermoral der
Bevölkerung besser sei und man allgemein eine höhere Wirtschaftsleistung
bilanzieren könne. Die direkte Demokratie übe auf die wirtschaftliche
Entwicklung insgesamt eine heilsame Wirkung aus.
5. Föderalismus und Subsidiarität
Der Föderalismus ist eine der tragenden Säulen im
Aufbau der schweizerischen Eidgenossenschaft. Föderalismus heisst, dass
die Hoheitsrechte und Aufgaben in einem Bundesstaat zwischen
Zentralstaat (in der Schweiz: dem Bund) und Gliedstaaten (in der
Schweiz: den Kantonen) aufgeteilt sind. Während in einem zentralistisch
organisierten Staat, wie zum Beispiel Frankreich, die einzelnen
Départements in erster Linie Verwaltungsaufgaben erfüllen, reichen die
Bedeutung und das politische Gewicht der Gliedstaaten im
föderalistischen Staat viel weiter. Kennzeichnend für föderalistische
Ordnungen ist der Grundsatz, dass die Eigenständigkeit eines jeden
Mitglieds gewahrt bleibt. Echter Föderalismus funktioniert nach dem
Grundsatz der Subsidiarität, das heisst die übergeordnete Stelle belässt
der unteren Stufe alle Aufgaben, die diese erfüllen kann, und greift
nur ergänzend und fördernd ein.
In der Schweiz ist das
föderalistische Prinzip besonders ausgeprägt, das heisst, die Stellung
der Kantone ist auf Grund der Geschichte der Eidgenossenschaft sehr
wichtig. Seit 1291 der Bund zwischen Uri, Schwyz und Unterwalden
geschlossen wurde, hat sich die Zahl der verbündeten Orte im Laufe der
Jahrhunderte immer mehr vergrössert, und stets handelte es sich um
Bündnisverträge zwischen souveränen Staaten. Die Eidgenossenschaft blieb
bis zur Gründung des Bundesstaates von 1848 ein Staatenbund, also ein
Bündnis zwischen eigenständigen Staaten (wenn man vom kurzen und für die
Eidgenossen unfreiwilligen Experiment Napoleons während der Helvetik
absieht).
Die Tagsatzungskommission, welche in der Rekordzeit vom
Februar bis zum September 1848 die erste Bundesverfassung der
schweizerischen Eidgenossenschaft ausarbeitete, brachte das Kunstwerk
zustande, die Grundlage unseres Bundesstaates so zu schaffen, dass ein
friedliches und konstruktives Zusammenwirken aller Kantone bis heute
möglich wurde.
Die starke Betonung des föderalistischen Prinzips in
der Bundesverfassung von 1848 ermöglichte es auch den im
Sonderbundskrieg unterlegenen Kantonen, trotz anfänglicher Widerstände
im Laufe der nächsten Jahrzehnte die neue Staatsordnung zu bejahen. In
diesem Sinne schreibt der Historiker Prof. Dr. Georg Thürer:
«Nur
der Ausgleich konnte gesunden Frieden stiften. Der Bundesstaat will
seine Teilstaaten nicht einschmelzen, sondern eingliedern. So blieben
die Ratshäuser der Kantone Stätten der Regierung, sie wurden nicht
blosse Verwaltungsgebäude eines allmächtigen Bundes. […] Uns ist der
Bundesstaat die wesensmässige politische Daseinsform. […] Die Kantone
und die Gemeinden sind überblickbare politische Gebilde, die uns davor
bewahren, im Staate nur die kalte Hand zu sehen. In der demokratischen
Kleinform fühlt man sich viel eher als Träger und nicht nur als
Leidtragender der Politik. Was aber im politischen Leben die Freude an
der Verantwortung hebt, ist nicht so bald zu teuer bezahlt.»8
Die
wichtigsten Inhalte der föderalistischen Ordnung im schweizerischen
Bundesstaat sind das Zweikammersystem, das Erfordernis des Ständemehrs
für Verfassungsänderungen, der Grundsatz der Souveränität der Kantone
sowie das Prinzip der Subsidiarität:
Das Zweikammersystem:
Im Ständerat hat
jeder Kanton zwei und jeder Halbkanton einen Abgeordneten (BV Art. 150).
Demnach haben alle Kantone in der kleinen Kammer das gleiche politische
Gewicht, ungeachtet ihrer Bevölkerungszahl. Dies ist von besonderer
Tragweite, weil der Ständerat die gleichen Kompetenzen hat wie die
Volkskammer, der Nationalrat, also gleichberechtigt ist.
