Meiner verehrten Lehrerin Annemarie Buchholz-Kaiser sel.
von Moritz Nestor
Papst Benedikt XVI. hielt am 22. September 2011 vor dem deutschen Bundestag eine viel beachtete Rede zur politischen Ethik. In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte er das Naturrecht und mahnte Wahrhaftigkeit im politischen Handeln an. Der politisch ethische Kern des Naturrechts sei, so Benedikt XVI.
„Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Frieden schaffen. (…) Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren, ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers.“ Es gehe um „die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne“. [1]
Damit greift das damalige Oberhaupt der katholischen Kirche jene Forderung von Aristoteles auf, die seit der griechischen Antike vor 2500 Jahren im Zentrum des Naturrechtdenkens stand: Politik muss auf Ethik ruhen. Macht allein kann keine Gerechtigkeit erzeugen. Positives Recht muss an vorstaatlichen ethischen Massstäben, die aus der Erkenntnis der Menschennatur gewonnen werden, gemessen und danach geformt werden, damit es erst gerecht wird. Recht wird daher, so Aristoteles, weder durch blossen Meinungsstreit (Diskursethik) noch durch Gewalt oder Ideologie gerecht.
Damit traten die Griechen vor 2500 Jahren in eine neue historische Phase ein: Das Naturrecht erkannte, dass dauerhafter Friede nicht allein durch Macht zu sichern war, sondern dass die politische Gewalt auf die Sicherung eines gerechten und sicheren Friedens verpflichtet werden muss.
Das hatte seinen Grund darin, dass Recht und Unrecht im Staat davon abhängen, wie der Mensch die Realität wahrnimmt und bewertet. Recht und gerechtes Handeln hängen unmittelbar mit Wahrhaftigkeit zusammen. Wer die Dinge so wahrnimmt, wie sie sind, kann ihnen gerecht werden und das Richtige tun, und dadurch wird er glücklich.
Seit Aristoteles ist die Grundidee des Naturrechts: Der Mensch lebt dann glücklich, wenn er sein Leben im Einklang mit den Gesetzmässigkeiten der äusseren Natur wie auch seiner Sozialnatur (zoon politicon) führt. Lebensführung heisst aber nichts anderes, als dass sich der Mensch seiner Vernunft bedient und, geleitet durch mitmenschliches Fühlen, erfasst, was richtig und falsch ist. Politisches Handeln nach diesem Massstab nähert sich der Gerechtigkeit an.
Es gehört zu den Unsäglichkeiten unserer Zeit, dass die politikberatende intellektuelle Elite diesen ehernen Zusammenhang von Politik und Ethik wieder zu zerschlagen versucht. Jürgen Habermas masste sich die Aussage an, die Moderne habe erst richtig begonnen, als der Amerikaner John Rawles Ende des 20. Jahrhunderts Politik und Ethik wieder strikt zu trennen versuchte.
Dabei hatte der deutsche Widerstand gegen Hitler in der Ethik des Naturrechts seinen vorstaatlichen Massstab gefunden, gegen die Diktatur mit ihrer unmenschlichen Machtpolitik Widerstand leisten zu dürfen. Der NS-Staat missbrauchte den Menschen als Mittel zum Zweck, gerade weil er die Naturrechtsethik der europäischen Tradition verachtete. Dass das zutiefst ungerecht war, war nach dem Zweiten Weltkrieg jedem klar.
Erklärungsbedürftig bleibt daher, wem die intellektuelle Elite zudient, wenn sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder Politik und Ethik trennen will und damit der Rückkehr zur reinen Machtpolitik den Boden bereitet. Es wundert eigentlich nicht, dass in einer Welt, die von reiner Machtpolitik geprägt ist, das Naturrecht als «katholische Sonderlehre» oder sonst auf irgendeine Art und Weise abgetan wird. Gemäss dem Naturrecht aber ist jede imperiale Machtpolitik ungerecht und menschenfeindlich.
„Die Geschichte Europas und Amerikas ist (…) eine Geschichte des Unrechts und der Gewalt, aber auch eine Geschichte ihrer Überwindung aus eigener moralischer Einsicht und politischer Kraft“,[2] schreibt der bekannte Staatsrechtler Martin Kriele in seinem Buch «Die demokratische Weltrevolution». Im Zentrum dieser Überwindung von Unrecht und Gewalt stand und steht das Naturrecht.
