2021-04-30

Alternativen zum «Great Reset

 Es kommt auf eine friedensfördernde, kleinräumig orientierte Geldordnung an

Interview mit Prof. Dipl.-Ing. Dr. Heinrich Wohlmeyer

Zeit-Fragen: Herr Professor Wohlmeyer, in der nun schon mehr als ein Jahr andauernden Corona-Krise werden wir erneut mit der Behauptung konfrontiert, diese Pandemie lasse für unsere künftige Ordnung von -Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nur einen Weg zu. Klaus Schwab, Gründer und Direktor des Weltwirtschaftsforums WEF, hat versucht, diesen einen Weg festzulegen: in seinem gemeinsam mit Thierry Malleret geschriebenen Buch «Covid 19: The Great Reset», deutsch: «Covid 19: Der grosse Umbruch». Wie beurteilen Sie dieses vermeintlich alternativlose Konzept?
Heinrich Wohlmeyer
Klaus Schwab geht davon aus, dass die vierte industrielle Revolution dank der technischen Fortschritte in Biologie (insbesondere Genetik), IT (Big data und Digitalisierung bis hin zu Internet of Things [IoT], 3D-Drucken usw.), Physik (bis hin zur Nanotechnik), Verkehr (z. B. Einsatz von Drohnen im Dienstleistungsbereich) weltweit keinen traditionellen gesellschaftlichen Stein auf dem anderen lassen wird. Wir hätten ein Opportunitätsfenster (window of opportunity), das es zu nutzen gelte, um eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen. Dies erfordere eine technisch unterstützte Weltregierung (Global governance).

Kriterien zur Beurteilung des «Great Reset»

Ich schlage vor, dass wir zur Beurteilung der im «Great Reset» gemachten Beurteilungen und Vorschläge die drei Kriterien des verstorbenen Sozialethikers Prof. Johannes Schasching benutzen:

  • Ist eine Vorgangsweise sachgerecht?
  • Ist sie menschengerecht?
  • Ist sie gesellschaftsgerecht?

Hinzunehmen möchte ich die Empfehlungen des Nobelpreisträgers für Neurologie Prof. John C. Eccles und des Schweizer Verhaltensbiologen Prof. Hans Zeieraus deren 1980 erschienenen gemeinsamen Buch «Gehirn und Geist. Biologische Erkenntnisse über Vorgeschichte, Wesen und Zukunft des Menschen». Sie fordern für eine geglückte, der Natur des Menschen angepasste Gesellschaftsgestaltung überschaubare gesellschaftliche Einheiten mit direkten physischen Kontakten und einsichtigen Rollen sowie eine diesbezüglich angepasste Technologie.
  Schliesslich noch die leicht merkbaren fünf Systemprinzipien der Biosphäre, die ich in die ökologische Diskussion eingebracht habe (Schlüsselprinzipien zur nachhaltigen, der Natur und dem Menschen angepassten Gestaltung der Bedarfsdeckungssysteme):

  • solare Orientierung der Energiebereitstellung (angepasster lokaler Mix),
  • möglichst geschlossene Stoffkreisläufe,
  • kaskadische Nutzung von Energie und Materialien sowie Reparatur, Instandhaltung und Wiederverwendung,
  • biologische Vielfalt (Wahrnehmung aller sich anbietenden Synergismen und damit auch Resilienz und Stabilität),
  • Dezentralisierung und intelligente Vernetzung als Grundbedingung für die Verwirklichung der vorstehenden Prinzipien und der Berücksichtigung der humanbiologischen Erfordernisse.

Alle Orientierungen sollten in den Versuch der unvoreingenommenen Beurteilung einfliessen.