Das Erfordernis des Ständemehrs für Verfassungsänderungen:
Änderungen
der Bundesverfassung, der Beitritt zu Organisationen für kollektive
Sicherheit (zum Beispiel Nato) oder zu supranationalen Gemeinschaften
(zum Beispiel Uno, EU) sowie die Genehmigung von durch die
Bundesversammlung dringlich erklärten Bundesgesetzen unterstehen dem
obligatorischen Referendum. Das heisst, es gibt eine zwingende
Volksabstimmung. Voraussetzung für die Annahme einer Vorlage ist nicht
nur die Mehrheit der Stimmenden, sondern auch die Mehrheit der die
Vorlage bejahenden Kantone, das sogenannte Ständemehr. (Art. 140 BV)
Jede Verfassungs- oder Gesetzesänderung muss zunächst nicht nur die
Volkskammer, den Nationalrat, passieren, sondern auch eine Mehrheit im
Ständerat finden. Anschliessend muss jede Verfassungsrevision in der
Volksabstimmung nicht nur eine Mehrheit der Stimmen erlangen
(Volksmehr), sondern auch die Hürde des Ständemehrs nehmen. So hat im
Laufe der Geschichte des schweizerischen Bundesstaates der Ständerat den
Nationalrat häufig zu einer gemässigteren Lösung «gezwungen»; und wenn
es auch nur sehr selten vorkam, dass Volk und Stände in einer Abstimmung
entgegengesetzte Stimmen abgaben, spielt doch das Ständemehr eine
äusserst wichtige prophylaktische Rolle. Der Bundesrat und das Parlament
haben bei der Ausarbeitung einer Vorlage immer schon vor Augen, dass
sie diese durch eine Volksabstimmung bringen müssen; eine Vorlage,
welche keine Chance hätte, eine Mehrheit der Kantone hinter sich zu
vereinen, muss deshalb schon im Parlament entsprechend geändert werden.
Der Grundsatz der Souveränität der Kantone und das Prinzip der Subsidiarität:
Neben
dem Zweikammersystem und dem Ständemehr als Voraussetzung für
Verfassungsänderungen gehört der Grundsatz der Souveränität der Kantone
und damit im Zusammenhang das Prinzip der Subsidiarität zu den
wesentlichen Merkmalen des Föderalismus schweizerischer Prägung.
«Die
Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die
Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem
Bund übertragen sind.» (Art. 3 BV)
Laut Artikel 3 der
Bundesverfassung sind die Kantone grundsätzlich souverän, das heisst,
sie bestimmen über ihre Angelegenheiten selbst, sie regieren und
verwalten ihren Staat eigenständig. Der Begriff «Staat» bezeichnet in
der Schweiz die Kantone: «Staatssteuern» zum Beispiel sind die Steuern,
welche die Kantone erheben – im Gegensatz zu den «Bundessteuern»; das
«Staatsarchiv» ist ein kantonales Archiv; usw. Die Kantone üben gemäss
Art. 3 BV alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind. Dem Bund
stehen also ausschliesslich diejenigen Kompetenzen zu, welche ihm
ausdrücklich durch die Verfassung zugebilligt werden. Das heisst,
Bundesrecht hat subsidiären Charakter. Ebenso ist das Verhältnis der
Kantone über die einzelnen Kantonsverfassungen zu ihren Gemeinden
geregelt.
Eine wichtige Folge des föderalistischen und subsidiären
Systems in der Schweiz – gepaart mit der direkten Demokratie – ist eine
nachhaltige Finanzpolitik.
6. Nachhaltige Finanzpolitik – die «Schuldenbremse»
Eine wichtige Ursache für den relativ guten
finanziellen Zustand des Schweizer Staatshaushaltes ist die sogenannte
«Schuldenbremse», die seit dem Jahre 2003 auf Bundesebene gilt.
Wortlaut des Art. 126 der schweizerischen Bundesverfassung (BV) Schuldenbremse:
Art. 126 Haushaltführung
1 Der Bund hält seine Ausgaben und Einnahmen auf Dauer im Gleichgewicht.
2
Der Höchstbetrag der im Voranschlag zu bewilligenden Gesamtausgaben
richtet sich unter Berücksichtigung der Wirtschaftslage nach den
geschätzten Einnahmen.
3 Bei ausserordentlichem Zahlungsbedarf
kann der Höchstbetrag nach Absatz 2 angemessen erhöht werden. Über eine
Erhöhung beschliesst die Bundesversammlung nach Artikel 159 Absatz 3
Buchstabe c.
