2015-11-19

«In der Schweiz die Dynamik des Finanzkasinos mit der direkten Demokratie begrenzen»


Eine Transaktionssteuer von 0.2 Prozent ergäbe 200 Milliarden pro Jahr

Interview mit Professor Marc Chesney 

Nach dem legendären Crash der Lehman Brothers und der damit allen offensichtlich werdenden Finanzkrise war bald einmal der Ruf nach grösseren staatlichen Kontrollen und besserem Schutz für die Anleger zu hören. Staatliche Kontrolle wollten die Investmentgesellschaften aber auf keinen Fall, dafür schuf man die «Too big to fail»-Klausel und steckte Milliarden an Steuergeldern in die Banken, die sich in der grossen Kasinowelt verspekuliert hatten. Selbst die Schweizer Banken mussten mit 50 Milliarden gestützt werden. Zwar blieben die Forderungen bestehen, und von seiten der Politik wurde zum Beispiel auf eine Erhöhung des Eigenkapitals der Banken gedrängt, das jetzt in der Schweiz auf 5 Prozent angehoben werden soll. Jedoch muss jeder Bürger, der einen Kredit für seinen Hausbau aufnehmen möchte, mindestens 20 Prozent Eigenkapital bringen, was absolut berechtigt ist. Eine Bank, die auf den Finanzmärkten wohlgemerkt spekuliert, kommt hier viel günstiger davon. Auch der geforderte Anlegerschutz nimmt sich eher bescheiden aus. Erst letzte Woche hat der Bundesrat sich nicht dazu durchringen können, den Kleinanlegern mehr Schutz gegenüber den Investmentgesellschaften zu gewähren. Die Politik tut sich schwer, hier konsequent zu handeln. Mehr Schutz vor dem Kasinokapitalismus, wie er sich in den letzten 20 Jahren entwickelt hat, verlangt Professor Marc Chesney. Er ist Direktor des Institutsfür Banking und Finance der Universität Zürich und Autor des Buches «Vom grossen Krieg zur permanenten Krise». Wie er die Lage der Finanzmärkte und der Wirtschaft beurteilt, erklärt er im folgenden Interview.
Zeit-Fragen: Worin sehen Sie die Ursachen für die Finanzkrise in Griechenland? Wie ist der Zusammenhang zwischen der Finanzkrise von 2007 und der Situation in Griechenland heute?
Professor Marc Chesney: Das hängt mit der Schaffung des Euro zusammen. Griechenland wäre nicht in der Lage gewesen, den Euro zu übernehmen. Mit Hilfe fauler Tricks wurde die tatsächliche finanzielle Lage aber kaschiert. Insbesondere hat die Bank Goldman Sachs Griechenland geholfen, einen Teil seiner Schulden zu verstecken. Sie haben das Finanzinnovation genannt, und plötzlich war die Lage in Griechenland anscheinend besser. 
Was hatte das für eine Bedeutung?
Das Land konnte auf einmal die Maastrichter Bedingungen erfüllen. Niemand hat sich in Brüssel, Frankfurt oder Paris gefragt, wie das in so kurzer Zeit möglich war. Zwischen 2002 und 2005 war Mario Draghi Chef von Goldman Sachs Europa, aktuell ist er Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) in Brüssel. Er hat bis heute nie offiziell dieses Vorgehen in Griechenland verurteilt. 
Was hatte das nun für Folgen für Griechenland?
Nachdem Griechenland bereits in der Euro-Zone war, fiel der Zins immer weiter, so dass das Land billige Kredite aufnehmen konnte. Grossbanken in Deutschland und Frankreich kam das sehr gelegen. Beide Länder wollten Waffen an Griechenland verkaufen, was ihre Banken über Kredite grosszügig finanzierten, obwohl bekannt war, dass sich die Wirtschaft und der Staatshaushalt Griechenlands in keinem guten Zustand befanden. 
Was haben sich die Banken hier überlegt?
Sie gingen davon aus, dass Griechenland nach ein paar Jahren die Kredite wieder zurückzahlen würde, was aber illusorisch war; die Schulden sind explodiert. 