Eine anonymisierende globale Gleichschaltung

Können Sie dies genauer erläutern, zum Beispiel bezüglich des Kriteriums der Menschengerechtigkeit?
Da wir auf das Leben und Wirken in überschaubaren Gruppen ausgelegt sind, führt eine anonymisierende globale Gleichschaltung, in der der Mensch nur eine Nummer im Globalkollekiv ist, nicht nur zur Verminderung des individuellen Glücks, sondern auch zur Zunahme psychischer Erkrankungen, die wieder zusätzlich das Immunsystem schwächen.
  Klaus Schwab favorisiert in seinem Konzept den Ausbau alles technisch Möglichen. Viele dieser Vorstellungen basieren auf einem Machbarkeitswahn, der die irdische Realität und das Wesen Mensch grundlegend verkennt und der daher alles andere als menschengerecht ist.
  Hinzu kommt: Vieles bei Schwab und Malleret basiert auf «westlicher Wohlstandssicht»: Wenn die Covid-19-Massnahmen zu einem «Überdenken der Prioritäten» führen würden, wie es Schwab und Malleret in ihrem Buch behaupten, dann muss man entgegnen, dass die grosse Masse der Armen und Hungernden keine Zeit und Möglichkeit hat, Prioritäten abzuwägen. Diese Mitmenschen müssen ausschliesslich ans Überleben denken.

Schwabs Kritik am Nationalstaat ist nicht mehr als ein Vorurteil

Und wie sieht es bei der Gesellschaftsgerechtigkeit aus?
Schwab ist überzeugt, so in seiner Rede beim Chicago Council of Global Affairsim Juni 2019: «Die vierte industrielle Revolution wird im Rahmen des ‹Great Reset› zu einer Verschmelzung unserer physischen, digitalen und biologischen Identität führen.» «Zusammenführung von Kapitalismus und Sozialismus, um ein produktives und integratives Wirtschafts- und Sozialmodell zu schaffen.» Diese Überzeugung durchpulst das ganze Buch «The Great Reset». Wenn auf Seite 107 seines Buches das «Trilemma» Globalisierung, Demokratie und Nationalstaat behauptet wird, in dem nur zwei aus der Sicht der Weltwohlfahrt vereinbar seien, nämlich Globalisierung und Demokratie, dann ist dies eindeutig ein technokratisches Fehlurteil. Die Nationalstaaten sind Wiege der Demokratien und können über das Völkerrecht sinnvoll zusammenwirken.
  Die Feststellung in den Schlussfolgerungen des Buches: «Die Pandemie ist ein seltenes, aber enges Gelegenheitsfenster (a rare but narrow window of opportunity), die Neugestaltung unserer Welt zu bedenken und zu betreiben (reimagine and reset our world)», ist daher eine Feststellung «von oben», und diese befürwortet einen totalitären Weltstaat – einen «Supernanny-Weltstaat» im sozialen und grünen Sicherheitsmantel mit zufriedengestellten Unfreien.
  So könnte man die Analysen und Vorschläge von Klaus Schwab und Thierry Malleret etwa wie folgt zusammenfassen: Ein erneuerter sanfter, global kontrollierter Kapitalismus, «weniger gespalten, weniger verschmutzend, weniger zerstörerisch, mehr einbeziehend, gerechter und fairer» – aber mit weniger Freiheit.

Was es braucht, ist eine Neugestaltung nach dem Mass des Menschen

Wir haben uns heute vorgenommen, vor allem über Alternativen zum «Great Reset» zu sprechen, im Grundsatz und auch ganz konkret. Lassen Sie uns mit dem Grundsätzlichen beginnen.
In der Tat: Der «Great Reset» ist keine Perspektive, und allzu lange sollten wir uns auch nicht bei ihm aufhalten. Die Neugestaltung nach dem Mass des Menschen und des Ökosystems Erde braucht keinen «Great Reset», sie müsste vielmehr dezentralisieren, intelligent vernetzen und vor allem den Bürgern über die direkte Demokratie eine Stimme geben, womit auch der beglückenden kulturellen Vielfalt Raum gegeben wird.