4 Überschreiten die in der Staatsrechnung
ausgewiesenen Gesamtausgaben den Höchstbetrag nach Absatz 2 oder 3, so
sind die Mehrausgaben in den Folgejahren zu kompensieren.
5 Das Gesetz regelt die Einzelheiten.
In
der Schweiz trägt das Volk die Verantwortung für den sparsamen Umgang
mit seinen eigenen Steuergeldern. Die Schweizer bestimmen über die Höhe
ihrer Steuern und über Projekte des Staates. In Bund, Kanton und
Gemeinde entscheiden die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an der Urne
oder in der Gemeindeversammlung über die Erhöhung des Steuerfusses, über
die Einführung oder Abschaffung bestimmter Steuerarten und über eine
Vielzahl von Ausgaben der öffentlichen Hand. Dies tun sie in der Regel
vernünftig und wohlüberlegt, wie der verhältnismässig gute Stand der
Finanzen auf allen drei Ebenen beweist.
Die Schuldenbremse in
Artikel 126 der Bundesverfassung wurde nicht durch die Behörden
beschlossen, sondern durch das Volk, und zwar mit grosser Mehrheit. Am
2. Dezember 2001 stimmten 84,7 Prozent der Stimmberechtigten und
sämtliche Stände (Kantone) dieser neuen Verfassungsbestimmung zu und
erteilten damit dem Bundesrat und dem Parlament den Auftrag, dafür zu
sorgen, dass die Bundesausgaben im Lauf der Jahre die Einnahmen nicht
übersteigen dürfen. Der Souverän selbst übernahm die Verantwortung
dafür, dass die Verschuldung nicht aus dem Ruder laufen kann.
In den
meisten Kantonen hat das Stimmvolk Gesetzen über eine Schuldenbremse an
der Urne zugestimmt beziehungsweise das Referendum dagegen nicht
ergriffen. Auch in den Kantonen setzen also die Stimmbürger den Behörden
Ausgabenschranken.
In den meisten schweizerischen Gemeinden
entscheiden die Stimmberechtigten an der Gemeindeversammlung über das
Budget, das heisst über sämtliche geplanten Ausgaben der kommenden
Jahre. Jeder Schulhausumbau und jeder Ersatz oft noch funktionsfähiger
Computer wird von den Steuerzahlern auf ihre Notwendigkeit überprüft.
Nach jedem Geschäftsjahr kontrolliert die Gemeindeversammlung die
Rechnung; die Exekutive muss jede Übersteigung eines budgetierten
Postens befriedigend begründen können. In Schweizer Gemeinden kommt
deshalb ungetreue Geschäftsführung praktisch nicht vor, geschweige denn
Korruption.
Weiter arbeiten Gemeinderäte und Gemeindepräsidenten nur
in grossen Städten vollamtlich, in den kleineren Gemeinden bekleiden
sie ihr Amt neben einer Erwerbstätigkeit in der Wirtschaft;
dementsprechend sind ihre Gehälter mehrheitlich bescheiden. Die
Schweizer Gemeinden sind in ihrer grossen Mehrzahl nicht sehr
verschuldet, weil das Volk mit seinem eigenen Geld haushälterisch
umgeht.
In der Schweiz verfügen die Kantone und Gemeinden über eine
hohe Finanzautonomie, das heisst, sie kriegen nicht einfach Geld aus
Bundeskassen, das sie dann möglichst grosszügig ausgeben, damit sie
nächstes Jahr noch mehr Mittel erhalten. Vielmehr ist jeder Kanton, jede
Gemeinde selbst verantwortlich für die Planung und Organisation
seiner/ihrer Einnahmen und Ausgaben. Dementsprechend ist der
Bundeshaushalt im Vergleich zu anderen Staaten relativ klein.