Was geschah im Jahre 2011, als das Desaster für alle offensichtlich wurde?
Private Schulden wurden zu öffentlichen Schulden. Das ist eine Schande für Europa. Warum haben Frau Merkel und Herr Sarkozy die Entscheidung getroffen, in Schieflage geratene Banken mit staatlichen Geldern zu unterstützen? Banken sollten verantwortlich sein für das, was sie tun. Wenn deutsche oder französische Grossbanken entschieden haben, Griechenland riesige Kredite zu geben, sollten sie dafür verantwortlich sein wie alle anderen Banken auch. Das heisst, wenn Griechenland bankrott ist und die Schulden nicht zurückzahlen kann, dann müssen sie die Kosten tragen, aber sicher nicht der Steuerzahler. Ziel dieser finanziellen Hilfe durch den Steuerzahler war nicht Griechenland, sondern die Rettung dieser Grossbanken. Warum sollte der Steuerzahler dafür aufkommen? Das hätte man sich schon vor 2011 fragen müssen, jetzt ist die Lage sehr kompliziert.
Was könnte Griechenland in dieser Situation tun?
Man müsste so verfahren wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Schulden waren damals riesig, etwa 200 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Es war klar, dass Deutschland nicht in der Lage sein würde, seine Schulden zu bezahlen. Aus diesem Grund wurde an der Londoner Schuldenkonferenz ein Schuldenschnitt beschlossen. Mehr als 50 Prozent der deutschen Verpflichtungen wurden erlassen. Man sollte das gleiche für Griechenland ins Auge fassen, dessen Schulden 200 Prozent des BIPs erreicht haben. Das ist unbezahlbar und wird nie getilgt werden können. Sogar der IWF hat – leider erst Anfang Juli 2015 – die Realität erkannt, ungefähr zeitgleich mit dem Referendum in Griechenland. Er hat festgestellt, dass das sowohl für Griechenland als auch für Europa unerschwinglich ist. Hier gibt es Probleme zwischen dem IWF auf der einen Seite und der EU sowie der EZB auf der anderen Seite bezüglich der Frage, wer die Kosten tragen wird. 
Was geschieht, wenn die Kreditoren mit einem Schuldenschnitt nicht einverstanden sind?
Dann sollte Griechenland den gleichen Weg wie Ecuador gehen. Das heisst, ein Schulden-Audit durchführen. Anders als in Ecuador sind die Schulden in Griechenland aber mehr öffentlich als privat. Zusätzlich sind heute die Produkte des Finanzkasinos viel mehr entwickelt als vor 20 Jahren. So erlauben zum Beispiel CDS (Credit Default Swaps/Kreditausfallversicherungen), auf einen Bankrott zu wetten. Die Frage bleibt, welche grossen Banken im Falle Griechenlands diese Produkte ge- beziehungsweise verkauft haben. Das ist nicht transparent, und wir werden es erst erfahren, wenn Griechenland einen Teil seiner Schulden nicht mehr bezahlen wird. Dann wird offensichtlich werden, wer hier riesige Wetten eingegangen ist. Wir werden sehen, ob sie in Paris, in Frankfurt, in London oder in New York abgeschlossen worden sind. Zur Beseitigung dieser Intransparenz braucht es mutige Lösungen. Es kann nicht so weitergehen, denn die Schulden sind noch höher als vor dem letzten «Hilfspaket» vom Sommer dieses Jahres. 
Das heisst doch in der Konsequenz, man kann nicht sachlich verhandeln, weil es um so viel Geld geht, dass bei einem Bankrott Geld gewonnen werden kann. 
Diejenigen, welche die CDS kaufen, wetten auf den Bankrott von Griechenland, und diejenigen, die diese verkaufen, wetten, dass es keinen Bankrott gibt. Ein Beispiel dazu ist der Fall Lehman Brothers von 2008. Die amerikanische Versicherung AIG hat die CDS von Lehman Brothers verkauft und glaubte, Lehman würde nie Bankrott gehen. Der Verkauf dieser CDS war eine Geldmaschine. Umgekehrt haben einige Grossbanken, die diese Produkte gekauft haben, alles dafür getan, damit Lehman Brothers Bankrott ging. Heute existiert Lehman Brothers nicht mehr, dafür wird auf Griechenland und andere Länder oder Unternehmen gesetzt. Aber das ist alles intransparent. Nach der Lehman-Pleite wuss­te man, dass die AIG darin verwickelt war, weil sie danach faktisch ebenfalls bankrott war. Wegen diesen Wetten und dem Finanzkasino im allgemeinen leiden die Menschen, insbesondere in Griechenland. Man kann in Euro­pa nicht mit ein paar hundert Euro im Monat überleben. Das ist für die betroffenen Menschen unmöglich. Der Finanzsektor hat die Macht übernommen und pumpt immer mehr Geld aus der Gesellschaft und der Wirtschaft in sich selbst hinein. Mit dem Geld sollten ein Teil der Schulden bezahlt und die griechischen Banken rekapitalisiert werden. Aber das Schuldenvolumen ist viel zu gross, und die Rekapitalisierung der Banken ist ein Fass ohne Boden. All dies ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Wir brauchen hier andere Lösungen.
Die Griechenland-Krise ist ein Symptom der gesamten Situation auf dem Finanzsektor. Die Medien schreiben kaum noch darüber. Hat man nun irgend etwas aus dieser Finanzkrise gelernt, damit so etwas nicht mehr passiert? 
Nein, leider ist das nicht der Fall für die Gesellschaft. Aber die «Too big to fail»-Banken haben etwas gelernt. Sie können heute jedes Risiko eingehen, denn die Gesellschaft wird dafür bezahlen. Sie haben starke Lobbys und können diesen Weg beschreiten. Unsere Wirtschaft basiert ganz allgemein und überall auf Schulden. Aktuell muss sie Schulden machen, um zu versuchen, Wachstum zu fördern, und braucht Wachstum, um einen Teil der Schulden zu finanzieren. Das ist ein Teufelskreis. Am Ende des Tages ist das Wachstum träge, und die Schulden sind untragbar. Deshalb brauchen wir mutige Reformen. Obwohl viel darüber gesprochen wird, sind die Fortschritte sehr bescheiden.
Man sprach doch immer von Regulation. Was hat man denn neu reguliert?
Die Regulation ist zu kompliziert. Mit einem Finanzsektor, der viel zu komplex ist, brauchen wir einfache Regulierungen mit einem Ziel: Der Finanzsektor sollte der Wirtschaft und der Gesellschaft dienen. Dazu muss man nicht ca. 600 Seiten wie bei Basel III schreiben. Weniger Seiten, so wie beim Glass-Steagall-Act, und klare Regeln würden reichen. Die Finanz­institutionen, die Risiken eingegangen sind, sollen diese tragen. In der Tat sind «Too big to fail»-Banken besonders problematisch für die Stabilität des Finanzsektors. Damit der Staat nicht mehr bezahlen muss, brauchen wir kleine Banken, die über ein viel höheres Eigenkapital verfügen. Wir brauchen das Trennbankensystem, wie es in den USA mit dem Glass-Steagall-Act bis 1999 der Fall war. Wir brauchen eine Transaktionssteuer und andere Massnahmen, die einfach und verständlich sind. An der Universität und den Akademien müssen wir die Lehre ändern, weil hier die sogenannte Elite von morgen ausgebildet wird. Das spielt eine bedeutende Rolle für die Zukunft.
Sie haben diese Finanztransaktionssteuer erwähnt. Könnten Sie das noch etwas genauer erklären?
Das ist eine Idee des Finanzunternehmers Felix Bolliger. Sie sieht Folgendes vor: Es gibt in der Schweiz pro Jahr im Umfang von ungefähr 100 000 Milliarden Franken elektronische Bezahlungen, und dies ohne Währungstransaktionen. Das entspricht etwa 160mal dem Schweizer BIP. Wenn man darauf eine Transaktionssteuer von 0,2 Prozent erheben würde, ergäbe dies 200 Milliarden Franken pro Jahr. Das ist mehr als alle Steuern in der Schweiz zusammen, die inklusive der Mehrwertsteuer etwa 170 Milliarden Franken ausmachen. Das System der Transaktionssteuer wäre viel einfacher. Bei jeder elektronischen Transaktion, insbesondere mit der Kreditkarte, würden die 0,2 Prozent abgezogen werden. Diese Steuer wäre keine Art Tobin Tax, das heisst nicht limitiert auf Wertpapiertransaktionen. Sie ist auch nicht als zusätzliche Steuer gedacht, sondern sollte an die Stelle der heutigen Steuern treten. 
Das heisst, es gäbe keine Einkommenssteuer, keine Lohnsteuer usw.
Nein, das bräuchte es dann nicht mehr, aber sie müsste langsam eingeführt werden. Zuerst sollte die Mehrwertsteuer abgeschafft werden. Das hätte sehr gute Auswirkungen auf die Tourismusbranche, denn diese leidet unter dem starken Schweizerfranken. Wir würden unsere Steuern automatisch zahlen, sobald wir zum Beispiel an einem Bankomat Geld beziehen. Konkret würde dies bedeuten, dass ich bei einem Bezug von 100 Franken 20 Rappen Steuern dafür bezahle. Auch wenn wir bar bezahlen, haben wir das Geld vorher vom Bankomat geholt. Letztendlich könnten wir dann theoretisch die Steuererklärung vergessen.
Wenn ich heute an einen Bankomat gehe, der nicht meiner Bank gehört, muss ich viel höhere Abgaben bezahlen.
Ja, wir bezahlen ständig irgendwelche Gebühren. Die Kosten könnten viel niedriger sein, als das heute der Fall ist. Das System der Transaktionssteuer wäre einfach und gut für fast alle Unternehmen und alle Haushalte. Die Arbeitslosigkeit ist in der Schweiz etwas gestiegen, was mit dem teuren Schweizer Franken zu tun hat. Mit dieser neuen Steuer kämen neue Unternehmen vom Ausland in die Schweiz, weil das System weniger Steuern und administrative Belastungen verursacht. Damit könnten neue Stellen geschaffen werden. Für Grossbanken und Hedgefonds sieht es anders aus, sie würden mehr Steuern bezahlen.
Sie meinen wahrscheinlich Grossbanken und Hedgefonds, die insbesondere Hoch-Frequenz-Handel treiben.
Brauchen wir diese Tätigkeiten unbedingt in unserem Land?
Nein, die brauchen wir eigentlich nicht, denn die Wirtschaft funktioniert nicht pro Mikrosekunde. Mit weniger solcher Tätigkeiten in der Schweiz hätten wir mehr Finanzstabilität. Das Transaktionssteuersystem als Lösung liesse sich auch weltweit umsetzen. In der Schweiz haben wir die direkte Demokratie und können so gemeinsam Lösungen finden. Wenn ein solches System in der Schweiz funktionieren sollte, werden sich die Steuerzahler in Deutschland und Frankreich fragen, warum sie dieses System nicht auch haben. Es ist sehr ineffizient, dass ein Staat in der EU 30 bis 40 Prozent eines Lohnes der Mittelklasse als Steuereinnahmen benötigt. 
In der Schweiz könnte man das mit einer Initiative erreichen. Aber was machen die anderen Länder, die diese Möglichkeit nicht haben?
Das hängt vom Bürger ab. Es braucht Bürger, die sich äussern, sich zu Wort melden. Brüssel hat zu viel Macht in der EU. Wenn die Bürger ein solches System wollen, dann müssen sie mit anderen Bürgern und Politikern in ihrer Region sprechen. Letztere sind ihre Vertreter. Auch das Internet könnte zur Diskussion und Unterstützung eines solchen Anliegens genützt werden. Die Initiative muss nur irgendwo beginnen, dann kann sich daraus unter Umständen etwas sehr Dynamisches entwickeln. Wenn wir hier in der Schweiz die Dynamik des Finanzkasinos mit der direkten Demokratie begrenzen, dann wird dies auch auf andere Länder ausstrahlen. 
