Im
Niemandsland zwischen der EU-Kommission, dem EU-Parlament
und den Regierungen der Mitgliedstaaten entscheidet sich
im Nebel das Schicksal der EU.
22.12.2018,
Frankreich, Paris: «Gelbwesten»-Demonstranten gehen durch
eine Rauchwolke nahe dem Tuileriengarten in Paris. (Foto:
dpa)
Das
Schauspiel ist beängstigend: In Brüssel agieren die
Vertreter der EU als ob sie an der Spitze einer
gesicherten, erfolgreichen Weltmacht stünden und in der
Realität der EU-Mitgliedstaaten wächst der Unmut und
begünstigt EU-kritische Parteien.
In fünf Monaten wird das EU-Parlament gewählt und in der
Folge eine neue EU-Kommission gebildet. Jetzt starten die
Abgeordneten in den Wahlkampf und werden
wie üblich argumentieren: „Die EU macht Fehler, aber
darüber muß man hinwegsehen, weil die EU den Frieden in
Europa sichert.“
Allerdings: Die Fehler sind offenkundig so groß, daß das
Friedensargument bei vielen nicht mehr zieht. Für
die Bürger sind die 751 Abgeordneten weit entfernt und
kommen den Menschen auch nicht näher, wenn sie sich
großzügig 4.416 Euro Spesen im Monat genehmigen, über
die sie frei verfügen können. Vor kurzem hat das
Gericht der Europäischen Union, eine dem EuGH
nachgeordnete Einrichtung, sogar in einem Urteil
bestätigt, dass die Abgeordneten die Verwendung der Mittel
nicht offenlegen müssen.
Die
Politik will die gut dotierten Posten bewahren
Angesichts
der aktuellen Parteienlandschaft in den EU-Staaten werden im
nächsten EU-Parlament viele der aktuell tätigen 751
Abgeordneten nicht mehr vertreten sein. Und das gilt nicht
nur für die 73 Briten, die durch den Brexit ausscheiden. Nahe
liegend wäre wohl, daß das Parlament künftig statt 751 nur
mehr 678 Mitglieder haben wird, wenn Großbritannien nicht
mehr Mitglied ist. Das ist keineswegs sicher. Viele
Politiker arbeiten darauf hin, daß die Zahl gleich bleibt
und die frei werdenden gut dotierten Posten Parteifreunden
zugutekommen.
Das
EU-Parlament ist nur ein Parlament mit beschränkten
Möglichkeiten
Vor
allem aber ist das EU-Parlament nur bedingt als Parlament
und als demokratische Einrichtung zu bezeichnen. Die
entscheidende Aufgabe, Gesetze zu beschließen, ist nur
eingeschränkt gegeben. Die im EU-Rat vertretenen
Regierungen der EU-Staaten müssen mit den geplanten
Bestimmungen einverstanden sein.
Dies ist eine elementare Verletzung der demokratischen und
rechtsstaatlichen Prinzipien: Ein
Parlament hat Gesetze zu beschließen, eine Regierung hat
unter Beachtung der Gesetze zu regieren. Dieses erste
Element der Gewaltenteilung ist von vornherein nicht
gegeben.
Im
Trilog fallen Entscheidungen ohne demokratische
Legitimation
Geschwächt
wird das kluge, vom französischen Philosophen Montesquieu
formulierte Prinzip noch durch die Rolle der EU-Kommission.
· Diese
versteht sich als eine Art europäischer Regierung ohne die
dafür erforderliche Kompetenz zu haben.
· Somit
kommt die groteske Situation zustande, daß ein Parlament,
das nur beschränkt diese Funktion ausübt, eine Kommission,
die keine Regierung ist, sondern eine Kommission mit
diffusen Aufgaben, und die Regierungen der
EU-Mitgliedstaaten Gesetze beschließen. Daher wird ständig
von der Notwendigkeit eines „Trilogs“ aus Parlament,
Kommission und Rat der Regierungen geredet.
· Das
Paradoxon ist noch ärger: Die Regierungen der
Mitgliedstaaten sind in ihren Ländern den nationalen
Parlamenten Rechenschaft schuldig, beschließen aber in
der EU Gesetze, die die nationalen Parlamente binden.
