Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas
Am 26. Juni hat der Senat dem US-amerikanischen
Präsidenten Barack Obama in einer Abstimmung das Mandat übertragen,
internationale Handelsabkommen ohne vorherige Konsultation und Debatten der
Parlamente abschliessen zu können. Damit haben sich Kongress und Senat
sozusagen selbst entmachtet. Bei diesen internationalen Verträgen geht es vor
allem um die sogenannten Freihandelsabkommen TTIP und TPP, die weitreichende
Auswirkungen auf die Souveränität der Staaten haben, die diesen Abkommen
beitreten. Wie das Ganze aus völkerrechtlicher Sicht zu beurteilen ist, legt
der renommierte Völkerrechtler Alfred de Zayas in folgendem Interview dar.
Zeit-Fragen: Welche Bedeutung haben die Freihandelsverträge
wie TPP, TTIP oder TiSA für das Zusammenleben der Völker, besonders unter
völkerrechtlichen Aspekten?
Prof. Dr. Alfred de Zayas: Es gibt eine «gewisse
Mythologie des Marktes». Diese wird von Joseph Stiglitz, dem Nobelpreisträger
für Ökonomie, als Marktfundamentalismus bezeichnet, als ein Kult um den Markt.
Es ist beinahe eine religiöse Angelegenheit, wobei die Menschen schwören, dass
der Freihandel das Wohl sowie Fortschritt und Entwicklung der gesamten
Menschheit bewirken würde. Empirisch nachgewiesen hat das bis jetzt noch
niemand, denn da sind Beispiele von Fortschritten, aber auch Rückschlägen,
Finanzkrisen und Arbeitslosigkeit. Ausserdem kann man «Fortschritt» nicht nur
in Geld messen – sondern in Zufriedenheit und Frieden und sozialer
Gerechtigkeit. Diese Handels- und Investment-Verträge gehen zurück vor allem
auf die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges. Die meisten bilateralen Verträge
für Investitionen (BIT), wovon es über 3000 gibt, wurden seinerzeit mit viel
Enthusiasmus angenommen, weil die Staaten sich etwas davon versprachen. Sie
haben allerdings nicht bemerkt, dass in diesen Verträgen verschiedene
Trojanische Pferde versteckt waren.
Wie muss man das verstehen?
Inzwischen ist man sich darüber klar geworden, dass die
Verträge, die meisten mit einer neuen, speziellen Schiedsgerichtsbarkeit, die
hiermit einhergeht, eine andere Weltordnung kreieren, und zwar keine
demokratische mehr. Bestimmte Massnahmen wie niedrigere Zölle usw. sind
durchaus sinnvoll, jedoch sind die Zölle heute schon sehr niedrig.
Es geht also um viel mehr als um ein paar
«Freihandelsverträge».
Bei TPP, TTIP oder TiSA geht es nicht nur darum, diese
Verträge abzulehnen. Es geht darum, das gesamte System, das in den letzten
30 Jahren zustande gekommen ist, zu reformieren, und zwar von Grund auf.
Die Verträge sind das eine, das andere ist der damit verbundene Verlust an
demokratischer Rechtsstaatlichkeit.
Wie sieht das konkret aus?
Rechtsstaatlichkeit bedeutet Transparenz und Verantwortung,
sie setzt eine offene Diskussion voraus. Hier wurde ein Vertrag im Geheimen
verhandelt, wobei Menschenrechtsexperten, Umweltschutzexperten,
Gesundheitsexperten ausgeschaltet wurden – denn sie durften nicht am
Zustandekommen des Vertrages teilnehmen. Und gerade um jegliche Diskussion im
Parlament auszuschalten, sollte gerade dieser Geheimvertrag ohne Debatte im
Parlament durch «fasttracking» als fait accompli dastehen. Undemokratischer
geht es wirklich nicht. Gerade diese Woche hat der Senat in den USA das
«Fasttracking» angenommen. Das Gesetz hat erst den Kongress passiert und tritt
in Kraft, wenn es Obama unterzeichnet hat. Das ist nur ein formaler Akt, denn
er möchte diese Freihandelsverträge so schnell wie möglich abschliessen. Das
Gesetz heisst «Trade Promotion Authority».