Informatik und Mikroelektronik – Siebenmeilenstiefel zur Dezentralisierung

Vor welchen Aufgaben stehen wir?
Ich sehe vor allem drei Aufgabenbereiche: unser Energiesystem, unsere Art und Weise, Handel zu treiben, und unser Finanzsystem.
  Das Energiesystem ist derzeit fossil basiert, wir tragen unser Geld zu den Ölstaaten, diese verwenden unser Geld, um bei uns Betriebe aufzukaufen, und bei uns geht die Kaufkraft verloren. Dabei gibt es die Möglichkeit, regionale Energieversorgungssysteme aufzubauen. Aber dann muss man auch die Bedarfsdeckungssysteme generell regionalisieren. Das ist ein wesentlicher Punkt! Ich habe meinen Studenten immer gesagt: Wir haben die Siebenmeilenstiefel der Dezentralisierung entwickelt: die Informatik, die Mikroelektronik, die Telekommunikation – und verwenden sie statt für intelligente Dezentralisierung für unangepasste Zentralisierung. Zentralisierung ist immer verbunden mit undemokratischen Massnahmen, weil der lokale Bürger auf die Vorgaben aus der Zentrale verwiesen wird.
  Im Handelsbereich wird immer von den Ökonomen «gebetet», was David Ricardo zu seiner Zeit gesagt hat: Die Produktion soll zu den relativ Besten und Billigsten gehen. Nachdem wir aber jetzt im Welthandel ganz unterschiedliche soziale und ökologische Standards haben – siehe USA, Europa, China, Indien und andere Staaten –, geht die Produktion zum absolut Billigsten, nicht zum relativ Billigsten, und das System funktioniert nicht mehr.

Wir haben eine Gelddiktatur

Zum Finanzbereich: Friedrich August von Hayek hat vom natürlichen Zinssatz geredet, der sich bildet; denn wenn die Konjunktur anspringt, steige die Nachfrage nach Krediten. Dadurch steige der Zinsfuss. Dies wirke wieder als Bremse, und die Kredite würden billiger, und das gebe wieder einen Anreiz, dass die Wirtschaft anspringt. Alles das gibt es aber nicht mehr. Wir haben derzeit keine Konkurrenz im Geldsystem, sondern eine Gelddiktatur. Wenn ich mir Europa ansehe, so ist das die schlichte Katastrophe. Was wir jetzt im Corona-Management erleben, ist eine ganz massive Staatsverschuldung. Und die Kredite geben wieder die Geldmächtigen der Welt, die noch reicher werden. Denn man muss es immer wiederholen: Jeder Schuld steht ein Guthaben gegenüber. Wir haben ein Schuldgeldsystem. Und daher brauchen wir einen geordneten Weltschuldenschnitt. Diese Supervermögen sind aus dem Nichts geboren. Wir wissen, dass die Geldschöpfung aus dem Nichts erfolgt. Hier möchte ich zurückgreifen auf den Kollegen Richard Werner, Finanzwissenschaftler an der De Montfort University in Leicester, der zehn Jahre in Japan war und das beste Buch über den japanischen Yen geschrieben hat, «Princes of the Yen». Er sagt: «Wir müssen zur regionalen Geldschöpfung zurückkehren, damit die Geldmengenausweitung wieder den Gemeinwesen zugute kommt und wir damit allgemeinen Wohlstand und Infrastruktur finanzieren können!» [vgl.Zeit-Fragen Nr. 8 vom 6. April 2021]

Wir müssen die Währungen wieder regionalisieren

Das ist, glaube ich, eine ganz klare Botschaft, an der wir nicht vorbeigehen können. Wir müssen die Währungen wieder regionalisieren und in die Hände der Gemeinwesen legen, damit wir wohlstandsmehrend Geld-politik betreiben können. Es gibt eine interessante kleinere US-Bank, die Bank of North Dakota. Dort hat man unterschwellig eine Staatsbank gegründet, ist aber nie so stark aktiv geworden, dass das Federal Reserve System gegen sie vorgegangen wäre. Nun schreiben sie ganz offen, dass sie den Staat billiger finanzieren, kleine Lokal-Banken unterstützen und billige Kredite ausgeben können, weil sie keinen Zinszwang haben.