«Nur
die Kombination von institutionellen Beschränkungen (Regeln und
Schuldenbremsen), direkter Demokratie und Föderalismus kann die
Verschuldung des Staates begrenzen. In der Schweiz geht die
Finanzautonomie der Kantone und Gemeinden einher mit einer höheren
Eigenverantwortung (fiskalische Äquivalenz).»9
7. Konkordanzdemokratie
Neben der direkten Demokratie zeichnet sich das
Schweizer Demokratiemodell zusätzlich durch die sogenannte
Konkordanzdemokratie aus. Die meisten übrigen demokratischen Systeme
sind als Konkurrenzdemokratie organisiert. In der Konkordanzdemokratie
tritt im Gegensatz zur Konkurrenzdemokratie nicht das Mehrheitsprinzip
als zentraler Entscheidungsmechanismus des politischen Systems in
Erscheinung. In einer Konkordanzdemokratie stehen das gütliche
Einvernehmen und breit abgestützte Kompromisslösungen im Vordergrund und
nicht eine konkurrierende Mehrheitsherrschaft mit wechselnder Rolle von
Regierung und Opposition. Alle wichtigen politischen Parteien werden in
die Entscheidungsfindung einbezogen und bei der Vergabe von politischen
Ämtern sowie Führungspositionen in Verwaltung, Armee und Justiz
ungefähr im Verhältnis zu ihrer Stärke berücksichtigt. Die
schweizerische Konkordanzdemokratie begann sich im Verlauf der 30er
Jahre herauszubilden, und zwar im Gefolge der Überwindung des
ideologisch stark polarisierten Konfliktes zwischen Arbeiterbewegung und
bürgerlichen Kräften.
Ein Ausdruck der Konkordanzdemokratie ist
beispielsweise die seit 1959 geltende sogenannte «Zauberformel»
hinsichtlich der Zusammensetzung des Bundesrates (Exekutive auf
Landesebene). Die vier stärksten Parteien delegieren Vertreter in den
Bundesrat, was dem politischen System Stabilität verleiht und für das
wirtschaftliche System eine gewisse Kontinuität und deshalb auch
Verlässlichkeit zeitigt.
8. Neutralität
Eine Definition der schweizerischen Neutralität
findet sich in keinem Gesetz. In der Bundesverfassung von 1999 ist zwar
die Verpflichtung von Bundesrat und Bundesversammlung festgehalten, die
Neutralität zu erhalten; bis zum Jahr 2000 wurde jedoch die Neutralität
in der Verfassung nicht erwähnt. Die Staatsmaxime der Neutralität war in
der geschichtlichen Überlieferung so selbstverständlich verankert, dass
die Begründer des Bundesstaates von 1848 es nicht für nötig hielten,
sie festzuschreiben. Auch für die Schweizer der Gegenwart ist die
Neutralität eine unverzichtbare Grundlage der Eidgenossenschaft: In
einer vor kurzem veröffentlichten Umfrage der ETH Zürich10 sprachen sich
95% für den Erhalt der Neutralität aus.
Den Ursprung
friedensfördernder Tätigkeit der Schweiz und ihre Verknüpfung mit dem
Neutralitätsprinzip finden wir in der Geschichte der Alten
Eidgenossenschaft: Schon seit dem Mittelalter waren die alten Orte (das
sind die heutigen Kantone) verpflichtet, in innereidgenössischen
Konflikten «stille zu sitzen», das heisst, keiner Partei zu helfen. Sie
wurden sogar zu einer aktiven Neutralitätspolitik angehalten: Im Falle
von Streitigkeiten zwischen den übrigen Kantonen mussten sie versuchen,
eine Vermittlung anzubahnen. Diese zwei Komponenten, die
Nichteinmischung und die Verpflichtung, im Konfliktfalle ihre Guten
Dienste anzubieten, haben sich bis heute erhalten.
Aussenpolitisch
begann die Schweiz nach dem 30jährigen Krieg (1648), die Neutralität zu
beachten; sie schützte sich zum Beispiel davor, in fremde Konflikte
hineingezogen zu werden, indem sie allen ausländischen Truppen das
Durchmarschrecht verweigerte. Nach dem Zusammenbruch des napoleonischen
Regimes im Jahre 1815 bekannte sich die Eidgenossenschaft endgültig zur
Neutralität; damals wurde ihre immerwährende bewaffnete Neutralität auch
von den Grossmächten anerkannt.
Was beinhaltet die schweizerische Staatsmaxime der Neutralität?
Die
Neutralität ist eine «immerwährende», das bedeutet: sie ist nicht von
der momentanen Lage auf der Welt abhängig, sondern gilt sowohl in
Kriegs- als auch in Friedenszeiten.
In Kriegszeiten ist die
Neutralität besonders wichtig: So fanden im Ersten und im Zweiten
Weltkrieg Tausende von Flüchtlingen eine Zuflucht in der Schweiz. Mitten
im Zweiten Weltkrieg, als die Schweiz über Jahre von Kriegsgebiet
umschlossen war, konnten verwundete Soldaten der deutschen und der
alliierten Truppen auf Schweizer Boden ausgetauscht werden; dies wäre in
keinem anderen Land möglich gewesen. Zehntausende von Kindern aus den
Kriegsländern verbrachten mitten im Krieg einen dreimonatigen
Erholungsurlaub in Schweizer Gastfamilien; viele von ihnen pflegen heute
noch den Kontakt zueinander.