Was bewirkt dieses Gesetz?
Es verbietet, dass es im Parlament eine Diskussion und
Abstimmungen über die Ausgestaltung dieser Verträge gibt. Es dürfen keine
Einzelanträge mehr gestellt werden, sondern es gibt nur noch eine
Schlussabstimmung. Damit wird der gesamte demokratische Prozess eliminiert.
Wenn sich das Parlament selbst «entmannt», ist das totalitär und ein Verstoss
gegen Artikel 25 des Paktes der bürgerlichen und politischen Rechte.
Der demokratische Prozess wird ausgehebelt, damit man die
Wirtschaft über die demokratische Ordnung stellen kann.
Ja, darum sind es im Grunde genommen auch keine
Freihandelsverträge, sondern es sind politische Verträge, die unser demokratisches
System abschaffen sollen.
Wie muss man sich das vorstellen?
Die grossen transnationalen Konzerne haben eine gewisse
Revolution gegen die Staatsauffassung des Westfälischen Friedens eingeleitet.
Die Idee beinhaltet eine Abwendung vom Rechtsstaat, weg von der staatlichen
Gerichtsbarkeit, an der die Welt seit 200 Jahren arbeitet, um
Rechtssicherheit herzustellen und um Institutionen zu entwickeln, die es
ermöglichen, gegen Rechtsverstösse vorzugehen. Das wird durch die Einführung
solcher Schiedsgerichte, wie sie in diesen Verträgen vorgesehen sind, nicht
mehr möglich sein und unterläuft letztlich unser demokratisches Rechtssystem.
Was muss man sich unter den Schiedsgerichten vorstellen?
Als erstes einmal sind sie geheim. Es gibt in diesem System
weder Transparenz noch gibt es die Möglichkeit, die «Richter» zur Rechenschaft
zu ziehen. Die Konzerne haben sich eine separate, nicht demokratisch
legitimierte Gerichtsbarkeit eingerichtet und das Prinzip des Westfälischen
Staates ausgeschaltet.
Das heisst, mit diesen Verträgen wird der souveräne
Nationalstaat mit seiner staatlichen Rechtsordnung ausser Kraft gesetzt.
Ja. Es gibt hier zwei Ontologien, die man hier beachten
muss. Die Ontologie des Staates definiert, weshalb ein Staat überhaupt
existiert. Der Staat ist eine organisierte Gesellschaft, die sich selbst
legitimiert, dadurch, dass der Staat die Gesetzgebung zum Schutze der
Interessen des Volkes übernimmt. Die zweite Ontologie ist die Ontologie des
Marktes, die Ontologie des Business, des Geschäftes. Wenn ich investiere, wenn
ich Geschäftsmann bin, wenn ich für eine transnationale Gesellschaft arbeite,
erwarte ich auch einen Profit. Dafür muss ich auch ein Risiko eingehen. Die
Ontologie des Kapitalismus heisst, ein Risiko einzugehen. Durch diesen investor
state dispute settlement mechanism, durch diese neue Schiedsgerichtsbarkeit,
die eigentlich keine Gerichte sind, sondern private Schiedsgerichte, hat man
ein völlig korruptes System etabliert.
Wie funktionieren diese Gerichte?
Die Richter sind meistens Anwälte von grossen Konzernen, und
ich kenne das Metier, ich weiss, wovon ich spreche. Das sind Anwälte der
Wallstreet. Diese Wallstreet-Anwälte, die auf die Stunde 1000 Dollar
verrechnen, die beraten die Konzerne, aber auch die Staaten. Das ist ein
phantastisches Geschäft. Heute sind sie Schiedsrichter, morgen Berater und
übermorgen sind sie CEO eines Konzerns. Man muss sich das einmal vorstellen,
das ist ein durch und durch korruptes System. Aber sie haben es etabliert als
ein trojanisches Pferd. Man hat sich das in den neunziger Jahren überhaupt
nicht vorstellen können, dass so etwas möglich war.
Wo muss man ansetzen?