In
der EU sind Gesetze nicht Gesetze, sondern Richtlinien und
Verordnungen
Um
die Verwirrung noch größer zu machen, heißen die Gesetze
in der EU nicht Gesetze, sondern Richtlinien und
Verordnungen. Somit ist einem Großteil der Bevölkerung in
der EU nicht klar, wie die Bedingungen und Vorschriften
zustande kommen, die alle einzuhalten haben. Die Ironie:
Auch die Akteure in der EU sind ständig in einem Labyrinth
verloren.
Die
Verwirrung beschränkt sich nicht auf die sonderbare Findung
von Entscheidungen im „Trilog“. Schon die beiden
Gesetzesformen sind in ihrem Wesen eigenartig:
· Die
Richtlinien müssen von den nationalen Parlamenten in
nationales Recht gegossen werden und haben dabei einen
vorgegebenen, allerdings geringen Spielraum, der ihnen
bestimmte, kleinere Abweichungen von den Richtlinien
ermöglicht.
· Die
Verordnungen hingegen sind Regelungen, die unmittelbar
in der gesamten EU gelten und in allen Ländern gleich
angewendet werden müssen. Bei Verordnungen sind die
Parlamente der Mitgliedstaaten ausgeschaltet.
Die
EU-Kommission agiert als Parlament, Regierung
und Strafbehörde in einem
Mit
dem 2009 in Kraft getretenen Lissabonner Vertrag kamen
weitere Chaos-Elemente hinzu.
Seit bald zehn Jahren beschließt das Parlament nur mehr
„Prinzipien“ zu den einzelnen Themen, also vage Vorgaben
wie ein Bereich gesetzlich geregelt werden soll. Die
Formulierung der Bestimmungen im Detail wird der
EU-Kommission auf der Basis so genannter „delegierter
Rechtsakte“ überlassen. Die Kommission beschließt in der
Folge „Verordnungen“, die genauso wie Verordnungen des
EU-Parlaments unmittelbar in der gesamten EU gelten. Die
Kommission gibt auch Leitlinien heraus, wie die
Verordnungen zu interpretieren sind und ist zuständig
für die Bestimmung von Strafen bei Verletzung der
Regeln. Das Parlament hätte die Möglichkeit, in den
Prozess einzugreifen, tut dies in der Regel nicht,
sondern belässt es bei der Delegierung. Ebenso könnte
der EU-Rat der Regierungen die Kommission bremsen, das
geschieht aber auch nicht.
Somit
wurde aus der Kommission, die keine Regierung und kein
Parlament ist, eine zentrale Schaltstelle, die in vielen
Bereichen als Parlament, Regierung und Strafbehörde in
einem agiert. Somit ist es kein Wunder, wenn die
Kommission in so manchen Kommentaren mit den
Zentralstellen der untergegangenen Sowjetunion verglichen
wird.
Die
Kommission versucht diesen Eindruck zu korrigieren, indem
sie umfangreiche Befragungen der Betroffenen durchführt.
Nachdem aber letztlich doch praxisfremde Regelungen zustande
kommen, überzeugt die vermeintliche Einbindung der Praktiker
nicht. Vor
allem seitdem die Kommission in fast alle Lebensbereiche
der Gesamtbevölkerung eingreift und sich nicht auf wenige
Spezialgebiete beschränkt, wird der Unmut immer größer.
Das prominenteste Beispiel für das Auslösen einer
allgemeinen Verärgerung, ohne das angestrebte Ziel zu
erreichen, ist die Datenschutzgrundverordnung.
Zwei
Präsidenten und 27 Ratsvorsitzende
Der
Lissabonner Vertrag hat nicht nur die Stärkung der
Kommission gebracht. Auch sollte ein Präsident der EU
geschaffen werden. Früher schien das der Präsident der
EU-Kommission zu sein, der das EU-Parlament überzeugen
muß, bevor er oder sie das Amt antritt. Seit 2009 hat die
EU außerdem auch einen ständigen Präsidenten des Rats der
Regierungen, den nicht das Parlament, sondern nur die
Regierungen bestimmen.
Der Ratspräsident hat keine konkrete Macht und so ist
seine Position durch den alle sechs Monate von einem Land
zum anderen wandernden „Ratsvorsitz“ relativiert. Da aber
die Ratsvorsitzenden aus den Mitgliedstaaten stets nur ein
halbes Jahr aktiv sind und deren Land erst nach 28,
künftig 27 Halbjahren wieder an der Reihe ist, entsteht
keine politische Kraft.
Irgendwo,
im Niemandsland zwischen der Kommission, dem Parlament und
den Regierungen der Mitgliedstaaten entscheidet sich im
Nebel das Schicksal der EU.