Die immerwährende Neutralität
beinhaltet selbstverständlich die Verpflichtung, keinen Krieg zu
beginnen und sich nicht mit einer Kriegspartei gegen eine andere zu
verbünden.
Die Besonderheit der immerwährenden Neutralität zeigt
sich auch in Friedenszeiten: Die Schweiz ist verpflichtet, eine
Neutralitätspolitik zu betreiben, das heisst alle Staaten politisch und
wirtschaftlich unparteiisch zu behandeln.
Zur immerwährenden Neutralität gehört der Verzicht auf die Teilnahme an militärischen Bündnissen wie der Nato.
Die
schweizerische Neutralität ist eine bewaffnete Neutralität: Diese
beinhaltet die Pflicht zur Verteidigung des Landes und der Bevölkerung
im Falle eines Angriffs oder einer Bedrohung.
Das schweizerische
Neutralitätsprinzip beinhaltet andererseits keine Einschränkung der
freien Meinungsäusserung. Selbstverständlich dürfen und müssen wir
Schweizer Stellung beziehen, wenn in einem anderen Land gegen
Völkerrecht oder Grundrechte verstossen wird. Das Recht zur
Stellungnahme haben auch Politiker und Behörden. Jeder, der nicht andere
Ziele verfolgt als die Wahrheitsfindung, weiss, dass die überwältigende
Mehrheit der Bevölkerung und der Politiker zur Zeit des Zweiten
Weltkriegs gegen den Nationalsozialismus eingestellt war und dies auch
zum Ausdruck gebracht hat.
Die Neutralität der Schweiz dient nicht
nur dem eigenen Land. Im Gegenteil: Gerade die heutige Welt mit ihren
Kriegen und dem damit verbundenen menschlichen Elend braucht dringend
neutrale Staaten, die in keine politischen und militärischen Allianzen
eingebunden sind.
Eine bedeutende Wegmarke auf dem
neutralitätspolitischen Pfad der Schweiz war die Gründung des Roten
Kreuzes 1863 in Genf. Nur ein neutraler Kleinstaat konnte – und kann
heute noch – die ehrenvolle Rolle als IKRK-Hauptverantwortlicher
übernehmen, ist doch das Vertrauen aller beteiligten Regierungen und
aller involvierten Bevölkerungsgruppen eine unabdingbare Voraussetzung
für eine erfolgreiche humanitäre Tätigkeit. Dasselbe gilt
selbstverständlich für die Ausübung der Guten Dienste, zum Beispiel in
Form von Vermittlungstätigkeiten und Schutzmachtmandaten. Auch ist der
neutrale Boden, den unser Land anbieten kann, für Zusammenkünfte
verfeindeter Parteien wertvoll. Aktuell glauben laut einer Studie der
ETH Zürich 93% der Schweizer Bevölkerung «an die Schlichter- und
Vermittlerrolle der Schweiz dank der Neutralität».10 Es ist
weltweit bekannt, dass Schweizer Diplomaten, IKRK-Delegierte und andere
humanitäre Helfer dank der Neutralität der Schweiz und ihrer
Unabhängigkeit von Grossmächten und internationalen Organisationen das
Vertrauen von Menschen und Regierungen besitzen. •
1 Gasser, Adolf: Gemeindefreiheit als Rettung
Europas. Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung, zweite, stark
erweiterte Auflage, Basel 1947,
S. 13.
2 Gasser, Gemeindefreiheit, S. 18.
3 von Wartburg, Wolfgang: Geschichte der Schweiz, München 1951, S. 17.
4 Ostrom, Elinor: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen 1999.
5 von Wartburg, Geschichte, S. 11f.
6 Gasser, Gemeindefreiheit, S. 14.
7 Kirchgässner, Gebhard; Feld, Lars P.; Savioz,
Marcel R.: Die direkte Demokratie. Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig, Basel 1999.
8 Thürer, Georg: Gemeinschaft im Staatsleben der Schweiz, Bern 1998, S. 23.
9 Feld, Lars; Kirchgässner, Gebhard: Sustainable
Fiscal Policy in a Federal System: Switzerland as an Example, CREMA Working Paper No. 16, 2005.
10 www.news.admin.ch/message/index.html?lang=de&print_style=yes&msg-id=44710
Quelle: Zeit-Fragen Nr. 29 vom 9. Juli 2012