Zum Beispiel bei der Schiedsgerichtsbarkeit, sie ist völlig
gegen bonos mores, gegen die guten Sitten. Die Bezeichnung contra bonos mores
ist die völkerrechtliche Bezeichnung für Verträge oder für Kontrakte, die gegen
das bonum commune, also gegen das Allgemeinwohl, gegen das Interesse der
Gesellschaft verstossen. Solche Verträge, die contra bonos mores sind, sind
gemäss Artikel 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention nichtig.
Was heisst das dann für die Vielzahl der Verträge?
Was ich in meinem Bericht an den Menschenrechtsrat
vorschlage, ist, sämtliche Verträge, auch die bilateralen, unter die Lupe zu
nehmen. Dort, wo sie gegen das Gemeinwohl wirken, müssen sie gemäss
Artikel 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention entsprechend geändert
werden. Da ist auch eine völkerrechtliche Methode dahinter, die man
«severability», also «abschneiden», nennt. Man muss aber nicht den gesamten
Vertrag verwerfen. Es reicht, dass die Kapitel oder jene Teile des Vertrages,
die gegen das Gemeinwohl verstossen, gestrichen werden, und zwar ersatzlos. Das
ist im Völkerrecht verankert.
Dann könnte man gegen alle Verträge, die gegen das
Gemeinwohl verstossen, vorgehen? Warum hat das noch niemand gemacht?
Weil die Opfer sich nicht organisieren. Während die
transnationalen Konzerne sehr gut organisiert sind.
Opfer sind der jeweilige Staat und die dazugehörige
Bevölkerung?
Ja, natürlich. Wenn ein Staat wie zum Beispiel Ecuador,
Bolivien oder Venezuela einem transnationalen Konzern drei Milliarden oder
5 Milliarden Entschädigung bezahlen muss, bedeutet das, dass diese
5 Milliarden für andere Aufgaben nicht mehr zur Verfügung stehen, um die
notwendigen sozialen Verpflichtungen des Staates wahrzunehmen. Das bedeutet in
allen Bereichen, zum Beispiel bei Infrastruktur, im Bereich des Arbeitsrechts,
im Bereich der Gesundheit und natürlich auch im Bereich der Schule und
Ausbildung usw. fehlt das Geld. Hier haben wir es mit einer anormalen Situation
zu tun, die man, als solche Verträge angenommen wurden, in keiner Weise so
diskutiert hatte. Man darf nicht sagen, die Staaten haben bewusst diese
Verträge akzeptiert und ratifiziert, denn sie wussten das gar nicht, dass eine
contra bonum mores Gerichtsbarkeit existierte.
Wie muss man das verstehen?
Die Schiedsrichter haben eine Interpretation des Vertrages
durchgeführt und umgesetzt, die gegen das nationale und internationale ordre
public verstösst. Diese Interpretation verletzt Artikel 31 und
Artikel 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention. Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand
könnte so etwas zulassen. Sie haben den Begriff der Konfiszierung oder die
Enteignung so übertragen: Wenn mein erwarteter Profit dadurch gemindert wird,
dass der Staat den Mindestlohn erhöht oder er seine Umweltschutzbestimmungen
stärkt, der Konzern also verpflichtet wird, die Verunreinigung des Wassers zu
verhindern, generiert das Kosten für den Konzern und schmälert den Gewinn. Also
eine völlig normale und voraussehbare staatliche Massnahme, die ein
ausländisches Geschäft keinesfalls konfisziert, wird als Konfiskation gewertet,
denn der «Profit» wird vermindert.
Haben die Staaten das nicht schon vorhersehen können?
Es gab bis zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch keine
Entscheide dieser Gerichte. Niemand wusste, dass man das als Expropriation
verstehen würde, wenn der Staat einen Mindestlohn einführt oder seine
Umweltschutzgesetzgebung stärkt. Wenn ein Staat wie zum Beispiel Deutschland
aus der Nuklearenergie aussteigen will, sind das Entscheide, die innerhalb
eines Staates demokratisch gefällt werden können und müssen. Aber das
verringert den Profit. Diese Verringerung des Profits wird dann zur Enteignung
erklärt und dadurch als eine Verletzung der Verpflichtung des Staates gegenüber
dem Konzern. Der Staat muss dann dem Konzern die zu erwartende Gewinnreduktion
bezahlen.
Kennen Sie da konkrete Beispiele?