Aus den blutigen Eroberungs- und Religionskriegen der frühen Neuzeit entstand 1648 am Ende des Dreissigjährigen Krieges mit dem Friedensschluss zu Münster und Osnabrück, dem Westfälischen Frieden, die Westfälische Ordnung. Es war massgeblich das Naturrecht von Hugo Grotius, das die völkerrechtlichen Grundlagen zum Friedensvertrag schuf. Der jeweilige Staat erhielt das Gewaltmonopol über sein Territorium. Seine Grenzen sollten nicht durch imperiale Machtgelüste verletzt werden dürfen. Die Intervention sollte verboten sein.
Die Eroberungs- und Religionskriege der frühen Neuzeit waren eine jener vielen historischen Phasen, wo Politik, die sich allein auf den Willen zur Macht berief und furchtbares Elend unter die Menschen brachte, Widerstand hervorrief. Solche Phasen waren immer auch eine Blüte des Naturrechts. Die Westfälische Ordnung entstand gegen Ende jener 200 Jahre des 16. und 17. Jahrhunderts, in denen die christliche Kultur das moderne Naturrecht erschuf und zur Blüte brachte.
1492 beginnt die blutige Eroberung Amerikas durch Spanien und Portugal mit dem Segen der katholischen Kirche – die als «Kirche an der Macht» ihre Hinwendung zur Katholischen Soziallehre und zum Genossenschaftswesen noch vor sich hat. Die Eroberer hausten in Amerika schrecklich. Der Dominikanermönch Bartolome de Las Cassa (1484/85-1566) schildert in einem erschütternden Bericht die schreckliche Ausplünderung, Versklavung und Vernichtung der Indianer, deren Augenzeuge er war. [3] Aus der Philosophie der Spätscholastik heraus entstanden durch die Auseinandersetzung mit diesem Unrecht die Naturrechtslehren der Schule von Salamanca. Die Eroberer rechtfertigten den Völkermord an den Indianern damit, dass die Indianer nicht getauft und daher keine Rechtssubjekte seien, mit denen man Verträge abschliessen könnte und die daher kein Recht haben könnten, sich selbst zu regieren. Ein persönlicher Freund von Las Casas, Francisco Vitoria (1492/93–1546), der von diesem über die Unmenschlichkeiten unterrichtet war, wurde von Kaiser Karl V. beauftragt, Richtlinien für die Missionierung der Indianer zu erarbeiten. Vitoria hielt den Konquistadoren in der Folge entgegen, «dass die Menschen in ihrer Natur prinzipiell gleich und frei seien».[4]
Das Recht auf Leben und Freiheit, die Würde als Mensch war damit nicht mehr auf die Zugehörigkeit zu einer Konfession oder Rasse beschränkt, sondern jedem Menschen allein dadurch zugesprochen, dass er Angehöriger der Gattung Mensch ist. Hier begann innerhalb der katholischen Kirche ein Wandel weg von der «Kirche an der Macht» und hin zum Wort ihres Gründers: «Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu.» [5] Vitorias Schüler Francisco Suárez (1548–1617) entwickelte diesen Ansatz zu einer Naturrechtslehre weiter. Und während einiger Jahre erhielten die Indios Freiheitsrechte auf einem ihrer Gebiete – ein erster Ansatz eines souveränen naturrechtlich begründeten Gebietes der Selbstverwaltung.
Am Hofe der spanischen Habsburgermonarchie unter Karl V. hatte zuvor eine heftige öffentliche Auseinandersetzung stattgefunden zwischen Vertretern des Naturrechts und den Vertretern reiner Machtpolitik. Reinhold Schneider, der aus meiner Heimatstadt Baden-Baden stammende Dichter, hat dieses Ringen ums Naturrecht 1941 in einem wunderbaren historischen Roman «Las Casas vor Karl V.» verewigt. Es brachte ihm eine Verfolgung durch die SS ein, denn er gestaltete die Auseinandersetzung zwischen Naturrecht und Machtpolitik so lebensnah, dass der Leser wusste, dass damit die Parallele zu Hitlers, aber auch zu jeder Diktatur gemeint war.
Aus der natürlichen Empörung gegen das Unrecht an den Indianern erwuchs so der erste neuzeitliche Ansatz einer Naturrechtslehre, einer «Befreiung des Menschen durch Recht» (Kriele). Diese Spanische Naturrechtslehre wurde zum Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung des Naturrechts. Im Gefolge des Achtzigjährigen Krieges, in dem die Spanier versuchten, den evangelischen Niederlanden wieder den Katholizismus aufzuzwingen, entstand die Naturrechtslehre des Hugo Grotius (1583–1645), der auf der Arbeit der Schule von Salamanca aufbaut und sie fortsetzt. Und als Reaktion auf das Elend des Dreissigjährigen Krieges entstand die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (1632–1694), für den der pfälzische Kurfürst Karl Ludwig 1661 den weltweit ersten Lehrstuhl für Naturrecht in Heidelberg errichtete. Eine handliche Kurzfassung des Pufendorfschen Naturrechts «De officio hominis et civis» von 1667 wurde jahrzehntelang in vielen Ländern Europas an Schulen als Einführung in die Ethik benutzt, und an den Universitäten war es für jeden Jurastudenten Pflichtlektüre zur Einführung ins Fach.
Eine in Schweinsleder gebundene Ausgabe von Samuel Pufendorfs grossem zweibändigen Naturrechtssystem «De jure naturae et gentium» von 1672 steht übrigens heute in der Zentralbibliothek in Zürich mit dem handschriftlichen Vermerk «aus den Büchern des Gottfried Keller».
Von der Spätscholastik und der Schule von Salamanca bis zu Grotius und Pufendorf spannt sich die Entstehung und Blüte des modernen Naturrechts. Es stiess die Tür auf zur Entwicklung des aufklärerischen republikanischen Staatsmodells – der souveränen Republik, die auf einem Gewaltmonopol innerhalb eines Territoriums beruht (Westfälische Ordnung) und auf den drei naturrechtlich begründeten Pfeilern Gewaltenteilung, Naturrecht/Menschenrechte und Demokratie. Diese hatte schon Aristoteles in seiner Politeia grundgelegt.
Dieses in seinen Grundsätzen naturrechtlich hergeleitete Staatsmodell könnte man als «europäisches Staatsmodell» bezeichnen. Es ist das Mittel, um das Zusammenleben in einer freien und gerechten Ordnung zu sichern. Seine Grundprinzipien sind im gewissen Sinn Anpassungen an das, was der Mensch braucht, um als Mensch leben zu können. Friedrich Schiller (1759-1805), Professor für Philosophie und Geschichte, hat das in einem wunderbaren Satz festgehalten:
«Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein andrer, als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung. Hindert eine Staatsverfassung, dass alle Kräfte, die im Menschen liegen, sich entwickeln, hindert sie die Fortschreitung des Geistes, so ist sie verwerflich und schädlich, sie mag übrigens noch so durchdacht und in ihrer Art noch so vollkommen sein. Ihre Dauerhaftigkeit selbst gereicht ihr alsdann vielmehr zum Vorwurf, als zum Ruhme – sie ist dann nur ein verlängertes Uebel; je länger sie Bestand hat, um so schädlicher ist sie. Ueberhaupt können wir bei Beurteilung politischer Anstalten als eine Regel festsetzen, dass sie nur gut und lobenswürdig sind, insofern sie alle Kräfte, die im Menschen liegen, zur Ausbildung bringen, insofern sie Fortschreitung der Kultur befördern, oder wenigstens nicht hemmen.» [6]
Dieses Staatsmodell und die dazugehörige Westfälische Ordnung des Staatensystems sind Kinder Europas. Es ist ein Modell und als solches etwas immer Anzustrebendes. Die politisch reifste Form ist der Schweizerische Bundesstaat von 1848, der die grösstmögliche Entfaltung der Freiheit in einer direktdemokratischen Rechtsordnung ermöglicht.