Sie sehen die direkte Demokratie als Grundlage für ein menschlicheres, gerechteres und daher friedlicheres Zusammenleben. 
Ja, unbedingt. Ich sehe, dass die Demokratie in anderen Ländern sehr blockiert ist. Man wählt links oder rechts, die eine oder die andere Partei, aber es gibt nur eine Finanz- und Wirtschaftspolitik, und zwar die der Finanzmärkte. Es ist ein Monopol, eine Diktatur der Finanzmärkte, und viele Medien helfen dabei mit. Wir brauchen Alternativen, andere Lösungen.
Woran denken Sie dabei?
Zum Beispiel an das Trennbankensystem. Das ist gar nicht utopisch. Warum gibt es heute so viel Finanzverkehr? Dieser ist überdimensioniert im Vergleich mit dem, was die Wirtschaft braucht. Daher rührt die Idee der Transaktionssteuer: Wer viel Geld umsetzt, soll dafür auch Steuern zahlen. Wenn das erfolgreich ist, werden die anderen Länder nachziehen.
Das muss unbedingt diskutiert werden. Kommen wir noch einmal auf die finanzielle Lage von Griechenland und der Ukraine zu sprechen. Sehen Sie die beiden Krisen nicht als Ausdruck der gesamten Situation?
Lassen Sie mich mit einem Vergleich zwischen der Ukraine und Griechenland beginnen. Die Finanzlage in der Ukraine ist katastrophal, die Schulden sind enorm. Und dies um so mehr, als der östliche, abgespaltete Teil gerade ein wichtiger industrieller Teil der Ukraine ist. Und komischerweise verhält sich der IWF gegenüber der Ukraine viel entgegenkommender als gegenüber Griechenland. Für den IWF scheint ein Schuldenschnitt für die Ukraine nicht wirklich problematisch zu sein, für Griechenland war es ein Tabu bis Anfang Juli 2015. Die Frage ist, warum? Und hier ist die geopolitische Dimension besonders relevant. Die Ukraine ist ein Brennpunkt des Wettbewerbs zwischen Ost und West. Sie wurde in den Fokus der EU gerückt, jedoch ohne Mandat. Im Westen des Landes werden Projekte zur Ausbeutung von Schiefergas realisiert, um die Abhängigkeit von russischen Energiequellen wie Gas zu unterbinden, was nicht nur ineffizient, sondern auch gefährlich für die Umwelt ist.
Was sollte man tun?
Alle Beteiligten sollten an einen Tisch sitzen, um zu verhandeln und eine Lösung zu finden. Die Situation in der Ukraine ist schon lange angespannt, was sich unter anderem in der Existenz eines westlichen und eines östlichen Teils manifestiert. Entweder entwickeln sie eine Lösung wie in der Schweiz und leben in einer Art Konföderation friedlich zusammen, oder sonst sollten sie sich trennen. Wenn sich keine gemeinsame Lösung finden lässt, dann lieber getrennte Wege gehen. Was hier entsteht, ist ein neuer Kalter Krieg. Der Fall der Mauer war ein Glücksfall, aber der Westen hat nichts daraus gemacht. Der Westen hat die Gelegenheit nicht ergriffen. 
Was hätte der Westen anders machen sollen?
Der Warschauer Pakt hat sich aufgelöst, aber die Nato ist geblieben. Sie ist nicht nur geblieben, sondern hat sich weiter nach Osten ausgedehnt. Der Westen hat eine riesige Chance verpasst, genauso wie diejenige, in Europa die Atomwaffen abzubauen. Jetzt steigen die Spannungen, und Europa würde die Front bilden. Was wir brauchen, ist ein offenes Europa, ein Europa, das anstelle der Verlängerung kontraproduktiver Wirtschaftssanktionen in der Lage sein sollte, zu verhandeln, um Lösungen zu finden. Das gilt im besonderen für die Schweiz, die als neutrales Land hier sehr wichtig ist. Es gibt eine indirekte Konfrontation zwischen Russland und der Nato, und man kann nur hoffen, dass sie nicht direkt wird. Das ist eine sehr gefährliche Situation. 
Ist das Ganze nicht auch ein Ausdruck der desaströsen Finanzsituation in den USA – den USA, die eigentlich bankrott sind und um ihr Überleben kämpfen gegen Russland und China?
Die Schulden sind nicht nur in der Ukraine oder in Griechenland, sondern auch in vielen anderen Ländern wie zum Beispiel den USA, riesig. Die Gesamtverschuldung, das heisst die Schulden von Haushalten, Unternehmen, Staat und Finanzsektor entsprechen dort etwa 300 %.
Kommen wir nochmals auf die Finanz­situation in Europa zu sprechen. Der starke Schweizerfranken und die Politik der Nationalbank. Wie sehen Sie das?
Als man 2013 damit begonnen hat, den Euro zu stützen, war das keine gute Lösung. Die Nationalbank ist leider nicht gross genug, um gegen Hedgefonds anzutreten. Ich versuche, das zu illustrieren. Es gibt pro Tag Finanztransaktionen in verschiedenen Währungen (Dollar, Euro, Schweizerfranken usw.) in der Höhe von 5000–6000 Milliarden Dollar. In dieser Grössenordnung würde bereits eine Woche ausreichen, um die Bedürfnisse des internationalen Handels mit Gütern und Dienstleistungen zu befriedigen. Alles übrige ist ein Beitrag zum Finanzkasino und erzeugt Systemrisiken. Nehmen wir einmal an, ein Hedgefonds spekuliert, dass der Wert des Schweizerfrankens steigt. Er hat eine Milliarde Eigenkapital und nimmt bei einer Grossbank einen Kredit im Umfang von ca. 20 Milliarden auf, das heisst, er braucht also nur 5 % Eigenkapital und kann mit einer Milliarde für 20 Milliarden spekulieren. Mit 500 Millionen kann er für 10 Milliarden spekulieren und bereits Einfluss auf den Euro/CHF-Kurs ausüben. Tatsächlich betragen die täglichen Euro/CHF-Transaktionen zwischen 50 und 100 Milliarden. Die Nationalbank müsste in der Lage sein, regelmässig Milliarden von Franken auf den Tisch zu legen. Das ist unmöglich. 
Was hätte man statt dessen tun können?
Warum sollte die Nationalbank so viele Euro kaufen? Der Euro ist schwach. Er hat im Vergleich zu Gold in 15 Jahren um etwa 33 % an Wert verloren. Der Dollar ist im Vergleich zu Gold in 100 Jahren mehr als 95 % gesunken, das britische Pfund ebenso. Besser wäre es, in Gold zu investieren, oder noch besser wäre es gewesen, man hätte Anfang des 21. Jahrhunderts einen grossen Teil der Goldreserven der SNB, nämlich etwa 1550 Tonnen, nicht verkauft. Was machen wir mit den Euro ohne einen Staatsfonds? Wir müssen die Euro investieren. Sollen wir so viele deutsche und französische Anleihen kaufen? Eigentlich nicht; so entsteht eine riesige Geldmenge, die nicht mehr in Verbindung mit der Schweizer Wirtschaft steht. Das ist unsinnig. Die Bilanz der SNB explodiert. Wir brauchen eine vernünftige Lösung in Form eines negativen Zinses, aber nur für ausländische Investoren, die mit dem Schweizerfranken spekulieren wollen. Es ist schade, dass die Nationalbank nicht in diese Richtung gegangen ist. Sie hätte dies anstatt der Euro-Anbindung tun sollen. Der Fehler lag bereits in der Entscheidung aus dem Jahr 2011. Jetzt hat die SNB zu viel in Euro und Dollar investiert, die an Wert verloren haben. Ausserdem weiss niemand, was mit dem Euro noch alles geschehen wird. 
Man sollte das Geld in einen Fonds geben und strategisch entscheiden, was man damit machen könnte.
Hätte man schon vorher aussteigen sollen?
Ja, das hätte man tun sollen, als der Franken bei 1,24 oder 1,25 notierte, und nicht erst, als der Franken knapp über 1,20 stand. Wahrscheinlich hing das mit dem Entscheid der EZB, mit dem Aufkauf von Staatsanleihen zu beginnen, zusammen. Eins hat uns die Situation gelehrt. Es ist nicht möglich, unendlich viele Euro zu kaufen. Die Bilanz kann nicht unendlich vergrössert werden. Was wir brauchen, sind Nationalbanken, die eine vernünftige Geldpolitik betreiben. 
Wie beurteilen Sie das Verhalten der EZB?
Das Ziel der EZB war, die Inflation einzudämmen. Sie wurde eingedämmt und ist heute sogar zu niedrig. Die EZB möchte zwei Prozent Inflation erreichen, das funktioniert aber nicht. Sie möchte die Stabilität der Finanzmärkte erhalten. Das ist leider nicht gelungen. Die EZB betreibt wie die USA das Quantitative Easing. Sie haben schon viel Geld in die Wirtschaft gepumpt, aber das funktioniert nicht, das Geld bleibt im Finanzsektor. Aus diesem Grund haben wir eine versteckte Inflation auf den Finanzprodukten, bei den Aktien und Immobilien. Daraus wird eine riesige Blase. Bis jetzt gibt es keine Inflation, denn das Geld bleibt im Kreis des Finanzkasinos.
Das ist also der Grund, warum wir noch keine Inflation haben?
Ja. Aber wenn die Inflation kommt, dann könnte sie riesig sein, weil die Geldmenge so aufgeblasen ist. Im Moment geschieht nichts. Es gäbe eigentlich vernünftige Lösungen, wie man das Geld in die Wirtschaft leiten könnte, aber zurzeit spielen die Zentralbanken mit dem Feuer. Sie haben uns in eine Sackgasse gefahren und geben weiterhin Gas. Sie werden noch mehr Geld hinzufügen, aber Unternehmen bekommen nach wie vor nicht genügend Kredite. Es gibt so viele Bereiche, die auf Kredite angewiesen wären. So müsste zum Beispiel in den Energiesektor investiert werden, weil hier dringend Geld benötigt wird. 
Was wäre die Lösung für Europa?
Um die Wirtschaft anzukurbeln, wäre es für die EZB besser, direkt den Unternehmen, die nachhaltige Investitionsprojekte realisieren möchten, Geld zu 0 % auszuleihen. Wir brauchen auch mehr direkte Demokratie, das ist das Wichtigste. Die Menschen müssen mitbestimmen können, wodurch es eine stärkere Kontrolle gibt. Zudem braucht es weitere Massnahmen wie das Trennbankensystem usw. Es kann nicht sein, dass am Ende der Steuerzahler geradestehen und immer mehr bezahlen muss. Die Steuern sind zu hoch. Zwischen Oktober 2008 und Oktober 2011 haben die europäischen Staaten etwa 4500 Milliarden Euro ausgegeben, also gut 37 % ihres BIPs, um ihren Bankensektoren zu helfen, mit dem Erfolg, den wir kennen! Gemäss IWF im April 2014 umfasst der Wert der Staatsgarantien für Grossbanken in den Jahren 2011/2012 in den USA und in der Schweiz etwa 50 Milliarden US-Dollar und mehr als 300 Milliarden in der Euro-Zone.
Wir Bürger bezahlen das. Das ist doch unverhältnismässig. «Too big to fail»-Banken zu subventionieren oder sogar zu retten, widerspricht dem Liberalismus, mit welchem sich die Finanzsphäre umhüllt. Wir brauchen kleine Banken, die viel effizienter für die Wirtschaft arbeiten.
Herr Professor Chesney, vielen Dank für dieses Gespräch.    •
(Interview Thomas Kaiser)

(Quelle: Zeit-Fragen)

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