Wir erleben derzeit einen Kampf um die Weltgeldordnung

Warum wird das nicht überall umgesetzt?
Wir erleben derzeit einen Kampf um die Weltgeldordnung. Die USA haben bei den Bretton-Woods-Abkommen der Welt ein System aufgedrückt, das den Dollar als Leitwährung, indirekt mit Gold gesichert, etabliert hat. Die Goldsicherung wurde 1971 aufgekündigt. Man hat eigentlich die ganze Welt betrogen, indem man gesagt hat, das gilt jetzt nicht mehr. Derzeit ist der Dollar eigentlich nur noch militärisch gesichert. Jeder, der ausschert aus dem Dollarsystem, wird mit Krieg überzogen, so dass das System befristet weiter funktioniert. Ich sage, wir leben eigentlich im Todeskampf des noch Welthegemons, der die Weltgeltung beansprucht.
  Aber wir können auch nicht einfach zurück zum Goldstandard. Der Goldstandard hat sich im vorvorigen Jahrhundert bewährt, weil die Goldproduktion ungefähr dem Währungswachstum entsprochen hat. Aber wenn ich einen Goldstandard einführen wollte, dann müsste ich zuerst die Goldreserven auf alle gerecht verteilen, damit sie ihre Währungen absichern können. Sonst würde es so sein, dass diejenigen, die die Goldminen oder die alten Reserven besitzen, stinkreich werden, und die anderen zahlen. Die Regierung in England beispielweise hat ja den Kolonien in Amerika, die die Colonial Scrips1 – eine erfolgreiche Lokalwährung – ausgegeben haben, den Goldstandard aufgedrückt, worauf die Wirtschaft zusammengebrochen ist.
  Man muss ganz klar sagen: Für die jetzige Geldwirtschaft, auch wenn wir es gerecht verteilen würden, steht nicht genügend Gold zur Verfügung. Es müsste der Goldpreis astronomisch hoch werden. Ich denke daher, dass wir gut landen, wenn wir ein vertrauenswürdiges Weltwährungssystem aufbauen und die Bevölkerung diesem Geld vertraut. Dann ist der Wert gesichert. Währungen basieren auf dem Vertrauen der Anwender.

Die Nahostkriege und der Libyenkrieg waren alle Geld- und Ressourcenkriege

Sie sprechen vom «Kampf um die Weltgeldordnung». Können Sie das noch genauer erläutern?
Die ganzen Nahostkriege und der Libyenkrieg waren alle Geld- und Ressourcenkriege. Saddam Hussein ist ausgeschert, hat nicht mehr in Dollar fakturiert und hat Erdöl an die Chinesen in Renminbi verkauft. Deshalb musste er ausgeschaltet werden. Dasselbe galt bei Gaddafi, der einen goldgedeckten Afro-Dollarwollte und mit den Russen über ein Gasabkommen verhandelt hat. Das war eine Todsünde gegen das System und vor allem auch gegen die Franzosen, die die Hauptakteure beim Krieg gegen Libyen waren. Denn, was die wenigsten wissen, es gibt in den ehemaligen Kolonien noch den Afro-Franc. Als die Kolonien freigegeben wurden, hat man ihnen drei Dinge aufs Haupt gedrückt:

  1. Die Währung muss weiter der Franc bleiben.
  2. Die Devisenreserven müssen bei der Französischen Nationalbank gehalten werden und
  3. Die Infrastruktur, in die die Franzosen investiert haben, Strassen, Bahnen usw., muss abgelöst werden, wobei die Franzosen den Wert festsetzen.

Damit sind diese Länder in Finanzknechtschaft genommen worden. Und immer, wenn ein Regime dagegen aufgemuckt hat, hat es einen «Volksaufstand» mit Unterstützung der Fremdenlegion gegeben, womit die unbequemen Regierungen ausgeschaltet wurden. Gaddafi hat massiv dagegengehalten, daher musste auch sein Kopf weg, und jetzt haben wir dort das Chaos. Daneben war natürlich auch das amerikanische Interesse. Der goldgedeckte Afro-Franc war auch gegen den US-Dollar gerichtet. Es waren beide, der Franc und der Dollar, die hier zusammengewirkt haben.
  Auch in der Geopolitik haben wir die steigende Konfrontation, die vor allem von den USA und der Nato organisiert wird, in Europa insbesondere gegen die Russen, weil auch diese nicht ins System passen, und im Fernen Osten gegen die Chinesen. Diesen Wettlauf werden die USA nicht gewinnen, wenn sie nicht schliesslich zur Gewalt greifen. Daher habe ich grosse Sorge, dass es zu einem dritten Weltkrieg kommt, wenn wir nicht die jetzige Energie-, Handels- und Finanzordnung grundsätzlich in Frage stellen und reformieren. Wir Europäer müssten eigentlich den Amerikanern gemeinsam sagen: «Freunde, wir wollen eure Freunde sein, aber so, wie ihr uns jetzt missbrauchen wollt, das tragen wir nicht mit. Vielmehr machen wir jetzt Vorschläge, wie es weitergehen soll. Ihr könnt ein von der Welt geschätztes Zentrum der Innovation, der Produktion und des Handels sein, aber nicht eine Weltgewaltmacht.» Die USA werden auch ihre rund 800 Militärbasen im Ausland nicht weiter finanzieren können.

Das Problem des «deep state»

Warum stellen die USA nicht um?
In den USA haben wir das Problem des «deep state», des militärisch-industriellen Komplexes, der indirekt die Politik bestimmt. Es ist leider so, dass alle Waffen, die produziert werden, nach Anwendung drängen. Daher wird an allen Enden an Kriegen gezündelt. Deshalb muss man einmahnen, wie es in der Bibel steht: Schwerter zu Pflugscharen! Ihr habt genug Entwicklungspotential zu Hause, mit angepassten Technologien! Verwendet eure Phantasie und Produktionsbereitschaft für den allgemeinen Wohlstand statt für die Ausrüstung von Armeen. Alle Staaten mit grossen Armeen hatten arme Leute, denn irgendwoher muss das Geld für die Rüstung kommen. Wir müssen diese Erkenntnis unter die Leute bringen, damit die Dominanz des militärisch-industriellen und finanziellen Komplexes gebrochen wird. Interessanterweise hat General Dwight Eisenhower, als er als Präsident abtrat, gewarnt: Befreit euch von der im Krieg aufgebauten Macht des militärisch-industriellen Komplexes, der derzeit die Politik dominiert.

Mit einer anderen Geldordnung Frieden schaffen

Kann denn eine andere Geldordnung Frieden schaffen? Und wie soll das aussehen?
Dazu muss ich ein wenig ausführlicher werden: Derzeit haben wir noch ein Schuldgeldsystem, der Zinseszins ist derzeit das Hauptproblem. Die geometrische Reihe läuft, und die meisten kennen die alte Finanzregel nicht mehr, d. h. Schlüsselzahl 70 durch den Zinssatz ist die Zeit der Verdoppelung des Kapitals. Das haben wir noch in der Schule gelernt. Bei 5 % Zinsen wäre das in 14 Jahren eine Verdoppelung des Kapitals. Das ist verrückt. Derzeit haben wir die Zinsen auf 0 gesetzt, damit sich die Staaten brav verschulden können. Und ich vermute dann eines: Das war immer so in der Finanzgeschichte, dass plötzlich die Hochfinanz die Krise ausrufen wird: Inflation und Gefahr für die Volkswirtschaft, wir müssen die Zinsen erhöhen, damit das Überborden der Wirtschaft gebremst wird. Dann sind alle hochverschuldet und können ihre Kapitaldienste nicht leisten; dann kommt die Hochfinanz als Retter und sagt: Wir kaufen die Betriebe auf und retten damit Betriebe und Arbeitsplätze … und sie werden dafür noch gefeiert.
  Wir haben aber auch unglaublich viele Konzepte für neue Geldordnungen. Zum Beispiel Kryptowährungen, die in Wirklichkeit Phantasieprodukte sind, die so lange gelten, wie man an sie glaubt. Kryptowährungen sind eine Illusion, und man missbraucht Leute, die Geld anlegen wollen und von der Gier getrieben sind.
  Es gibt aber auch Konzepte für regionale Währungen und vieles andere. Ich glaube, dass es eine Kombination geben sollte: Im regionalen Bereich können wir Zeitwährungen in lokalen Kreisläufen nachhaltig organisieren, im weiteren Bereich müssen wir ein internationales Währungsabkommen haben, das die Wechselkurse anpassungsfähig gemäss der jeweiligen Kaufkraft festlegt. Im nationalen Bereich müssen wir die Geldschöpfung wieder zum Staat bringen. Da bin ich für das «Vollgeld», damit nicht in Wirklichkeit die Banken das Geld produzieren. Wesentlich wäre auch ein zinseszinsfreies Geld.

Vollgeld und Trennbankensystem

Das jetzige Problem ist, wie ich schon sagte, vor allem der Zinseszins. Die Finanzvermögen steigen quasi ins Unendliche, wenn man hochrechnet. Ich glaube, man kann auch festlegen, dass es Zinseszins nicht gibt. Das ist rechtlich möglich. Jede Geldordnung ist eine menschengemachte Ordnung, die man gemäss entwickelter Massstäbe festlegen kann.
  Die Banken sollten im Vollgeldsystem für eine kostengünstige Abwicklung der üblichen Geldgeschäfte zur Verfügung stehen und sollen nach dem Trennbankensystem organisiert werden. Für diese Dienste müssen wir natürlich ein paar Cents hinlegen, das kostet eben etwas, aber ich würde die Banken befreien vom jetzigen Notstand. Ein Banker hat mir erzählt: Früher war ich Hausbank und habe die Leute beraten, die mit ihren Plänen gekommen sind, jetzt bin ich auf Grund der Vorgaben dazu verpflichtet, denen was zu verkaufen!

