Aus dem Tagungsprotokoll der ASM Nr. 15 /1960
AKTIONSGEMEINSCHAFT SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT
TAGUNGSPROTOKOLL
NR. 15 ALEXANDER RÜSTOW • WILHELM RÖPKE GÖTZ BRIEFS • HANS HERMANN WALZ
ULRICH VON PUFENDORF • WOLFGANG FRICKHOFFER
Vorträge auf der fünfzehnten Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 29. Juni 1960 in Bad Godesberg
MARTIN HOCH DRUCKEREI UND VERLAGSGESELLSCHAFT
LUDWIGSBURG
Professor Dr. Alexander Rüstow:
Meine
Damen und Herren! Ich eröffne die 15. Tagung unserer
Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft und heiße Sie alle herzlich
willkommen. Ihr zahlreiches Erscheinen beweist schon, daß Sie mit uns
der Meinung sind, daß es Dinge gibt, die „wichtiger sind als
Wirtschaft", und daß Sie mit uns von der Wichtigkeit dieser Dinge
durchdrungen sind.
Seit
unsere Aktionsgemeinschaft besteht, ist ihr und dem von ihr vertretenen
Neoliberalismus immer wieder der Vorwurf gemacht worden, wir
überschätzten die Wirtschaft, wir hielten die Wirtschaft und den Markt
für das eigentliche Zentrum menschlicher Dinge, wir seien der Meinung,
daß der Mensch im wesentlichen ein Wirtschaftsmensch sei. Dieser Vorwurf
ist, wie wir im einzelnen noch sehen werden, denkbar ungerecht und
unberechtigt. Aber auch die unberechtigtsten Vorwürfe haben natürlich
irgendwelchen Grund, sind natürlich auf irgendeine Weise entstanden. Bei
diesem Vorwurf ist der Nachweis der Entstehung relativ leicht.
Der
Paläoliberalismus, d. h. jener Wirtschaftsliberalismus, der in der
Mitte des 18. Jahrhunderts entstand und das 19. Jahrhundert weitgehend
beherrschte, hatte in der Tat Strömungen und Vertreter, auf die dieser
Vorwurf zutraf. Da nun leider heutige Vertreter jenes Paläoliberalismus
sichneoliberal nennen, obwohl unser Neoliberalismus ja gerade im
Gegensatz und in Abgrenzung gegen jenen Altliberalismus, gegen jenen
Paläoliberalismus entstanden ist, trägt das natürlich sehr dazu bei,
eine Verwechslung zu begünstigen. Das hat den Effekt, daß .die Vorwürfe,
die gegen den alten Liberalismus berechtigt sind und die gerade wir als
die ersten gegen den Paläoliberalismus erhoben haben, ja, auf Grund
deren wir die Abgrenzung gegen den Paläoliberalismus zur Grundlage
unseres Neoliberalismus gemacht haben, daß diese Vorwürfe zu Unrecht
gegen uns erhoben werden.
Die
Vorwürfe, die die Kirchen gegen den Paläoliberalismus erheben, die
Vorwürfe, die überhaupt idealistisch eingestellte Menschen mit Recht
gegen den Paläoliberalismus erheben, sind, wie Sie im einzelnen noch
sehen werden, genau dieselben Vorwürfe und dieselben Kritiken, die für
uns den Ausgangspunkt unserer Scheidung gegenüber dem alten
Liberalismus, gegenüber dem Paläoliberalismus, bilden.
Unsere
Betonung der überwirtschaftlichen Werte ist mit aller Entschiedenheit
neuerdings auch wieder von unserem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard
ausgesprochen worden. Er hat es auf .dem Parteitag, der vor einigen
Monaten stattfand, geradezu zum Zentrum seiner Betrachtung gemacht, daß
es auch für die Wirtschaft um überwirtschaftliche, um höhere Werte gehe,
und daß die Wirtschaft in den Dienst dieser höheren Werte gestellt
werden
müsse.