Das
EU-Budget – die in Zahlen gegossene, falsche Politik
In
der Politik gilt die Regel, das Budget sei die in Zahlen
gegossene Politik. Die jährlichen Ausgaben der EU
schwanken um die 150 Mrd. Euro –skurriler Weise etwa eine
Größenordnung, die der Summe sämtlicher derzeit
anfallender Defizite der EU-Staaten entspricht. Mit
den nach Brüssel aus den Staaten fließenden Mitteln werden
problematische Aktivitäten finanziert, die man auch
weiterhin betreiben will. Bei
den derzeit laufenden Gesprächen über das Budget der
nächsten Jahre wird vor allem diskutiert, welche
Länder den Ausfall der britischen Beiträge ausgleichen
werden und wie man mit kleinen Einsparungen da und dort
über die Runden kommt. Und: Wie man möglichst noch
mehr Geld als bisher ausgeben könnte.
- Man wird die Agrarförderung fortsetzen, obwohl zahlreiche Analysen das System als ineffizient und ineffektiv bezeichnen,
- obwohl ein beachtlicher Teil der Gelder in einem Wust von Bürokratie versickert.
- Beibehalten wird auch die Regionalförderung, die mit der Gießkanne Kleinprojekte wie beispielsweise Wanderwege EU-weit finanziert und dabei mühsam Gelder aus Brüssel mit Mitteln aus den Staaten in einer so genannten Kofinanzierung verbindet. Das hehre Ziel, schwache Regionen dem Niveau der reichen Gebiete anzunähern, wird verfehlt.
- Auch an der Forschungsförderung wird nicht gerüttelt, zu der Interessenten nur mit der Hilfe von Förder-Spezialisten vordringen.
- Zudem wird es zahllose andere Förderungen weiterhin geben, wobei man reformwillig verkündet, daß die Anzahl verringert wird.
- Mit öffentlichen Eingriffen wie in einer gelenkten Staatswirtschaft soll die Wettbewerbsposition der EU gestärkt werden. Man scheut sich nicht, einzelne Detailergebnisse von Unternehmen als Erfolg der EU zu feiern und merkt nicht, daß der 500-Millionen-Menschen-Markt insgesamt zu wenig investiert und zu wenige Innovationen schafft.
- Die Realität ist beklemmend: Die USA und der Euro-Raum haben mit über 300 Millionen etwa die gleiche Anzahl von Einwohnern. Die Wirtschaftsleistung der USA beträgt fast 20.000 Mrd. Dollar im Jahr, jene des Euro-Raums etwa 11.000 Milliarden Euro. Darüber müßte man in der Kommission nachdenken, statt Wanderwege zu fördern.
Auch
die EU-Richter agieren als Rechtsproduzenten
Die
Mißachtung der Gewaltenteilung beschränkt sich nicht auf
die verfilzte Konstruktion von Parlament, Kommission und
Rat sowie den rechtsstaatlich unerträglichen, delegierten
Rechtsakten der Kommission.
Als dritte Säule einer funktionierenden Gewaltenteilung
fungiert neben dem Parlament, das die Gesetze beschließt,
der Regierung, die das Land verwaltet, die Gerichtsbarkeit,
die unabhängig Auseinandersetzungen im privaten wie im
öffentlichen Bereich entscheiden soll. Diese Aufgabe hat für
das EU-Recht der kurz als EuGH bezeichnete Europäische
Gerichtshof in Luxemburg– nicht zu verwechseln mit dem vom
Europarat getragenen Europäischen Gerichtshof der
Menschenrechte in Straßburg.
Der
EuGH hat grundsätzlich die Aufgabe festzustellen, ob das
Recht der EU eingehalten wurde. Dies war schon angesichts
der eigenartigen Rechtsfindung über den Trialog von
Parlament, Rat und Kommission bereits vor dem Lissabonner
Vertrag ein problematischer Auftrag, da oft keine klaren
Vorgaben als Rechtsgrundlage zur Verfügung standen. Also
wurden die Entscheidungen des EuGH wesentlich von den
Auffassungen der vortragenden Generalanwälte und der
urteilenden Richter bestimmt. Diese entwickelten sich zu
einer Art Ersatzparlamentarier und Neben-Politiker, eine
Rolle, die Richter meiden sollten.
Jedenfalls
kam so ein weiteres Element der Rechtsfindung zustande, das
auch aus anderen Gründen problematisch ist.
- In Kontinentaleuropa dominiert der so genannte Rechtspositivismus, wonach das Recht auf Gesetzen beruht.
- In den angelsächsischen Ländern kann man von einem „Richterstaat“ sprechen. Die Richter haben tatsächlich eine gewichtige Rolle in der Rechtsfindung.
- In der Praxis haben in beiden Rechtswelten höchstgerichtliche Entscheidungen eine zentrale Bedeutung.
Die
EU-Bürger sind wehrlos, weil die Behörden die Gesetze
machen
Seit
2009, seit dem Lissabonner Vertrag ist ein weiteres
Problemfeld entstanden, man könnte fast von einem
juristischen Minenfeld sprechen. Nachdem sich das
Parlament auf die Festlegung von „Prinzipien“ beschränkt
und die Formulierung der Normen, der Regeln und auch der
Erläuterungen der EU-Kommission überläßt, kommt nun ein
Teufelskreis zustande.
Rechtsstreitigkeiten
entstehen, wenn Bürger oder Organisationen oder auch Staaten
der Ansicht sind, daß ihre Rechte verletzt wurden. Die
EU-Regeln schaffen vielfach Kompetenzen von öffentlichen
Stellen und somit richten sich Beschwerden gegen Behörden. Der
EuGH hat zu entscheiden, ob die bekämpfte Entscheidung
eines Amts mit dem EU-Recht konform war. Nur: Die
Bestimmungen werden von der Behörde, also der
EU-Kommission im Rahmen der „delegierten Rechtsakte“ und
in Form von Verordnungen gemacht. Die staatlichen Stellen
in den einzelnen Mitgliedstaaten halten sich an die
Vorgaben der Kommission.
Somit
sind die Beschwerdeführer und die Richter in einer Falle
gefangen.
· Der
EuGH ist bei seiner Entscheidung mit den Normen
konfrontiert, die die Behörde geschaffen hat und die als
Verordnung zu EU-Recht wurden.
· Als
Hüter der EU-Rechts muß der EuGH diese Normen bei seinen
Entscheidungen berücksichtigen.
· Eine
Beschwerde gegen eine Behörde trifft folglich bei Gericht
auf Bestimmungen, die die Behörde geschaffen hat. Der
Gang zum Gericht endet in einer endlosen Schleife.
· Auf
diese Weise sind die rechtsstaatlichen Grundsätze außer
Kraft gesetzt.
· Der
EuGH könnte in seiner Tradition, selbst im Rahmen seiner
Urteile Recht zu schaffen, gegen die bestehenden Regeln
entscheiden. Damit würde er aber EU-Recht ändern, das er
seinem Auftrag nach zu wahren hätte.
· Die
Groteske:
o Jetzt
ist der kontinentaleuropäische Grundsatz, wonach Recht auf
der Basis von Gesetzen beruht, weitgehend ausgehebelt.
o Man
wechselt aber nicht zum angelsächsischen Prinzip, wo der
Richter eine zentrale Rolle hat.
o Bestimmend
sind nun die Regeln, die die Behörden aufstellen.
Nachdem
die EU-Regeln geradezu allgegenwärtig sind, kommt es laufend
zu Verärgerungen in den verschiedensten Bereichen. Zudem
werden die oft praxisfernen Bestimmungen mit
Millionen-Strafen kombiniert, sodaß der oder die
Einzelne nicht wagt, die Vorgaben zu ignorieren. Aus
dieser Konstellation wächst der Ärger über die EU, der
maßgeblich die europäische Politik bestimmt.
Beklemmend
ist der Umstand, daß zwar sehr viel und sehr lautstark an
der EU vorgebrachte Kritik zu hören ist, aber ein
konstruktives Bemühen um eine Erneuerung der Gemeinschaft
kaum erfolgt. Dabei würden die kommenden fünf Monate bis
zu Wahl des EU-Parlaments eine gute Gelegenheit bieten,
für eine produktive EU-Politik zu werben. Die aktuell
tätigen Parlamentarier, Kommissare und Regierungen könnten
beispielsweise damit beginnen, das Budget auf seine
Effektivität hin zu prüfen statt den bisherigen Haushalt
fortzuschreiben.
Im Moment wird wenig getan, um die EU zu reformieren, womit
tatsächlich das viel zu oft von Politikern strapazierte und
zitierte Friedensprojekt gefährdet ist.
***
Quelle:
Deutsche Wirtschafts Nachrichten,
Ronald Barazon |
Veröffentlicht: 25.12.18 18:11 Uhr
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