Von Klaus Faißner
Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass das demokratische System in der Krise steckt. Aber wo sind Auswege aus den Problemen? Ein Plädoyer für die direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild.
Das Volksbegehren für den Ausstieg aus der EU-Atomgemeinschaft Euratom geriet zu einem großen Flop: Nicht einmal 100.000 Österreicher haben es diesen März unterzeichnet. Zuerst waren die Medien weitgehend stumm geblieben, nach Bekanntwerden des Ergebnisses gab es Häme und dann . . . kam die Katastrophe von Fukushima. Laut einer Blitzumfrage bedauerten daraufhin 82 Prozent der Befragten, das Volksbegehren nicht unterschrieben zu haben. Zweifellos hatten viele von ihnen den Weg zum zuständigen Gemeinde- oder Bezirksamt gescheut, weil "es ohnehin nichts bringt". Die Statistik gibt ihnen recht: Die erfolgreichsten Volksbegehren der Zweiten Republik wurden von den Regierenden allesamt mehr oder weniger ignoriert, wie etwa das Anti-Konferenzzentrum-Volksbegehren 1982 oder 1997 das Volksbegehren für ein Gentechnikverbot.
Zahnlose Instrumente
Ab 100.000 Unterschriften ist der Antrag des Volksbegehrens "dem Nationalrat zur Behandlung vorzulegen" – der dann meist von der jeweiligen Parlamentsmehrheit ad acta gelegt wird. Damit ist dieses direkt demokratische Instrument ebenso zahnlos wie die beiden anderen in Österreich: Eine bundesweite Volksbefragung kommt wie eine "normale", d.h. freiwillig in Auftrag gegebene Volksabstimmung nur dann zustande, wenn die Parlamentsmehrheit dies so will. Und diese wollte in den mittlerweile 66 Nachkriegsjahren erst einmal, und zwar im Falle der Volksabstimmung über das AKW Zwentendorf. Ebenso rar waren bisher verpflichtende Volksabstimmungen: Sie sind bei einer Gesamtänderung der Bundesverfassung abzuhalten, was auch erst einmal – 1994 beim Beitritt Österreichs zur EU – geschah und beispielsweise nicht beim umstrittenen EU-Vertrag von Lissabon.
Demokratie beschränkt sich alle – inzwischen – fünf Jahre auf die Wahl einer Partei, die sachpolitische Mitbestimmung ist gleich null. Immer größere Politik(er)verdrossenheit ist die logische Folge. Denn ob die Mehrheit der Österreicher der Gentechnik am Teller, der EU-Osterweiterung, dem Wegfall der Grenzkontrollen, dem Vertrag von Lissabon, dem Verbleib bei Euratom, dem Glühbirnenverbot, dem schrankenlosen Lkw-Transit, der Totalüberwachung über E-Mail, Handy oder Bankdaten, der ständigen Beschneidung der Neutralität bis hin zur Teilnahme an EU-Kampftruppen, den Bankenrettungspaketen oder gar dem "Euro-Schutzschirm" zugestimmt hätte, ist fast schon eine rhetorische Frage. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen das jetzige System der repräsentativen Demokratie als faul empfinden.
Dennoch (oder deswegen?) warnen die meisten Meinungsbildner vor der direkten Demokratie als Alternative. Hier würde "in der Regel politisch Notwendiges dem politisch Populären geopfert", meinte etwa Reinhard Heinisch von der Uni Salzburg vor einigen Wochen in einem Artikel in der "Wiener Zeitung"
("Hat die Demokratie Zukunft?", extra vom 7./ 8. Mai 2011). Zur Untermauerung des Nichtfunktionierens verweist er sogar auf "Volksverführer" des 20. Jahrhunderts, die "vielfach demokratisch legitimiert" gewesen seien – als ob die direkte Demokratie etwas mit dem Aufstieg Hitlers, Stalins & Co. zu tun gehabt hätte.
Nein zu Krieg und EU
Kein Wort findet sich im Artikel über die Schweiz. Aber gerade bei unseren westlichen Nachbarn funktioniert das System der direkten Demokratie seit Jahrhunderten auf regionaler und seit 1848 auf bundesstaatlicher Ebene vorzüglich. Über Volksabstimmungen haben hier die Menschen die Möglichkeit, bereits im Parlament beschlossene Gesetze zu Fall zu bringen, zu ändern oder sogar neue Gesetze zu machen.