«Die politische Aufklärung war Naturrechtslehre. Sie orientierte sich an der Natur des Menschen als Mensch, nicht als Katholik oder Protestant, als Christ oder Heide, als Europäer oder Asiate, als Freier oder Sklave usw. Ihre Frage war die nach den Bedingungen, unter denen die Menschen friedlich und freundlich zusammenwirken können. Ihre Antwort war, indem sie sich in den Rechtszustand versetzen, und das heisst in einer Formel Kants: indem sich die Menschen und Staaten gegenseitig als gleichberechtigt anerkennen und ihre Freiheit nach allgemeinen Gesetzen soweit einschränken, dass die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller zusammen bestehen kann. Indem sie das tun, ordnen sie ihre tierisch-biologische Natur ihrer Vernunftnatur unter und überwinden damit das Prinzip vom Recht des Stärkeren, Schnelleren, Schlaueren, Brutaleren, Skrupelloseren. Damit schaffen sie zugleich die Freiheit, in der jeder Mensch und jedes Volk sich selbst bestimmen kann, um die besten in ihm angelegten Möglichkeiten zu verwirklichen, brüderlich zusammenzuarbeiten und miteinander Frieden zu halten. Frage und Antwort haben rein innerweltlich-rationalen Charakter und sind an keinerlei theologische Voraussetzung gebunden. In ihnen drückt sich das naturrechtliche Minimum aus, das alle Religionen, Kulturen, Traditionen übergreift und das unerlässlich ist, um eine universelle Friedensordnung zu begründen. Lediglich die Zusatzfrage: Warum sollen wir die Bedingungen friedlichen und freundlichen Zusammenlebens wollen, verweist auf eine Sittlichkeit, die ihrerseits zwar ferne religiöse Wurzeln hat, die aber nicht von sich aus schon eine konfessionelle Ausprägung hätte, ja, die auch schon in vorchristlichen Religionen lebendig war und ist und auch in vorchristlichen Philosophien, wie etwa der Stoa, schon anerkannt war. Diese Sittlichkeit kann auch von Atheisten vorausgesetzt und anerkannt werden und hat von ihnen in der Geschichte der Aufklärung oft sogar nachdrücklichere Unterstützung gefunden als von den Kirchen. Grotius meinte: Naturrecht gelte selbst dann, wenn es keinen Gott gäbe oder er sich um menschliche Dinge nicht kümmere.» [7], [8]
Wer angesichts der skizzierten Geschichte heute vom Naturrecht als «katholischer Sonderlehre» redet, weiss nicht, was er redet. Denn: Dass der Ungläubige nicht aus der Moral entlassen ist, nur weil er nicht glaubt und weil er sich daher anmasst, es gebe keinen Gott, also sei «alles erlaubt» – gerade davor schiebt das Naturrecht den Riegel. Es hat damit auch eine Grundlage für eine mitmenschliche säkulare Ethik gelegt.
Es hat ein Modell des Zusammenlebens geboren, das alle rivalisierenden religiösen und weltlichen Gruppen unter ein Dach zusammengenommen hat. Unter diesem Dach ist die Freiheit jeder Gruppe geschützt und die politische Auseinandersetzung in friedliche Bahnen gelenkt.
Mein Freund, der japanische Naturrechtsprofessor, Hideshi Yamada, hat einmal auf meine Frage, was denn der Unterschied sei zwischen dem Naturrechtsdenken Europas und dem Asiens, geantwortet: «Ihr habt mehr Gewicht auf die Vernunft gelegt, wir mehr auf das Gefühl.»
Damit ist die Frage Martin Krieles erneut gestellt: Warum sollen wir die Bedingungen friedlichen und freundlichen Zusammenlebens wollen? Denn erst vereint mit mitmenschlichem Denken und Fühlen wandelt sich der menschliche Verstand zur Vernunft. «Es ist die Richtung, das Ziel, wohin wir uns entwickeln, nämlich zu immer mehr (Mit-)Menschsein; dass wir unsere Anlagen als Mensch ausbilden», sagte Hideshi Yamada. Und auf diese Frage nach diesem «Immer-mehr-Mitmensch-sein-wollen» gab schon etwa 2300 Jahr v. Chr. aus Hideshi Yamadas Kulturkreis der Chinese Mong Dsï (ca. 370–ca. 290 v. Ch., lat. Menzius), selbst Schüler des grossen Kongzi (ca. 551-479 v. Chr., lat. Konfuzius), eine bewegende Antwort:
«Jeder Mensch hat ein Herz, das anderer Leiden nicht mit ansehen kann. […] Dass jeder Mensch barmherzig ist, meine ich also: Wenn Menschen zum erstenmal ein Kind erblicken, das im Begriff ist, auf einen Brunnen zuzugehen, so regt sich in aller Herzen Furcht und Mitleid. Nicht weil sie mit den Eltern des Kindes in Verkehr kommen wollten, nicht weil sie Lob von Nachbarn und Freunden ernten wollten, nicht weil sie üble Nachrede fürchteten, zeigen sie sich so.
Von hier aus gesehen, zeigt es sich: Ohne Mitleid im Herzen ist kein Mensch, ohne Schamgefühl im Herzen ist kein Mensch, ohne Bescheidenheit im Herzen ist kein Mensch, ohne Recht und Unrecht im Herzen ist kein Mensch, Mitleid ist der Anfang der Liebe, Schamgefühl ist der Anfang des Pflichtbewusstseins, Bescheidenheit ist der Anfang der Sitte, Recht und Unrecht unterscheiden ist der Anfang der Weisheit. Diese vier Anlagen besitzen alle Menschen, ebenso wie sie ihre vier Glieder besitzen. Wer diese vier Anlagen besitzt und von sich behauptet, er sei unfähig, sie zu üben, ist Räuber an sich selbst. Wer von seinem Fürsten behauptet, er könne sie nicht üben, ist ein Räuber an seinem Fürsten.