Sein
wichtiger Mitarbeiter, mein Kollege Müller-Armack, hat gerade jetzt
eine Schrift veröffentlicht, die eigens diesem Nachweis gewidmet ist. Es
sei höchste Zeit, daß die Soziale Marktwirtschaft in eine neue Phase
einträte, so formuliert er es er hat ja seinerzeit den Ausdruck „Soziale
Marktwirtschaft geprägt nämlich eine Phase, für die ein neues Leitbild
der Gesellschaft, und zwar der Gesellschaft im ganzen, nicht nur des
Wirtschaftssektors der Gesellschaft, notwendig und zentral sei.
Wir
sind der Meinung, daß es unendlich viele Dinge gibt, die wichtiger sind
als Wirtschaft. Familie, Gemeinde, Staat, alle sozialen
Integrationsformen überhaupt bis hinauf zur Menschheit, ferner das
Religiöse, das Ethische das Ästhetische, kurz gesagt, das Menschliche,
das Kulturelle überhaupt. Alle diese großen Bereiche des Menschlichen
sind wichtiger als die Wirtschaft. Aber sie alle können ohne die
Wirtschaft nicht existieren; für sie alle muß die Wirtschaft das
Fundament, den Boden bereiten. Primum vivere, deinde philosophari. Wenn
die Wirtschaft nicht dafür sorgt, daß die materiellen Grundlagen eines
menschenwürdigen Lebens gegeben sind, können alle diese Dinge sich nicht
entfalten. Das heißt, alle diese überwirtschaftlichen Dinge haben
Forderungen an die Wirtschaft zu stellen Die Wirtschaft hat diese
Forderungen zu erfüllen, sie hat sich in den Dienst dieser Forderungen
zu stellen. Es ist der eigentliche Zweck der Wirtschaft diesen
überwirtschaftlichen Werten zu dienen.
Daraus
folgt innerhalb des Eigenbereichs der Wirtschaft sehr vieles. Es folgt
daraus vor allem, daß die Wirtschaft ihrerseits nicht Formen annehmen
darf die mit Jenen überwirtschaftlichen Werten unvereinbar sind.
Darauf beruht ganz wesentlich unser Widerspruch gegen die Planwirtschaft.
Es
hat sich erwiesen, und es läßt sich auch grundsätzlich nachweisen, daß
die Planwirtschaft mit Notwendigkeit in dem Maße, wie sie sich
entwickelt mit totalitärer Diktatur gekoppelt ist. Eine totale
Planwirtschaft läßt sich anders als mit totalitärer Diktatur überhaupt
nicht durchführen und ist nie anders durchgeführt worden. Da wir aus
sehr grundlegenden überwirtschaftlichen Gründen die Diktatur ablehnen,
müssen wir aus denselben überwirtschaftlichen Gründen auch die
Planwirtschaft ablehnen.
Wenn
wir mit Leidenschaft für die Wirtschaftsfreiheit eintreten, so tun wir
das in allererster Linie eben deshalb, weil die Wirtschaftsfreiheit die
notwendige, die unentbehrliche Grundlage der politischen Freiheit, der
menschlichen Freiheit ist, d. h. also im Dienst der Menschenwürde. Es
ist keineswegs so daß wir in die Marktwirtschaft als solche aus
irgendwelchen unerfindlichen Gründen verliebt wären, sondern wir bejahen
die Marktwirtschaft mit allem Nachdruck und mit allem Einsatz eben
deshalb, weil sie die unentbehrliche Grundlage eines so hohen
überwirtschaftlichen Wertes wie der Freiheit ist.
Man
hat uns auch den Vorwurf gemacht, den man gelegentlich in die ironische
Bezeichnung „Modelltischler" kleidet, wir seien in das Modell der
Marktwirtschaft so verliebt, daß wir nur deshalb meinten, ein so schönes
Modell müsse nun auch unbedingt verwirklicht werden, die Wirtschaft
müsse sich nach diesem Modell richten.