Während die EU gebetsmühlenartig als "Friedensunion" tituliert wird, ist die Schweiz mitsamt ihrer Neutralität seit mindestens 150 Jahren eine solche. Während sich Deutsche und Franzosen in blutigen Kriegen gegenseitig niedermetzelten, lebten sie in der kleinen Schweiz mitsamt Italienern friedlich in einer Nation zusammen. Faschistische Bewegungen blieben in der Schweiz auch in den 1930er Jahren deutlich in der Minderheit und wurden vom Volk in ihre Schranken verwiesen.
Doch es kam anders: 2001 stimmten gleich drei Viertel gegen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen. Nach wie vor ist die Schweiz beständig sowohl bei der Wettbewerbsfähigkeit als auch beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf weltweit ganz vorne dabei, die Wirtschaftskrise wurde trotz Großbanken gut umschifft, die Wachstumsaussichten sind rosig und die Arbeitslosigkeit unter Schweizer Staatsbürgern mit 3,1 Prozent niedrig. 2001 votierten die Schweizer mit 85 Prozent – trotz einer recht niedrigen Verschuldung – für eine "Schuldenbremse", die seither auch erfolgreich praktiziert wird.
Ähnlich entwickelte sich während der Wirtschaftskrise nur Schweden, das ebenfalls mit der eigenen Währung gut fährt: 2003 hatten sich in einem Referendum 56 Prozent für die Beibehaltung der Krone ausgesprochen – freilich im Gegensatz zur Intention der Meinungsbildner des Landes.
Transit und Neutralität
Die Beispiele, wie sehr die Schweiz mit der direkten Demokratie besser fährt als Österreich mit der repräsentativen Demokratie, sind vielfältig:
1992 sagten die Schweizer "Ja" zur Milliardeninvestition Alpentransversale mit einem St. Gotthart-Eisenbahntunnel. Diese sollte die Garantie für eine eigenständige und verantwortungsvolle Verkehrspolitik mit einem Schwerpunkt auf Schienentransporte und höheren Lkw-Mauten sein. Tatsächlich stieg die Zahl der Transit-Lkw in der Schweiz von 1994 bis 2007 um nicht einmal ein Drittel, während sie sich in Österreich beinahe verdoppelte. Inzwischen queren ungefähr fünfmal mehr Lkw Österreich als die Schweiz.
In beiden Ländern lehnt die überwiegende Bevölkerungsmehrheit Gentechnik ab. Trotzdem landen in Österreich jährlich rund 500.000 Tonnen Gensoja in den Futtertrögen und somit letztlich Gentechnik am Teller, in der Schweiz ist Gensoja tabu. Bis vor kurzem versuchte die EU-Kommission immer wieder, in Österreich mit dem Hinweis auf den freien Warenverkehr zum Gentechnik-Anbau zu zwingen, in der Schweiz stimmte das Volk für ein generelles kommerzielles Gentechnik-Anbauverbot.
D-Mark, Schilling, Schweizer Franken galten über Jahrzehnte als harte Währungen. Übrig blieb die Schweiz. Alle Warnungen namhafter Wissenschafter bezüglich des Euro wurden ignoriert oder lächerlich gemacht. Heute lacht keiner mehr, wenn vom möglichen Untergang der EU-Währung die Rede ist.
Keine Steuergeschenke
Das Schweizer Sozialsystem ist mit jenem Österreichs vergleichbar, funktioniert aber offensichtlich weit effizienter: Nach Abzug der Steuern und Sozialabgaben bleiben dem Schweizer Durchschnittsverdiener etwa 70 Prozent des Einkommens, dem Österreicher nur rund 50 Prozent. Die Mehrwertsteuer ist mit momentan 8,0 Prozent weit niedriger als hierzulande. Doch stimmten die Schweizer erst 2009 einer Erhöhung um 0,4 Prozent zur Finanzierung der Invalidenversicherung zu.
Für Steuergeschenke gibt es hingegen weniger Verständnis: Als die Zürcher Gemeinderäte den Club of Rome mit 1,8 Millionen Franken anlocken wollten, lehnte dies die knappe Mehrheit der Stadtbewohner in einer initiierten Volksabstimmung ab. Dennoch übersiedelte die Organisation in die Schweiz – allerdings ohne Steuergelder zu kassieren.