Wer diese vier Anlagen in seinem Ich besitzt und sie alle zu entfalten und zu erfüllen weiss, der ist wie das Feuer, das angefangen hat zu brennen, wie die Quelle, die angefangen hat zu fliessen. Wer diese Anlagen erfüllt, der vermag die Welt zu schirmen, wer sie nicht erfüllt, vermag nicht einmal seinen Eltern zu dienen.» [9]
Ein anderer Kulturkreis, die gleiche soziale Menschennatur, die gleiche Frage nach dem gerechten Wirken in der Welt und die gleiche Antwort: Mitleid, Schamgefühl [Gewissen, MN] und Bescheidenheit sowie «Recht und Unrecht im Herzen … Diese vier Anlagen besitzen alle Menschen, ebenso wie sie ihre vier Glieder besitzen.» Katholische Missionare haben Menzius’ Texte und die seines Lehrers Konfuzius nach Europa gebracht. Und viele Denker des 18. Jahrhunderts, die Wertvolles beitrugen zur Weiterentwicklung von Naturrecht und demokratischem Verfassungsstaat, haben daraus geschöpft. Nicht zuletzt übrigens auch Albert Schweitzer. Durch die Forschungen von Jeanne Hersch wissen wir, dass in allen Kulturkreisen solche naturrechtlichen Ansätze zu finden sind.
Durch die personale Psychologie und Anthropologie, Entwicklungspsychologie und Pädagogik hat sich ein reichhaltiger Fundus an Erkenntnissen und Erfahrungen angesammelt. Sie können auf die Frage «Warum sollen wir die Bedingungen friedlichen und freundlichen Zusammenlebens wollen?» auch tragfähige wissenschaftliche Antworten und Hinweise geben, die empirisch geprüft sind, ohne den Menschen auf Materie zu reduzieren. Diese empirisch geprüften Erkenntnisse über die menschliche Sozialnatur, die aus den personalen Humanwissenschaften stammen, treffen sich mit der personalen philosophischen Anthropologie und mit der aus der Offenbarung begründeten katholischen Soziallehre an ein und demselben Punkt: Die menschliche Person, die Individuum und Gemeinschaftswesen zugleich ist, muss Ausgangspunkt und Ziel allen politischen Handelns sein.
Mit einer Bemerkung möchte ich schliessen. In der französischen Verfassung von 1793 findet sich der bemerkenswerte Gedanke, dass die Souveränität des Staates die soziale Garantie der Menschenrechte ist. Soziale Garantie der Menschenrechte heisst: Natur- bzw. Menschenrechte müssen politisch gelebt werden. Sonst sind sie toter Buchstabe. In einer globalen Welt, in der die Souveränität der Nationalstaaten aufgelöst wird, verlieren gerade dadurch die Menschenrechte ihre Kraft, der Schutz des Individuums vor dem übermächtigen Staat zu sein. Sie wurden und werden – Stichwort «humanitäre Intervention» – von der nihilistischen reinen Machtpolitik als Waffe gegen die Menschen missbraucht. Krieg und Menschenrechte aber sind wie Feuer und Wasser.
Und damit sind wir auch beim Thema unserer Tagung* angelangt, das wir miteinander in diesen drei Tagen bearbeiten möchten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
* Vortrag bei den Septembergesprächen «Mut zur Ethik» vom 4.–6. September 2015 zum Thema «Freiheit, Souveränität und Menschenwürde – Schutzwall gegen Despotie und Krieg».
Übersetzung
Prof. Dr. jur. Hideshi Yamada übersetzte diesen Artikel ins Japanische und veröffentlichte ihn in der Kumamoto Law Review 135, 131-141, 2015-12-25 unter dem Titel «Politik muss auf Ethik ruhen. : Meiner verehrten Lehrerin Annemarie Buchholz-Kaiser sel.» Der japanische Text ist hier zu finden: 政治は倫理に基づかねばならない : 今は亡き敬愛するわが師アンネマリー・ブーフホルツ=カイザーに捧げ (PDF)In der gleiche Ausgabe der Kumamoto Law Review veröffentlichte Prof. Yamada auch das Interview „… in Richtung auf mehr Menschlichkeit zu führen.“ (PDF), das Joachim Hoefele und ich am 6. September 2011 mit ihm führten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen