Das Volk weist in der Frage der Auslandschulden den Weg
Das Hauptproblem waren die Auslandschulden der drei grossen Banken, für die der Staat gemäss EU-Doktrin die Haftung übernehmen sollte. Die Regierung des Nicht-EU-Landes Island verhandelte – vor allem mit Grossbritannien und den Niederlanden, von wo die meisten ausländischen Gelder (die sogenannten Icesave-Gelder) kamen. Icesave war die Internetbank der isländischen Landsbanki, die ausländische Sparer über viele Jahre mit hohen Zinsen angelockt hatte. Die beiden Regierungen verlangten die Rückzahlung der Gelder und kamen Island mit niedrigen Zinsen und langen Rückzahlungsfristen entgegen. Das isländische Parlament verabschiedete am 30.12.2009 ein Gesetz, das die Rückzahlungsmodalitäten regelte. Nun aber ging das Volk mit Kochtöpfen auf die Strasse und brachte seinen Unwillen zum Ausdruck, für ein Debakel bezahlen zu müssen, das es nicht zu verantworten habe. Ausländische Spekulanten müssten die Folgen für ihr Tun selber tragen. Sie hätten schliesslich für ihr Geld viele Jahre 10 Prozent Zins und mehr erhalten. «Ist es moralisch und rechtlich gerechtfertigt, das Risiko einfach dem Staat und dem Steuerzahler zu übertragen?» stand auf den Transparenten und Flugblättern. Die Bürgerinitiative DeFence (Widerstand) organisierte Protestaktionen verschiedenster Art. Sie sammelte über 60 000 Unterschriften (bei 350 000 Einwohnern) und verlangte eine Volksabstimmung. Die Bürger belagerten den Wohnsitz des Präsidenten mit roten bengalischen Kerzen, die weit sichtbar ein «Stopp» für diese Politik signalisierten. Staatspräsident Olaf Ragnar Grimsson hörte die Stimme des Volkes und veranlasste eine Volksabstimmung: «Den Kern unseres isländischen Staatswesens macht aus, dass das Volk der oberste Richter über die Gültigkeit der Gesetze ist. In diesem Licht habe ich beschlossen, in Übereinstimmung mit der Verfassung, die Entscheidung über das fragliche Gesetz an das Volk zu überweisen.» – 93 Prozent der Stimmbürger sagten im März 2010 nein zur Bezahlung der Bankschulden durch den Staat.
Grossbritannien und die Niederlande waren daraufhin wohl oder übel bereit, die Rückzahlung der Bankschulden neu zu verhandeln. Island erhielt in einem neuen Abkommen weitere Zugeständnisse und Zahlungserleichterungen. Die Rückzahlung wurde bis 2046 verlängert, womit die nächste Generation belastet würde. Die Volksvertreter im Parlament akzeptierten das Ergebnis mehrheitlich. Der Staatspräsident setzte erneut eine Volksabstimmung an. Das Volk sagte im April 2011 wiederum massiv nein. «Was nun?» wird sich mancher Beobachter damals gedacht haben.
Die Isländer lösten ihr Bankenproblem: Alle drei grossen Banken mussten Konkurs anmelden. Einige der für den Schlamassel Hauptverantwortlichen kamen ins Gefängnis. Die Landsbanki mit ihrer Internetbank Icesave wurde verstaatlicht, die beiden anderen wurden in eine «New Bank» und eine «Old Bank» aufgeteilt. Zur New Bank (die mit neuem Kapital ausgestattet wurde) gehörten alle Geschäftsbereiche, die im Inland benötigt werden, wie der Zahlungsverkehr, die Bankomaten, eine Kreditabteilung usw. Der Old Bank wurde der riesige Schuldenberg und das gesamte Auslandgeschäft mit vielen zweifelhaften Vermögenswerten übertragen, die im Konkursverfahren liquidiert wurden. Auf diese Weise blieben die Schalterhallen offen, und die Bankomaten waren immer in Betrieb. Die Banken erhielten neue Namen. Die frühere Kaupthing-Bank heisst heute Arion, die frühere Glitinir heisst heute Islandsbanki. Alle drei Banken (die heute zum Teil in ausländischer Hand sind) beschränken sich auf traditionelle einheimische Bankgeschäfte. Die isländische Währung war angesichts des «Erdbebens» im Finanzbereich und der Wirtschaftskrise massiv eingebrochen, und Kapitalverkehrskontrollen wurden notwendig.
Resultate zeigten sich bald: Der Tourismus und die Fischereiindustrie profitierten von der schwachen Währung. Island wurde billig und warb vor allem in europäischen Ländern, die sympathische Insel mit ihren Naturschönheiten zu besuchen. Es wurden weniger teure Gebrauchsgüter importiert, dafür mehr im Inland selber produziert. Der «Sozialabbau» hielt sich in Grenzen. Auf den Einbruch der Wirtschaftsleistung von sieben Prozent im Jahr 2009 folgte bereits drei Jahre später ein Plus von drei Prozent – ein Wert, der über dem EU-Durchschnitt lag. Die Arbeitslosenquote sank wieder. Die Rating-Agentur Fitch erhöhte die Kreditwürdigkeit des Landes wieder und begründete dies explizit mit dem «Erfolg unorthodoxer Antworten auf die Krise». («Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 21.2.2015) Geholfen hat weiter der Entscheid des EFTA-Gerichtshofes im Jahr 2013, der in diesem Fall volksnah urteilte und die Staatshaftung für die ausländischen Bankschulden ablehnte. Das Beitrittsgesuch zur EU hat das Land zurückgezogen. Kapitalverkehrskontrollen sind bereits Geschichte und Kredite des IWF wieder zurückbezahlt.
Erfolg auf dem Boden der Souveränität und der direkten Demokratie
Warum hat sich das Land so schnell wieder erholt? Entscheidend für die Rettung war zum einen die Stimme des Volkes. Die Isländer haben nicht nur in zwei Volksabstimmungen entscheidende Weichen gestellt. Die Bevölkerung hat in einer Vielzahl von Aktionen das Geschehen aktiv – aber immer gewaltfrei – mitbestimmt. So wehrte sie sich mit originellen Internetauftritten gegen Versuche von Grossbritannien, die Isländer in die Terrorecke zu drängen und sämtliche isländischen Bankguthaben in Grossbritannien einzufrieren. Zum anderen haben die Isländer die Ärmel hochgekrempelt, ihr marodes Bankwesen und ihre angeschlagene Volkswirtschaft wieder auf Vordermann gebracht.
Weiter war für die Rettung entscheidend, dass Island eine eigene Währung hat: Der massive Einbruch der isländischen Krone führte nicht in den Untergang (wie manche Finanzpropheten geunkt hatten), sondern er war eine entscheidende Voraussetzung für die schnelle Erholung. Der isländische Weg aus der Bankenkrise unterscheidet sich markant vom europäischen Weg der Bankenrettung, der Schuldenbewirtschaftung und der Staatsfinanzierung, die die EZB über die elektronische «Notenpresse» heute betreibt (indem sie Staatspapiere in grossen Mengen aufkauft).
Selbstverständlich ist die Situation in jedem Land anders, und der isländische Weg kann nicht 1 : 1 auf andere Länder übertragen werden. Er zeigt jedoch, wie eine Regierung, verbunden mit dem Volk, mutig neue Wege sucht und in der ärgsten Krise einen Ausweg findet. Er zeigt auch, wie ein kleines Land mit eigener Währung beweglich ist und sich in der globalen Finanz- und Wirtschaftswelt behaupten kann. Es spricht für sich, dass der IWF vor drei Jahren den isländischen Finanzminister Steingrimur Sigfusson angefragt hat (der jedoch ablehnte), bei der Bewältigung der Schuldenkrise in Griechenland mitzuhelfen. («Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 21.2.2015)
Es beindruckt, wie Island in wenigen Jahren seine katastrophale Finanzsituation bereinigen konnte, was dem kleinen Land wohl niemand zugetraut hat. Dabei hat das Volk über die direkte Demokratie eine wichtige Rolle gespielt. Finanzprobleme dürfen nicht von einer kleinen Elite hinter geschlossenen Türen gelöst werden. Sonst kommt heraus, was wir heute in Griechenland beobachten können – ein Debakel. Die Frage stellt sich unweigerlich, weshalb ein solcher oder ein ähnlicher Weg nicht auch in andern Ländern möglich ist, und wie man das lähmende und einengende Korsett des Euro-Systems sprengen könnte.
Unweigerlich kommt einem die griechische Mythologie in den Sinn: die Parabel über den Gordischen Knoten. Als Gordischer Knoten werden die kunstvoll verknoteten Seile bezeichnet, die am Streitwagen des phrygischen Königs Gordios befestigt waren und die Deichsel des Wagens mit dem Zugjoch der Pferde verbanden. Der Sage nach prophezeite ein Orakel, dass derjenige die Herrschaft Asiens erringen werde, der den Gordischen Knoten lösen könne. Viele kluge und starke Männer versuchten es, und keinem gelang es, bis Alexander der Grosse auf seinem Zug Richtung Persien diesen Knoten einfach mit seinem Schwert durchschlug und damit den Siegeszug durch Asien eingeläutet hat. – Ähnlich bräuchte es heute die mutige Tat eines Volkes, um sich aus der Verstrickung zu lösen. •
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