1955 errang Österreich neben der Freiheit auch die Neutralität "nach Schweizer Muster". Wurde diese schon seit dem EU-Beitritt laufend beschnitten, so ist sie laut dem Völkerrechtsexperten Manfred Rotter mit der im Vertrag von Lissabon festgehaltenen Beistandsverpflichtung endgültig tot. Auch wenn dem nicht so wäre, macht sie die Teilnahme österreichischer Einheiten an den "EU-Kampfgruppen" oder die mögliche Abschaffung der Wehrpflicht nicht lebendiger. Wenngleich es in der Schweiz auch Aufweichungstendenzen wie die Teilnahme von Truppen an Nato-Übungen gibt, ist der Grad kaum vergleichbar.
Auch wenn die Schweizer in bilateralen Verhandlungen, z.B. bei der Übernahme des Schengen-Abkommens, EU-Regelungen oftmals nachvollziehen, haben sie ihre Geschicke weiter selbst in der Hand. Ihnen ist mehrheitlich klar, dass die gelebte direkte Demokratie des Landes im Gegensatz zur EU-Entwicklung steht. Dem werden die Befürworter des Lissabon-Vertrags das neu geschaffene "EU-Bürgerbegehren" entgegenhalten. Doch worin liegt der Unterschied zum eingangs erwähnten Volksbegehren-Dilemma in Österreich, außer dass EU-weit eine Million Unterschriften mit beträchtlichen Anteilen aus mindestens sieben Ländern gesammelt werden müssen? Wenn das Thema den bestehenden Verträgen widerspricht (z.B. dem Euratom-Vertrag), so darf dies zudem nicht einmal "begehrt" werden.
"Jedes Gesetz, das das Volk nicht persönlich bestätigt hat, ist null und nichtig; es ist kein Gesetz", schrieb der große Philosoph und Schriftsteller Jean Jacques Rousseau. Kein Wunder, dass er nicht nur für die Französische Revolution, sondern auch in Bezug auf das Schweizer System zu einem wichtigen Mann wurde. Direkte Demokratie bedeutet Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Selbstverantwortung, beginnend in der Gemeinde. "Die Schweizer haben kein Bedürfnis, einen Personenkult um ein Individuum zu schaffen oder einen Politiker zu verehren. Dominante Persönlichkeiten machen die Schweizer misstrauisch", erklärte der inzwischen verstorbene Swatch-Gründer Nikolaus Hajek. Die Folgen der Abstimmungen trägt der Bürger im Positiven wie im Negativen selbst. Der Gedanke: "Der Staat sind wir alle" ist dadurch besonders ausgeprägt. Politiker erledigen die laufenden Geschäfte, doch über entscheidende Fragen urteilt (auch) der Bürger.
Elementar für ein Funktionieren dieser Staatsform ist eine Medienvielfalt sowie eine gute Allgemeinbildung, für die der Schweizer Heinrich Pestalozzi wichtige Voraussetzungen geschaffen hatte. Das Volk wird vom Bittsteller zur mitregierenden Opposition, von der "die Macht ausgeht", wie es ja in Artikel 1 der österreichischen Verfassung heißt.
Laut Diethelm Raff, einem engagierten Schweizer Befürworter der direkten Demokratie, gibt es weitere Vorteile des Systems:
– Was vom Volk abgestimmt worden ist, hat hohe Legitimität.
– Das Gemeinwesen wird von viel mehr Personen getragen, weil sie sich damit identifizieren.
– Volksrechte haben integrierende Wirkung auch auf Minderheiten, denn sie können über Abstimmungen ihre Anliegen publik und verständlich machen.
– Da Politiker jederzeit vom Volk korrigiert werden können, kommt es zu einer "Zivilisierung der Gesetzesentwickler" – ohne Abstimmung mit den Bürgern geht es auf Dauer nicht. Und: Volksentscheide sind ausgereifter, da im Vorfeld viele Aspekte einfließen, die bei Expertenentscheidungen nicht berücksichtigt werden.
Schweiz unter Beschuss
Trotzdem bzw. deswegen prasselte ab Mitte der 1990er Jahre heftige Kritik auf jenes Land, das das Sinnbild für Friedensverhandlungen verfeindeter Parteien ist. Von einer Bereicherung der Banken an Naziopfern in zigfacher Milliardenhöhe war ebenso die Rede wie von der Mitschuld an der Verlängerung des Zweiten Weltkrieges. Nach einer jahrelangen Untersuchung urteilte die internationale "Volcker-Kommission": "Die Schweiz und die Schweizer Banken waren für diese schrecklichen Ereignisse
(Anm.: des Holocaust) nicht verantwortlich. Auch waren sie nicht die einzigen, die sichere Zufluchtsorte für die Vermögenswerte von Opfern darstellten."
2009 wurde aufgrund des enormen Drucks aus dem Ausland das Schweizer Bankgeheimnis aufgeweicht, bei dem – auch ausländischen – Behörden nur Steuerbetrug und nicht Steuerhinterziehung gemeldet worden war. Dazu erklärt die Buchautorin Myret Zaki, die als Erste das drohende Debakel der Großbank UBS angekündigt hatte: "Um an das Geld der kleinen Steuerhinterzieher zu gelangen, muss man sie glauben machen, dass auch gegen die großen Fische vorgegangen wird." Doch dies sei nicht der Fall: Steueroasen wie Delaware und Florida in den USA und die britischen Kanalinseln, wo sich Superreiche mit Vermögen ab zehn Millionen Dollar nach wie vor "eine Steuerhinterziehungsbewilligung kaufen" könnten, blieben unbehelligt.
Immer wieder wird auch davor gewarnt, dass es in der direkten Demokratie zur Einführung der Todesstrafe kommen würde. Die Schweiz beweist das Gegenteil: 1938 billigte das Volk ein Verbot der zivilen Todesstrafe, das 1942 in Kraft trat. Als im Vorjahr ein Initiativkomitee die Einführung der Todesstrafe bei besonders schweren Gewaltverbrechen verlangte, blies ein Proteststurm durch den Blätterwald. Kaum publik wurde hingegen, dass Initiator Marcel Graf sein Ansinnen bereits einen Tag nach der Publikation wieder zurückzog. Es sei ihm in erster Linie darum gegangen, Aufmerksamkeit zu erregen, erklärte er.
In jüngster Zeit geriet die Schweiz ebenfalls wegen der Annahme der Volksinitiativen für ein Minarettverbot und für die verpflichtende Ausweisung krimineller Ausländer ins Schussfeld der veröffentlichten Meinung. Für das Minarettverbot warb auch Julia Onken, eine der bekanntesten Feministinnen der Schweiz. In Interviews mit der "Wiener Zeitung" und der "Welt" klärte sie auf: Andere Länder hätten ähnliche Probleme, "jetzt ist eben aufgrund der direkten Demokratie hier diese Eiterbeule geplatzt". Das Minarett sei ein "politisches Symbol für eine Rechtsordnung, in der Frauenrechte nicht vorkommen, und somit ein Zeichen für staatliche Akzeptanz der Unterdrückung der Frau". Und: "Ich halte es für eine intellektuelle Unredlichkeit, zu sagen, ich bin zwar dieser Meinung, aber weil die böse SVP
(Anm.: Schweizer Volkspartei) auch dafür ist, bin ich eben doch dagegen."
Direkte Demokratie heißt, über Sachthemen abzustimmen, über Parteigrenzen hinweg Allianzen zu finden und seine Meinung frei zu äußern. Wie sich herausgestellt hat, kommen dadurch unter den Teppich gekehrte Probleme erst ans Tageslicht. Die Schweiz und die Schweizer sind nicht heilig. Aber eines zeigt das System der Eidgenossen: Die direkte Demokratie – vor allem im Zusammenhang mit Souveränität und Neutralität – funktioniert. Und sie funktioniert sogar sehr gut.
Klaus Faißner ist Ökosystemwissenschafter, freier Journalist und Buchautor. 2010 wurde er mit dem Österreichischen Solarpreis und mit dem internationalen Salus-Journalisten-Sonderpreis für gentechnikkritische Berichterstattung ausgezeichnet. Er ist Gründer der "Initiative Gentechnikverbot".
(
Wiener-Zeitung)