Zur Zeit versucht Vattenfall, dieser grosse schwedische
Energiekonzern, Deutschland für 4 Milliarden wegen des Nuklearausstieges
anzuklagen. Veolia, ein französischer Dienstleister, die sich auf die
Wasserversorgung von Gemeinden spezialisiert, hat einen Prozess gegen Ägypten
angefangen, weil Ägypten den Mindestlohn erhöht hat.
Das ist absurd. Was ist zu tun?
Ich habe zwei Hauptanliegen. Es muss erkannt werden, dass
die Uno-Charta weltweit anerkannte Massstäbe festsetzt. Die Uno-Charta
garantiert die Souveränität des Staates. Die Uno ist überhaupt auf der Basis
der Souveränität von Staaten aufgebaut worden. Die Einmischung in die inneren
Angelegenheiten von Staaten, das heisst, die Möglichkeit des Staates über die
Höhe und den Gebrauch der Steuern zu bestimmen und zu entscheiden, sind
ontologische oder wesentliche Aufgaben des Staates. Diese Dinge werden in
Artikel 1 und 2 der Uno-Charta festgeschrieben. Artikel 55
und 56 schreiben die Menschenrechte fest. Wenn ein Vertrag diese Artikel
verletzt oder dieser inkompatibel mit diesen ist, hat die Charta den höheren
Rang. Man sagt auf Englisch, «it trumps» (sticht) alle anderen Verträge. Im
Artikel 103 der Uno-Charta steht geschrieben, wenn es einen Konflikt
zwischen der Uno-Charta oder irgendeinem Vertragswerk gibt, muss die Uno-Charta
angewendet werden und nicht der Vertrag. Das muss gerichtlich festgehalten
werden.
Was heisst das jetzt konkret für diese unlauteren Verträge,
die gegen die guten Sitten, Treu und Glauben, das demokratische Prinzip und
damit gegen das Gemeinwohl sowie die Menschenrechte verstossen?
Die Lösung liegt im Internationalen Gerichtshof. Die
Staaten, die in der Generalversammlung sitzen, müssen vom internationalen
Gerichtshof in Den Haag verlangen, dass ein Gutachten erstellt wird, das genau
das erkennt und dann deutlich den Staaten sagt, dass sie keine Verträge
eingehen können, die gegen die Uno-Charta verstossen. Alle diese bilateralen
und multilateralen Handelsverträge, TTP, TTIP usw. sowie die
3000 bilateralen Verträge, die schon existieren, müssen fallen,
beziehungsweise jene Teile, die gegen die Charta verstossen, müssen
abgeschnitten werden (Prinzip der Severability). Aber das muss initiiert
werden. Der Internationale Gerichtshof wird nicht motu proprio aktiv, er
beginnt keinen Prozess von sich aus. Jemand muss die Initiative ergreifen und
die Dinge dem internationalen Gerichtshof vorgelegen.
Wer könnte das tun?
Die Uno-Generalversammlung nach Art. 96 der Charta,
aber nicht ausschliesslich. Es gibt noch andere Gremien, die genau dieselbe
Möglichkeit haben wie zum Beispiel die Internationale Arbeitsorganisation, die
ILO, die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, das Kinderhilfswerk, die Unicef,
die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno, die FAO, und weitere.
Alle diejenigen, die die Konsequenzen schon heute erkennen können. Die
Konsequenzen dieser Verträge sind eine Verletzung des Arbeitsrechtes,
Verletzungen des Rechtes auf Gesundheit, des Rechtes auf Umweltschutz, des
Rechts aufs Leben, denn oft genug werden diese grossen Projekte von
internationalen Gesellschaften durchgeführt, die dann dazu führen, dass
Menschen alles verlieren, in den Selbstmord getrieben werden oder verhungern.
In meinem Bericht an den Menschenrechtsrat wird das alles dargelegt und zur
Diskussion gestellt. •
Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.
(Interview Thomas Kaiser)
Das Gespräch entspricht der persönlichen Meinung von
Professor de Zayas und wurde nicht offiziell in seiner Eigenschaft als
Sonderberichterstatter geführt. Siehe auch www.alfreddezayas.com und http://dezayasalfred.wordpress.com
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen