Es führt kein Weg vorbei am Einsatz für mehr direkte
Demokratie
von Karl Müller
In den Wochen und Tagen um den 3. Oktober herum wurden
die Deutschen daran erinnert, dass es vor 25 Jahren eine geschichtliche
Zäsur gegeben hatte: Die Zweiteilung desjenigen Teils von Deutschland, der nach
1945 von den vier Siegermächten als Besatzungszonen betrachtet und behandelt
worden war, wurde mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum
Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beendet.
Spielfilme und Dokumentationen über die unmittelbare Zeit
vor dem 9. November 1989, dem Tag der Maueröffnung in Ost-Berlin, und vor
dem 3. Oktober 1990, dem Tag des Beitritts der DDR, zeugen von dem
verbreiteten Willen der Menschen, ihr Zusammenleben auf eine neue Grundlage zu
stellen: Demokratie, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaat.
Was ist, 25 Jahre später, davon geblieben?
Das Grundgesetz hätte gute Möglichkeiten für die Erfüllung
der Wünsche der Deutschen geboten. Auf der Anerkennung der Unantastbarkeit der
Menschenwürde und dem daraus resultierenden Bekenntnis zu den Menschenrechten
(Artikel 1 Grundgesetz) gründet sich die Verpflichtung auf einen
demokratischen und sozialen Bundesstaat, der als Rechtsstaat mit
Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle verfasst ist (Artikel 20
Grundgesetz). Die Festschreibung dieser beiden Artikel in der sogenannten
Ewigkeitsklausel (Artikel 79, Absatz 3) und zudem die mehrfache
Berufung auf das Recht, nicht nur auf das Gesetz, als Grundlage jedes
staatlichen Handelns zeugen von einer naturrechtlich orientierten
Verfassungsgrundlage, die – ganz bewusst aus der geschichtlichen Erfahrung mit
der alles Recht mit Füssen tretenden nationalsozialistischen Diktatur heraus
formuliert – über den reinen Rechtspositivismus hinausgeht. Rechtsstaat im
Sinne des Grundgesetzes ist mehr als die Bindung allen staatlichen Handelns an
Recht und Gesetz und die Anerkennung des Rechts eines jeden Bürgers, gegen jede
ihn betreffende staatliche Handlung den Rechtsweg zu beschreiten. Rechtsstaat
heisst auch Achtung und Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte,
Verwirklichung von Volkssouveränität und sozialer Gerechtigkeit.
Sinnkrise des durch das Grundgesetz verfassten
Nationalstaats
Niemand fordert Perfektion von einem Staatswesen, aber der
Abbau von Demokratie, Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Rechtsstaat in den
vergangenen 25 Jahren war doch derart krass, dass jeder Alarm schlagen
müsste.
Selbst ein Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht
sieht das offenbar so, auch wenn er eher moderate Worte wählt. Peter M. Huber
ist Richter im 2. Senat des Gerichts und hat am 1. Oktober 2015 mit
einem Beitrag für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» eine kritische Diagnose
der deutschen Verfassungswirklichkeit vorgelegt.
Gleich zu Beginn schreibt der Verfassungsrichter: «Ein
Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung steckt der durch das Grundgesetz
verfasste Nationalstaat in einer Sinnkrise, der Rechtsstaat zeigt Erosionstendenzen,
die Demokratie schwächelt, das Gewaltenteilungsgefüge hat sich weiter zugunsten
der Exekutive verschoben, und die Entwicklung des Bundesstaats lässt eine
Orientierung vermissen.»
Das Grundgesetz qualifiziere die Bundesrepublik Deutschland
als einen «letztverbindlich handelnden, souveränen beziehungsweise
souveränitätsbefähigten deutschen Nationalstaat». Dessen Zweck sei, «den Deutschen
Sicherheit nach aussen und innen zu gewährleisten, Wohlfahrt, soziale
Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit». Der Amtseid verpflichtet die Staatsorgane,
«ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren
und Schaden von ihm zu wenden» – für Peter M. Huber «keine leere Floskel,
sondern eine verbindliche Konkretisierung des republikanischen Prinzips».
Die Diagnose der Verfassungswirklichkeit fällt demgegenüber
ernüchternd aus: «Der lange Schatten der NS-Diktatur, Globalisierung, Europäisierung
und Individualisierung haben das Wissen um diese Selbstverständlichkeit
erschüttert». Das «Verständnis für Sinn und Zweck des im Dienste seiner Bürger
stehenden Nationalstaats» sei geschwunden. «Der Kern des Rechtsstaats, die
Bindung der Politik durch das Recht (Kant), hat an Wirkmächtigkeit verloren.»
Selbst in der Gerichtsbarkeit gebe es mittlerweile «die Forderung nach einer
Lockerung der Gesetzesbindung».
Eine Vielzahl staatlicher Rechtsbrüche
Huber nennt als konkretes Beispiel den Umgang mit der
Euro-Krise. Zu Recht!
Weitere Beispiele neben den von Peter M. Huber genannten
können hinzugefügt werden:
der westdeutsche Umgang mit den sozialen Rechten der neuen
Mitbürger aus der ehemaligen DDR, wo der Grundsatz, das Eigentum «zugleich dem
Wohle der Allgemeinheit dienen» soll, bei der Privatisierung des ehemaligen
«Volkseigentums» durch die «Treuhand» praktisch nirgendwo geachtet wurde;
der mehrfache Bruch mit den Artikeln 25 und 26 des
Grundgesetzes, wonach die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des
Bundesrechts sind und wonach die Vorbereitung eines und umso mehr die
Beteiligung an einem Angriffskrieg verfassungswidrig und unter Strafe gestellt
sind, seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien;
die Missachtung des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker
durch eine aktive Beteiligung an Staatsstreichen, zuletzt in der Ukraine im
Februar 2014 – und damit die Heraufbeschwörung einer gewalttätigen
Auseinandersetzung im Osten und Südosten des Landes;
die staatliche Akzeptanz von rechtsfreien Räumen, in denen
nur noch das «Recht des Stärkeren» herrscht – erneut hat eine Polizistin darauf
hingewiesen: Tania Kambouri in ihrem Buch «Deutschland im Blaulicht – Notruf
einer Polizistin»;
der Bruch bestehender Rechtsvorschriften im Umgang mit den
ins Land kommenden Flüchtlingen; in einem Brief vom 7. Oktober 2015 an die
deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schreiben selbst 34 CDU-Politiker
und CDU-Amtsträger: «Die gegenwärtig praktizierte ‹Politik der offenen Grenzen›
entspricht weder dem europäischen oder deutschen Recht noch steht sie im
Einklang mit dem Programm der CDU.»
Gefährliche Reden vom «Ausnahemzustand» und von der
«Alternativlosigkeit»
Diese und andere Rechtsbrüche werden von den tonangebenden
Politikern und deren Gefolgsleuten in den Leitmedien immer wieder mit der
Aussage gerechtfertigt, Deutschland befinde sich in einer Art Ausnahmezustand.
Aber wer weiss denn noch, dass diese Art der Rechtfertigung politischer
Entscheidungen jenseits des Rechts in der deutschen Geschichte auf die schiefe
Ebene des Abstiegs in die totalitäre Diktatur geführt hat? Wo der Rechtsstaat
aufhört, hat auch die Demokratie keine Chance mehr. Die wiederholte Berufung
auf den vermeintlichen «Ausnahmezustand» oder auf die vermeintliche «Alternativlosigkeit»
politischen Handelns gehört zur Diktatur und passt nicht zur Demokratie.
Parallel zur Erosion des Rechtsstaats benennt der deutsche
Verfassungsrichter deshalb auch die Gefährdungen der Demokratie. Die zeigen
sich zum Beispiel bei der «Auslagerung von Staatsaufgaben auf unabhängige
Behörden und Private». Die inhaltliche Annäherung der grossen Parteien nehme
«dem Wähler die Möglichkeit zur Einflussnahme. Wo es keine Alternativen gibt,
gibt es auch keine Wahl». Hinzu komme, «dass das Wahlrecht, die Ausgestaltung
der Politikfinanzierung, das Fehlen direkter Demokratie auf Bundesebene sowie
die Organisationsstrukturen der politischen Parteien die Selbstreferentialität
des politischen Systems begünstigen und die Sprachlosigkeit zwischen Bürgern
und Politik verstärken».
Hubers Fazit ist zweigeteilt: Zum einen fasst er zusammen:
«25 Jahre deutsche Einheit unter dem Grundgesetz sind an diesem nicht
spurlos vorbeigegangen. Die Spannungen zwischen Sein und Sollen haben
zugenommen, das Verständnis für seine Grundentscheidungen nicht.» Zum anderen
bietet er einen Ausblick an. Wo die Grundlagen der Verfassungsordnung
erodieren, «sind wir alle gefordert; denn eines haben wir von der erfolgreichen
Revolution in der DDR gelernt: Wir sind das Volk!»
Es gibt Stimmen in Deutschland, die sich in dieser Situation
auf das Widerstandsrecht in Artikel 20, Absatz 4, Grundgesetz
berufen. Dort heisst es: «Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung [des
Grundgesetzes] zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand,
wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.»
Wie sinnvoll ist die Berufung auf das Widerstandsrecht?
Aber wie sinnvoll und wie praktikabel ist die Berufung auf
diese Bestimmung des Grundgesetzes? Das «Widerstandsrecht» wurde Ende der
sechziger Jahre als Ausgleich für die heftig kritisierten Notstandsgesetze ins
Grundgesetz aufgenommen. Die Formulierung ist indes wenig fassbar. Dies gilt
insbesondere für die Bedingung, «wenn andere Abhilfe nicht möglich ist». Wer
entscheidet hierüber? Und wie konstruktiv ist dieses Recht auf Widerstand? Was
heisst «Widerstand»? Manche denken an den 20. Juli 1944. Damals gab es
kein kodifiziertes «Widerstandsrecht». Soll Gewalt erlaubt sein, sollen
Rechtsbrüche erlaubt sein? Wie passen Rechtsbrüche zu einem Eintreten für den
Rechtsstaat? Oder wie sonst soll der Widerstand praktisch aussehen, wenn er
über das, was die Grundrechte sowieso gewähren – Meinungsfreiheit,
Versammlungsfreiheit usw. – hinausgehen soll? Welche Folgen hat er? Wer
übernimmt die Verantwortung für mögliche Opfer, wenn zum «Widerstand»
aufgerufen wird?
Der Verfassungsrichter Huber hat in seinem Text eine
interessante Passage formuliert: «Auch das berühmte Resümee Bärbel Bohleys –
wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat –, das man nicht nur als
lakonischen Hinweis darauf verstehen kann, dass es auch im Rechtsstaat
Ungerechtigkeiten und Härten gibt, sondern als Rechtfertigung dafür, sich im
Interesse individueller Gerechtigkeits- oder Moralvorstellungen über das Recht
hinwegsetzen zu dürfen, mag dazu beigetragen haben, dass das Verständnis für
die Bedeutung von Form-, Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften erodiert
ist. Sie erscheinen manchem Akteur als juristische Quisquilie, wobei der Blick
dafür verlorengeht, dass gerade diese formellen Anforderungen Garanten von
Legitimität und Rechtssicherheit sind. Da es im freiheitlichen Rechtsstaat
keine verbindliche Moral gibt, kann die Berufung auf individuelle Moral- und
Gerechtigkeitsvorstellungen oder politische Opportunitätserwägungen die
Abweichung vom Recht nicht rechtfertigen. Der Rechtsstaat existiert durch das
Gesetz, oder er existiert nicht.»
Man muss diese Ansicht nicht in allen Punkten teilen, aber
auch die berechtigte Kritik am Rechtspositivismus, der in diesen Zeilen
durchscheint, darf nicht dazu führen, mit der Behauptung, ein Gesetz
widerspreche dem Naturrecht, dieses Gesetz nicht mehr zu achten. Geht es nicht
vielmehr darum, sich überall da, wo das positive Recht nicht dem Naturrecht
entspricht, friedlich dafür einzusetzen, dass die Gesetze oder deren Auslegung
sich so ändern, dass sie nicht mehr dem Naturrecht widersprechen? Der reine
Voluntarismus, mag er sich auch moralisch geben und noch so gut begründet sein,
kann keine Grundlage für das Zusammenleben sein. Und wer unterscheidet dann
noch zwischen berechtigtem «Widerstand» und den sattsam bekannten farbigen
Revolutionen und deren Folgen? Soll erneut einem Frühling des «Widerstands» der
Herbst und Winter folgen? Da hat der Verfassungsrichter schon Recht: «Der
Rechtsstaat existiert durch das Gesetz, oder er existiert nicht.»
Statt dessen: Direkte Demokratie
«Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.» Das Volk kann diese
Staatsgewalt auch durch «Abstimmungen» ausüben. So steht es im Grundgesetz.
Zurecht beklagt Peter M. Huber «das Fehlen direkter Demokratie auf
Bundesebene». Den Deutschen wird bislang vorenthalten, was das Grundgesetz
gebietet. Huber gehörte als CDU-Mitglied bis 2012 dem Kuratorium des Vereins
«Mehr Demokratie e. V.» an.
Dieser Verein setzt sich für die Möglichkeit von Volksinitiativen,
Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene ein. Hinzu kommen
Referenden, die dem Volk die Möglichkeit der Ablehnung eines vom Parlament
beschlossenen Gesetzes geben. Das Volk als aktiver Gesetzgeber und
Kontrollinstanz der parlamentarischen Gesetzgebung wäre der Garant dafür, dass
Recht und Gesetz sich annähern. Es wäre ein Garant dafür, dass Demokratie,
Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaat verwirklicht werden könnten.
Die Schweizer Geschichte lehrt dies, aber auch, dass der Weg hin zu mehr
direkter Demokratie ein langer und steiniger Weg ist.
Nach 1990 hat es auch in Deutschland grosse Fortschritte auf
dem Weg hin zu mehr direkter Demokratie gegeben. Vor allem in den Gemeinden hat
sich sehr viel getan. Nur auf Bundesebene gab es – nach vielen hoffnungsvollen
Zeichen vor der letzten Bundestagswahl – mit der neuen Regierung herbe
Rückschläge. Aber mussten deshalb auch die Forderungen nach mehr direkter
Demokratie so viel leiser werden als in den Jahren zuvor? Dafür gibt es keinen
überzeugenden Grund! Warum nicht hier wieder anknüpfen? Denn wirklich: Wir sind
das Volk! Und wir werden nicht ruhen; denn direkte Demokratie ist unser Recht!
Volkssouveränität fängt damit an, dass sich jeder Bürger
auch so sieht: als der wirkliche Souverän. Das braucht Veränderung im Denken
und im Gefühl. Und es braucht Unterstützung. Aber das ist unverzichtbar, die
«conditio sine qua non». Andere Völker wie die Schweizer haben es vorgemacht.
Das können die Deutschen auch. •
(Quelle: Zeit-Fragen)
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