Die Rolle des Geldes wieder reduzieren

Welche Rolle sollte Ihrer Meinung nach künftig das Geld spielen?
Ich glaube, dass wir die Rolle des Geldes wieder reduzieren müssten auf einen Tauschstandard und einen Wertaufbewahrungsstandard, der zinseszinsfrei sein muss. Dann kann es ein sinnvolles Instrument werden. Das Geld wurde in Schritten erfunden. Ursprünglich gab es typische Lebensmittel bzw. Naturalien, die als Massstab galten. Darum hiess das Geld im Römischen Reich «pecunia»2 – das Rindvieh war der Massstab. Danach hat man im Vorderen Orient das Münzgeld erfunden, Silber und Gold waren knapp und konnten als Massstab dienen. Später hat man dann noch das Bankgeld erfunden. Man deponierte Gold- und Silbermünzen bei einem Bankier, der stellte einen Bankschein aus, der berechtigt, solche Gold- und Silbermünzen abzuheben, wenn ich sie brauche. Die Bankiers sind draufgekommen, dass nicht alle Münzen abgehoben wurden, und haben mehr Bankscheine ausgegeben, als sie Gold und Silber physisch hatten. Und so ist unser jetziges fraktioniertes Geldwesen entstanden, das wir im Zaum halten können, wenn wir zum Vollgeld kommen, d. h. die Geldmenge wird von der Nationalbank ausgegeben und von einer unabhängigen Währungskommission kontrolliert. Das ist bereits gut durchgedacht. Kollege Huber hat in seinem Buch «Monetäre Modernisierung» recht gut dargelegt, dass es praktizierbar ist. Das ist aber nicht im Interesse der Hochfinanz und wird daher massiv bekämpft und als Utopie abgeschrieben. Aber alle Utopien werden irgendwann Wirklichkeit, wenn das alte System nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.

Friedensfähig sind vor allem regionale, nationale Lösungen

Friedensfähig sind vor allem regionale, nationale Lösungen. Eine Währung ist der Massanzug einer Volkswirtschaft. Wir haben in Europa etwas Grauenhaftes getan. Wir haben die südlichen Länder mit den nördlichen Ländern in einen Währungstopf gegeben. Sie haben in der Vergangenheit durch Abwertungen ihre Handelsbilanz halbwegs in Ordnung gebracht und konnten sich auch angepasst verschulden. Diese Länder hat man in den Euro hineingenommen. Weil der Euro-Verbund mitgehaftet hat, war dies am Anfang ein Freibrief zu noch höherer Verschuldung. Danach hat man aber gesagt: «Jetzt müssen wir die Notbremse ziehen» und hat ihnen das Finanzkorsett aufgedrückt. Siehe Griechenland, Italien, Spanien. Jetzt sehen wir die Folgen ganz konkret. Die «äussere Abwertung» wurde durch die «innere Abwertung» ersetzt und hat zur Verarmung in den Ländern geführt.

Wie beurteilen Sie die finanzielle Situation unserer Staaten? Und was schlagen Sie hier vor?
Ich glaube, wenn wir die jetzige Staatsverschuldung ansehen, dann müssen wir sagen, das läuft mit aller Wahrscheinlichkeit darauf hinaus – in den Zeitungen wird das schon diskutiert –, dass es einen allgemeinen «Entschuldungsbeitrag» geben muss. De facto bedeutet das, dass sie die Leute enteignen und ihnen neue Steuern aufs Haupt drücken. Es trifft dann wieder die Masse der Menschen, die Kleinen und nicht die Grossen. Und da glaube ich, gibt es mehrere Ansätze, die rasch verwirklichbar sind.

Für eine Kapitalumsatzsteuer …

Das eine ist eine allgemeine Kapitalumsatzsteuer von einem Promille, das ist fast nichts, das läge innerhalb der Bankenkonditionen und würde bereits rund ein Drittel unserer Budgets einbringen, und wir könnten Staatsschulden rückzahlen. Die Finanztransaktionsteuer wird immer diskutiert, ich würde sie entmystifizieren und eben zu dieser Kapitalumsatzsteuer hinüberwechseln, so dass wir nicht nur begrenzte Finanztransaktionen besteuern, wo dann immer wieder mit Behinderung des internationalen Handels argumentiert wird. Sie wäre einfach einzuziehen, wenn wir bei jedem Kapitaltransfer, auch bei den kleinen, 0,1%, also ein Tausendstel, einbehalten.
  Das zweite wäre eine Internetabgabe von einem Cent pro Megabyte. Das ist eine Riesenquelle. Alle Internetgiganten geben zu, dass dies technisch möglich wäre. Wir könnten auch bei einer Internetabgabe individuelle Freibeträge machen, etwa für den privaten Gebrauch; man könnte auch Gesundheitswesen, Bildung und notwendige Grundversorger, wenn es notwendig ist, von der Abgabe befreien. Das wäre der zweite Bereich.

… und eine allgemeine Vermögenssteuer auf Grossvermögen

Der dritte Bereich, der auf der Hand liegt, aber am schwierigsten durchzusetzen ist, wäre eine allgemeine Vermögenssteuer auf die Grossvermögen. Wenn man von 5 %igem Wachstum ausgeht und eine Steuer von 50 % auf den Vermögenszuwachs erhöbe, das entspräche 2,5 % des ursprünglichen Vermögens, so wäre das bereits eine Megasteuer, die die ganze Welt entschulden würde. Es gibt also Auswege, aber die müssen wir propagieren und auch angehen, statt aus dem kleinen Mann das Letzte herauszupressen.

Wir müssen uns zusammensetzen, und jeder bringt seine Ideen ein

Was ist zu tun, damit die unterschiedlichen Ansätze zur Lösung der Frage nach der Geldordnung zu einer guten Lösung zusammenfinden?
Wir müssen uns zusammensetzen, und jeder bringt seine Ideen ein. Wir müssen einsehen, dass es nicht darum geht, dass wir uns individuelle Gescheitheiten leisten und jeder mit seinen Ideen brilliert, statt dass wir uns zusammenschliessen. Jeder muss auch in sich gehen und sagen, ich muss nicht unbedingt mit meinen Ideen das absolut Beste wollen oder können, sondern ich bin bereit, von den anderen anzunehmen und mich selbst einzubringen, wobei ich erwarten muss, dass andere von meinen Ideen Abstriche machen. Und dass wir ganz zum Schluss, wenn wir uns auf eine Lösung geeinigt haben, sagen: So, jetzt setzen wir uns gemeinsam hin und spielen durch, wie das in der Realität funktionieren kann. Nicht, dass es lauter Hirngespinste bleiben, wo wir sagen, es wäre ideal, wenn wir kein Geld mehr bräuchten, es wäre ideal, wenn wir einander schenkten, ideal, wenn der allgemeine Wohlstand allgemein garantiert wird. Das ist für mich zu allgemein. Ich bin ein alter Praktiker, und ich würde daher sagen, wir müssen, wenn wir uns geeinigt haben, uns auf Prüfgremien und Prüfsitzungen einigen, um zu sehen, ob unser Ansatz tatsächlich anwendbar und fruchtbar ist.

Ein Land wie die Schweiz macht es ein Stück weit vor

Ein Land wie die Schweiz macht es ein Stück weit vor. Bei allen Unvollkommenheiten, die Schweiz ist eher gemeinwohlorientiert, weil die Bürger ein Stimmrecht haben. Ich würde sagen, ich wünsche mir eine demokratiegerechte Wirtschaft, und nicht, wie Frau Merkel gesagt hat, eine marktgerechte Demokratie. Das ist in Wirklichkeit die Kapitulation der Demokratie. Ich würde also sagen: Eine Demokratie nach Schweizer Muster, die die Bremse der Volksentscheidung hat, die stark dezentralisiert ist, die Entscheidungen bei den Bürgern lässt und nicht unbedingt nur bei den Experten.
  Schliesslich: Auf die Frage «Das nützt ja alles nichts, wo ist deine Machtposition?» sage ich immer nach Victor Hugo: Es gibt nichts Stärkeres als eine Idee, für die die Zeit reif ist. Abraham Lincoln hat das sehr schön auf den Punkt gebracht: «Ihr könnt das Volk eine Zeit lang anlügen, aber nicht auf die Dauer.»

Herr Professor Wohlmeyer, vielen Dank für das Gespräch.  •



1 Colonial Scrip (wörtlich Berechtigungsschein, Zahlschein der Kolonie) war ein Papiergeld, das von den Kolonien in der Vorrevolutionszeit bis 1775 ausgegeben wurde, im Gegensatz zur Münze. Es war ein völlig anderes Geld als die kontinentale Währung, die während der amerikanischen Revolution ausgegeben wurde, um die Kriegsanstrengungen zu finanzieren, und schnell an Wert verlor. Colonial Scrip war nicht durch Gold oder Silber gedeckt, und daher konnten die Kolonien seine Kaufkraft kontrollieren. Dies war ein revolutionäres Konzept in der Wirtschaft, da das konventionelle europäische merkantilistische Geldsystem von den Regierungen verlangte, sich bei Banken zu verschulden und für diese Kredite Zinsen zu zahlen, da Gold und Silber die einzigen angesehenen Geldformen waren. Dies ist bekannt als das auf Schulden basierende Geldsystem, in dem Banknoten «Schuldscheine» sind. Colonial Scrip hingegen waren «bills of credit», die von der Regierung geschaffen wurden und auf dem Kredit dieser Regierung basierten, was bedeutete, dass für die Einführung von Geld keine Zinsen zu zahlen waren. Dies trug erheblich dazu bei, die Ausgaben der Kolonialregierungen zu decken und den Wohlstand zu erhalten. Die Regierungen verlangten niedrige Zinsen, wenn sie dieses Papiergeld an ihre Bürger ausliehen, wobei Land als Sicherheit diente, und diese Zinseinnahmen senkten die Steuerlast der Menschen und trugen zum Wohlstand bei. Die Währung entstand, als ein Mangel an Gold und Silber in den Kolonien den Handel erschwerte und ein Tauschsystem vorherrschte. Nach und nach begannen die Kolonien, ihr eigenes Papiergeld herauszugeben, das als Tauschmittel dienen sollte, um den Handel in Schwung zu bringen. Die Regierungen konnten dann überschüssige Scheine aus dem Verkehr ziehen, indem sie das Volk besteuerten, was einigen Kolonien half, eine Inflation generell zu vermeiden. Jede Kolonie hatte ihre eigene Währung und einige wurden besser verwaltet als andere. Diese Währungen wurden vom englischen Parlament im Currency Act verboten, nachdem Benjamin Franklin dem britischen Board of Trade die Vorteile dieser Währung erläutert hatte. Das Verbot des umlaufenden Mediums verursachte eine Depression in den Kolonien, und Franklin und viele andere glaubten, dass dies die wahre Ursache der amerikanischen Revolution war.
2 Das lateinische Wort «pecunia» für Geld, Eigentum, Vermögen, Münze ist abgeleitet vom lateinischen Wort «pecus» für Vieh.

zfHeinrich Wohlmeyer wurde von Bauern aufgenommen, nachdem der Vater vor dem Abtransport ins Konzentrationslager gestorben, sein Elternhaus durch Bomben zerstört und die Mutter krank geworden war. Er ging «auf eigene Faust» ins Gymnasium, hat Rechtswissenschaften, Internationales Wirtschaftsrecht in den USA und England sowie an der Universität für Bodenkunde Wien Landwirtschaft und Lebensmitteltechnologie studiert. Wieder in Österreich stellte er sich als Regionalentwickler und Industriemanager für das Waldviertel zur Verfügung und wurde Direktor der Österreichischen Agrarindustrie. Nachdem er sich «auseinandergeredet» hatte, ging er an die Universität und lehrte Ressourcenökonomie und Umweltmanagement. Bei all diesen Aktivitäten wurde ihm bewusst, dass die Radnaben der nicht nachhaltigen Entwicklung die Handels- und die Finanzpolitik sind, die die regionalen Wirtschaftskreisläufe unterlaufen. «Wir brauchen regionale Lösungen für einen bestmöglichen regionalen Wohlstand», sagt er.

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