Es
ist wahr, daß die Marktwirtschaft, die Wirtschaft der
Leistungskonkurrenz, von allen Wirtschaftsformen als einzige modellfähig
ist, daß sich nur von ihr auf Grund des Automatismus der Marktgesetze
ein Modell machen läßt, an dem sich Wirkung und Gegenwirkung im voraus
klarstellen und infolgedessen entsprechende Folgerungen für die Praxis
der Wirtschaftspolitik ziehen lassen. .Diese Modellfähigkeit der
Marktwirtschaft ist tatsächlich ein großer Vorteil. Die anderen
Wirtschaftsformen haben diese Fähigkeit nicht und tappen deshalb bei
ihren Maßnahmen sehr viel stärker im Dunkeln. Ganz besonders gilt das
paradoxerweise für die Planwirtschaft, von der man an sich das Gegenteil
annehmen sollte. Bekanntlich treten gerade bei der Planwirtschaft
immerfort unerwartete Wirkungen auf, die sie, weil sie kein eigenes
Modell hat, nicht im voraus ablesen kann. Die Planwirtschaft hat nicht
den Vorteil der Modellfähigkeit. Aber dieser Vorteil, so groß er
theoretisch und praktisch ist, würde selbstverständlich niemals den
Ausschlag für die Wahl zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft
geben, sondern ist nur ein zuzüglicher Vorteil der Marktwirtschaft.
Ein
sehr grundlegender wirtschaftlicher Vorteil der Marktwirtschaft ist
ihre überlegene Produktivität. Es ist gar kein Zweifel, daß von allen
überhaupt zur Wahl stehenden Wirtschaftsformen die Marktwirtschaft die
bei weitem produktivste ist. Das hat sich in der Praxis immer wieder
erwiesen. Unsere deutsche Wirtschaftsentwicklung in den letzten zwölf
Jahren hat diesen Beweis wieder einmal in einer Weise erbracht, die die
Welt als Wunder anstaunt. Der gleiche Beweis läßt sich aber auch
theoretisch und grundsätzlich führen.
Nun
sagt man: „Da sieht man wieder, wie materialistisch ihr seid; ihr setzt
eben die höchste Produktivität als letzten Wert und entscheidet euch
wegen dieser höchsten Produktivität für die Marktwirtschaft!" Auch das
ist gar nicht wahr. Wir müßten bereit sein und wären bereit, für das aus
überwirtschaftlichen Gründen vorzugswürdige Wirtschaftssystem auch
dann einzutreten, wenn es weniger produktiv wäre als andere. Wir wären
bereit und müßten bereit sein, dafür auch wirtschaftliche Opfer zu
bringen. Es ist eine große Gnade, daß überraschenderweise diese Opfer
gar nicht von uns verlangt werden, daß vielmehr das produktivste
Wirtschaftssystem zugleich auch das im Dienst höherer Werte,
insbesondere im Dienst der Freiheit, notwendige ist.
Außerdem
hat der Einwand, daß es materialistisch sei, nach einem Maximum an
Produktivität zu streben, auch .etwas leicht Snobistisches. So lange,
als weder in unserem eigenen Bereich und noch viel weniger in der Welt
draußen dafür gesorgt ist, daß alle Menschen das Existenzminimum
gesichert haben, ist die Steigerung der Produktivität eine
überwirtschaftliche Forderung, eine soziale Forderung, eine ethische
Forderung, und nicht nur ein bloß materielles Mehr-haben-wollen.
Es
wird noch sehr lange dauern, und es wird noch sehr großer Anstrengungen
bedürfen, bis man mit der Unterernäahrung, dem Hunger und dem Elend
draußen in der Welt fertig wird, bis die gesamte Produktivität der
Wirtschaft für die Menschheit so groß geworden ist, daß kein Elend, kein
Hunger mehr in der Welt existiert. Bis dahin ist die Forderung nach
Produktivitätssteigerung eine soziale Forderung, eine ethische
Forderung, eine überwirtschaftlicbe Forderung an die Wirtschaft. Von der
Wirtschaft wird hier verlangt, daß sie das ihrige dazu tut, um allen
Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen also eine durchaus
überwirtschaftliche Forderung und weit davon entfernt, materialistisch
zu sein.
Diese
Überlegung spielt im übrigen auch in das Problem der
Arbeitszeitverkürzung hinein. An und für sich ist das Streben nach
Arbeitszeitverkürzung schon ein Bekenntnis zu überwirtschaftlichen
Werten. Wenn man rein materialistisch auf „mehr, noch mehr, immer noch
mehr" eingestellt wäre, wie es einmal ein amerikanischer Gewerkschaftler
als sein Programm formuliert hat, dann dürfte man die Arbeitszeit ja
nicht verkürzen, sondern müßte immer mehr, immer noch mehr
herausarbeiten, die Löhne erhöhen, die Lebenshaltung erhöhen usw.
Wenn
statt dessen die Gewerkschaften die Arbeitszeitverkürzung auf ihr
Programm geschrieben haben, so ist das ein Beweis, daß auch sie
überwirtschaftliche Werte anerkennen, daß auch für sie die Steigerung
des Einkommens kein letztes Ziel ist.
Allerdings
kommen hier zwei Probleme ins Spiel. Das eine Problem ist das Problem
der Freizeitverwertung. Die Freizeit kann sehr verschieden angewandt
werden, und von der Art der Verwendung der Freizeit hängt natürlich ihr
Wert ab. Das bloße Frei-von-Arbeit-sein ist eine ganz neutrale Sache.
Freizeit kann positiv, kann negativ angewandt werden, und erst in dem
Maße, als sie positiv angewandt wird, ist sie wirklich bejahenswert.
Das
ist der Grund, warum man die sehr ernsthaften kulturpolitischen
Bestrebungen der deutschen Gewerkschaften gar nicht hoch genug
anerkennen kann. Gerade heute haben die Gewerkschaften wieder eine
dreitägige Konferenz, ein Europa-Gespräch über solche Dinge, in
Recklinghausen eröffnet. Ich werde deshalb noch heute abend dort
hinfahren, um wenigstens dann noch daran teilnehmen zu können. Denn ich
halte gerade .diesen Teil der Bestrebungen der Gewerkschaften, der dort
mit großem Ernst betrieben wird, für ganz besonders zukunftswichtig und
fördernswert.
Ein
zweites Problem in diesem Zusammenhang ist das der Entwicklungsländer
und ihrer Notlage. Es ist die Frage, ob wir uns den an sich durchaus
bejahenswerten und überwirtschäftilichen Luxus der Arbeitszeitverkürzung
leisten können ohne jede Rücksicht darauf, daß andere Völker das nicht
nur noch nicht können, sondern noch nicht einmal das bare Lebensminimum
erreicht haben. Das hängt zusammen mit dem Problem der Hilfe für die
Entwicklungsländer überhaupt, das ja gerade jetzt bei uns sehr aktuell
ist.
Ich darf
vielleicht in diesem Zusammenhang betonen, daß an dem Problem der Hilfe
für die Entwicklungsländer sich die Wichtigkeit, das Wirtschaftliche den
überwirtschaftlichen Werten unterzuordnen, in ganz besonders deutlicher
Weise zeigt. Die Hilfe für die Entwicklungsländer, die schon bisher in
sehr erheblichem Umfang stattgefunden hat, insbesondere von seiten der
Vereinigten Staaten, hat vielfach zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen
geführt als denen, die bezweckt und erwartet waren. Man hat sich
gutwilliger-, aber kurzsichtigerweise eingebildet, mit der
wirtschaftlichen Hilfe sei schon alles getan, und wenn das nicht genüge,
müsse man eben die Summen noch steigern. Darüber hat man völlig
vergessen, daß es sich auch hier in allererster Linie um
überwirtschaftliche Dinge handelt, und daß man mit dem bloßen Betreiben
des Wirtschaftlichen ohne Rücksicht auf die höheren Werte weit mehr
schaden als nützen kann.
Ein
sehr krasses Spitzenbeispiel hat sich gerade jetzt in Japan gezeigt.
Die Amerikaner haben für Japan in materieller Hinsicht außerordentlich
viel getan. Als Antwort darauf haben sich die Erscheinungen ergeben, die
wir leider in den letzten Tagen erlebt haben. Das ist aber nun nicht
etwa Undank, der der Welt Lohn ist, sondern das liegt daran, daß die
Amerikaner nicht bedacht haben, daß die Zerstörung der traditionellen
japanischen Strukturen und Werte, die sie, wie sie meinten, im Interesse
der Demokratisierung betrieben haben, katastrophale Folgen haben mußte.
Ein Stück dieser katastrophalen Folgen ist das, was wir jetzt erlebt
haben.
Das ist
um so lehrreicher für das Problem der Entwicklungsvölker, als man ja
Japan gar nicht als unterentwickeltes Volk rechnen kann. Japan ist ein
Volk von außerordentlicher Kulturhöhe, von einer Külturhöhe, die lange
Zeit der unseren überlegen war. Wenn also selbst in einem Land, das über
eine Hochkultur, die der unseren gleichrangig ist, verfügt, eine als
Hilfe gemeinte Politik, die die Traditionen und die überlieferten
Strukturen zerstört, derartig katastrophale Folgen haben kann, so ist es
klar, wieviel katastrophaler es wirken muß, wenn bei der
Wirtschaftshilfe an die wirklich noch unterentwickelten Völker,
sogenannte Naturvölker, nicht auf die Pflege und die Weiterentwicklung
der traditionellen, eingewurzelten, sozialen, religiösen und ethischen
Strukturen Rücksicht genommen wird.
Also
auch beim Problem der Hilfe für Entwicklungsvölker handelt es sich in
allererster Linie und in übergeordneter Weise um überwirtschaftliche
Werte Die wirtschaftliche Hilfe kann viel mehr schaden als nützen und
viel mehr den feindlichen Kräften in die Arme arbeiten, wenn diese
überwirtschaftlichen Werte nicht gebührend vorangestellt werden.
Nun
zurück zu unseren eigenen Verhältnissen! Gerade wir Neoliberalen und
wir hier von der Aktionsgemeinschaft haben von jeher die Wichtigkeit der
Vitalpolitik betont, einer Politik, die nicht nur wirtschaftliche
Werte, in Ziffern meßbare, in Geldsummen ausdrückbare Werte
berücksichtigt, sondern die sich bewußt ist, daß viel wichtiger ist, wie
der Mensch sich in seiner Situation fühlt. Dieses Sichfühlen des
Menschen in seiner Lebenslage hängt zwar als Grundlage ebenfalls von
ökonomischen Dingen ab, aber m weit höherem Maße von überökonomischen
Dingen. Daher muß in der Wirtschaftspolitik und in der Sozialpolitik
gegenüber Schichten, die eine Hilfe der öffentlichen Hand noch nötig
haben, ganz entsprechend wie bei den Entwicklungsländern auf die
überwirtschaftliche Seite der allergrößte Wert gelegt werden, wenn die
Ziele, die man besten Willens mit dem materiellen Teil der
Wirtschaftsund Sozialpolitik verfolgt, auch wirklich erreicht werden
sollen.
Ich
nenne ein anderes Beispiel: die Politik der Monopolbekämpfung Wir haben
in den vergangenen Jahren, wie Sie wissen, sehr große Energie
dahintergesetzt, um an unserem Teil dazu beizutragen, daß das
Kartellgesetz zur Monopolbekämpfung durchgedrückt wurde. Es ist
durchgegangen, leider in einer sehr viel unvollkommeneren Form, als wir
es gewünscht hätten Diese Angelegenheit wird demnächst wieder aktuell
werden aus einem Grunde, den wir damals schon vorausgesehen haben,
nämlich, daß das Kartellgesetz sehr viel schärfere Möglichkeiten des
Eingriffs bei Kartellen als bei marktbeherrschenden Unternehmungen gibt.
Wir haben damals schon gesagt: Sobald es soweit ist, muß dieser Teil
der Sache, der bisher vernachlässigt worden ist, mit aller
Entschiedenheit in Angriff genommen werden Die Vorbereitungen dazu sind
jetzt im Gange. Wir halten es, gemäß unserem damals gegebenen
Versprechen, für unsere Pflicht, daran an unserem Teil mitzuarbeiten.
Diese
ganze Monopolbekämpfung steht aber in Wirklichkeit im Dienste
überwirtschaftlicher Zwecke. Von Gegnern wird uns entgegengehalten, wir
überschätzten die wirtschaftliche Bedeutung dieser Sache; wenn man alle
Monopolrenten zusammenzählte, sei das nur ein verhältnismäßig minimaler
Betrag. Diese Statistiken sind zweifelhaft. Aber selbst wenn sich
herausstellen sollte, was ich für möglich halte, daß der Gesamtbetrag
aller Monopolrenten gar nicht so übermäßig groß ist angesichts der
Milliardenzahlen, wie wir sie heute schon gewohnt sind, dann ändert das
an der Wichtigkeit der Sache nicht das geringste.
Unser
Kampf gegen die Monopole richtet sich nicht in erster Linie gegen die
Monopolrenten, gegen die Markbeträge, die dadurch verschoben werden, die
zu Unrecht dem einen zugeschoben und dem anderen weggenommen und
letzten Endes dem Konsumenten aufgebürdet werden; sondern unser Kampf
richtet sich dagegen, daß die Monopole eine Bedrohung der Freiheit sind.
Es ist unter dem Gesichtspunkt der Staatsstruktur nicht erträglich, daß
man es in einem Land, das demokratische Freiheit auf seine Fahne
geschrieben hat, duldet, daß sich private Machtpositionen nach privatem
Belieben bilden, daß mitten in unserem demokratischen Gefilde sozusagen
Raubritterburgen errichtet werden, die von den vorüberziehenden
Kaufleuten und Konsumenten Tribute erheben. Das ist ein grundsätzlich
unerträglicher Zustand, ganz gleich, wie groß oder wie klein die Tribute
sind; davon hängt es gar nicht ab.
Es
macht außerdem unsere Front gegenüber der Planwirtschaft unglaubwürdig,
Denn wenn wir derartige planwirtschaftliche Enklaven zulassen, wo
private Monopolinhaber innerhalb ihres Bereichs nach eigenem Gutdünken
Planwirtschaft betreiben, dann kann man mit Recht sagen: „Hier laßt ihr
es ja selbst zu! Aber wenn schon Planwirtschaft, dann soll wenigstens
die öffentliche Hand sie betreiben, nicht irgendein beliebiger
Unternehmer!"
Dagegen
läßt sich dann sehr wenig einwenden. Diejenigen Unternehmerkreise, die
immer noch für diese monopolistische Privat-Planwirtschaft eintreten,
sollten bedenken, daß sie damit an dem Ast der Wirtschaftsfreiheit
sägen, auf dem sie doch letzten Endes selber sitzen.
Ich
möchte noch ein konkretes Beispiel nennen aus unserer nächsten
sozialpolitischen Umgebung. Wir haben ein Familienministerium. Dieses
Familienministerium betreibt die Kindergelder. Sie wissen, daß wir gegen
diese Kindergelder die allerschwersten Einwände haben, und zwar
wiederum Einwände überwirtschaftlicher Natur. Die Beträge, die für die
Kindergelder aufgewandt werden, sind gar nicht so furchtbar hoch, bisher
wenigstens nicht. Außerdem, wenn sie wirklich für einen guten Zweck
verwandt würden, müßte man mit Freude bereit sein, sie zu zahlen. Aber
der Einwand, den wir dagegen haben, ist der: Die wirtschaftliche
Verantwortlichkeit der Eltern für ihre Kinder ist ein so zentraler Punkt
der Familienintegration, und der menschliche Zusammenhalt und die Moral
der Familie hängt in so zentraler Weise von dieser Verantwortlichkeit
ab, daß wir es für höchst verhängnisvoll halten, wenn gerade an diesem
Punkt Sozialisierungsbestrebungen einsetzen und wenn .gerade diese
Verantwortung den Eltern vom Staat in mehr oder minder großem Umfang
abgenommen wird.
Dagegen
scheint uns ein anderes Problem aus demselben Bereich sehr aktuell, das
Problem der Mütterarbeit. Bei der augenblicklich höchst dringenden
Nachfrage nach Arbeitskräften als Folge unserer Überbeschäftigung liegt
der Gedanke sehr nahe, der denn auch allgemein ventiliert wird, daß man
in stärkerem Umfang auf Frauenarbeit zurückgreifen könne und müsse. Das
wird im höchsten Grade bedenklich, wenn es sich dabei um Mütter kleiner,
noch nicht schulpflichtiger Kinder handelt.
Wir
wissen aus amerikanischen und anderen Untersuchungen, welch
katastrophalen Folgen für das Kind und für seine ganze weitere
Entwicklung es hat, wenn es an mütterlicher Liebe unterernährt bleibt.
In Amerika ist unfreiwillig ein krasser Versuch in dieser Richtung
gemacht worden. Es wird von einem Kinderheim für uneheliche Kinder
berichtet, in dem für die hygienische Behandlung der Kinder in
allermodernster Weise gesorgt war. Die Schwestern faßten die Kinder
sozusagen nur mit Gummihandschuhen an. Unter ökonomischem Gesichtspunkt
war es so eingerichtet, daß nicht mehr Schwestern da waren, als
unbedingt zur Versorgung der Kinder notwendig. Eine Schwester kam auf
ich glaube zwanzig Kinder. Die Folge war, daß diese hochhygienisch
behandelten Kinder derartig unter dem Mangel an Liebe und Zärtlichkeit
litten, daß sie richtig geisteskrank wurden. Es gibt einen Film darüber,
in dem man in wahrhaft erschreckender Weise sieht, wie die Kinder durch
diesen Mangel an mütterlicher Liebe von Monat zu Monat mehr
verblödeten.
Das
ist ein krasser Fall, aber in geringerem Maße tritt dieselbe
Erscheinung sehr häufig auf, und sie würde direkt provoziert werden,
wenn man bei dem Mangel an Arbeitskräften jetzt in größerem Umfang auf
Mütter kleiner Kinder als Arbeitskräfte zurückgriffe.
Ich
kann hier das Problem nur aufwerfen. Die Lösung ist schwierig. Ich
möchte sagen, daß ich persönlich nicht einmal etwas dagegen hätte daran
sehen Sie, wie sehr wir Neoliberalen uns von den Altliberalen mit ihren
Eingriffsverboten unterscheiden -, wenn man ein Einstellungsverbot für
Mütter kleiner Kinder erließe. Natürlich müßte man dann für diejenigen
Mütter, die nicht nur in Arbeit gehen, um sich einen Fernsehapparat oder
dergleichen kaufen zu können, sondern die es nötig haben und die
einfach arbeiten müssen, um sich und ihre Kinder ernähren zu können,
eine Unterstützung gewähren. Das wäre sozusagen eine Art verlängerter
Stillprämie, die dazu führt, daß Mütter, die sonst aus wirtschaftlichen
Gründen arbeiten müßten, den Kindern als Mütter erhalten bleiben. Eine
solche gesetzliche Bestimmung würde wirklich den Kindern nützen, im
Gegensatz zu den wahllos gegebenen Kinderprämien, über deren negative
Seite ich schon sprach, und die nicht einmal sicherstellen, daß die
Mutter nicht außerdem noch auf Arbeit geht, auch wenn sie es gar nicht
nötig hätte.
Ich
könnte noch eine ganze Reihe von Problemen berühren, bei denen sich
jedesmal nachweisen ließe, daß unsere Einstellung zu ihnen
überwirtschaftlich bedingt ist, im Dienst überwirtschaftlicher Werte
steht, und daß wir zugunsten solcher überwirtschaftlichen Werte auch
ohne weiteres bereit sind, unvermeidliche wirtschaftliche Opfer zu
bringen. Das gilt z. B. auch von der Siedlungspolitik.
Gegen
die Siedlungspolitik, die auf das familiengerechte Einfamilienheim mit
entsprechendem Garten gerichtet ist, wird häufig der Einwand erhoben,
das sei unwirtschaftlich, .das sei teurer als Etagenwohnungen und
beeinträchtige außerdem die marktwirtschaftliche Beweglichkeit der
Arbeitskräfte. Das mag sein. Aber wir sind der Meinung, daß der
wirtschaftliche Mehraufwand, den eine familiengerechte Wohnstätte
gegenüber einer Mietskaserne erfordert, bei weitem lohnt und daß auch
die verminderte Beweglichkeit ohne weiteres in Kauf genommen werden muß
im Dienste überwirtschaftlicher Werte, die unvergleich viel wichtiger
und höher sind. Auch das ist eine Forderung unserer Vitalpolitik.
Die
Sauberhaltung von Wasser und Luft: ein Problem, das, wie Sie wissen,
von Tag zu Tag dringender wird, und eine Sache, die sehr hohe Kosten
verursacht. Vom rein wirtschaftlichen Rentabilitätsgesichtspunkt läßt
sich also sehr viel dagegen sagen, denn es handelt sich hier wirklich um
sehr hohe Gesamtsummen. Trotzdem ist es eine Forderung, die unbedingt
durchgesetzt werden muß. Ich bin durchaus der Meinung, die kürzlich
unser Bundespräsident Lübke vertreten hat: Man muß sich fragen, ob ein
Volk, das eine dauernd zunehmende Verschmutzung seines Wassers und
seiner Luft zuläßt, überhaupt noch ein Kulturvolk genannt werden kann.
Ich
hoffe. Ihnen gezeigt zu haben, daß kein Vorwurf gegen uns neoliberale
Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft ungerechter sein kann als der,
daß wir das Wirtschaftliche überschätzten. Wir sind im Gegenteil der
Meinung, daß die Wirtschaft in allen Punkten und durchweg in den Dienst
überwirtschaftlicher Werte gestellt werden muß, und daß im Konfliktfall
diese überwirtschaftlichen Werte den Vorrang verdienen. Wir sind darin
mit den Kirchen, wie Sie im einzelnen noch sehen werden, und mit allen
Vertretern idealistischer Anschauungen vollkommen einig und in einer
Front.
Wir
sind darüber hinaus der Meinung, daß abgesehen von einer
Wirtschaftspolitik, die sich ihrer Dienstverpflichtung gegenüber jenen
höheren Werten nicht nur grundsätzlich, sondern bis in alle Einzelheiten
hinein bewußt ist jene Gebiete, auf denen die höheren,
überwiirtschaftlichen Werte herrschen, natürlich ihr Eigengewicht haben.
Wenn die Wirtschaft dafür sorgt, daß die wirtschaftlichen
Voraussetzungen für sie erfüllt sind das muß sie eben -, ist es Sache
der Vertreter jener Werte, das ihrige zu tun, um diese Werte
entsprechend zur Entfaltung zu bringen. Da sind wir allerdings der
Meinung, daß in unserer Bundesrepublik auf den anderen, nicht
wirtschaftlichen Gebieten in dieser Richtung sehr viel mehr getan werden
müßte und mit sehr viel mehr Idealismus und Schwung die Pflege dieser
überwirtschaftlichen Werte betrieben werden müßte.
Wir
sind der Meinung, daß unter diesem Gesichtspunkt der Sektor der
Wirtschaft derjenige ist, der im Gegensatz zu den oft erhobenen
Vorwürfen noch am meisten für die Erfüllung dieser überwirtschaftlichen
Forderungen getan hat, während auf den anderen Gebieten, wo die
überwirtschaftlichen Werte im Zentrum stehen und der eigentliche Inhalt
sind, zur Pflege der überwirtschaftlichen Werte, in deren Dienst wir die
Wirtschaft stellen, ein viel größeres Maß an idealistischem Schwung und
idealistischer Zielbewußtheit erforderlich wäre. (Beifall.)
Meine
Damen und Herren! Das Wort hat unser Freund Wilhelm Röpke, der es unter
großen Opfern aus überwirtschaftlichem Pflichtgefühl trotz seiner
Überbelastung heute möglich gemacht hat, hier zu erscheinen. (Beifall.)
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