von Christian Fischer, Köln
Die aktuelle Situation führt uns allen die gegenseitige Abhängigkeit menschlichen Lebens vor Augen und wirft damit auch grundsätzliche Fragen auf: Die Grenzenlosigkeit des Virus ist das eine, die Problematik der Konzentration, Monopolisierung und Zentralisierung unserer wirtschaftlichen Produktion ein weiteres. Dies zwar nicht erst seit der Corona-Krise, nur ist uns nun auch in unseren westlichen Ländern bewusster geworden, wie schnell solche Fragen existentiell werden können.
Die derzeitige pandemisch bedingte Einschränkung der sozialen Kontakte ist ein Einschnitt, den wir so zwar noch nicht erlebt haben, der aber für viele von uns eine Zeit lang erträglich ist. Schliesslich haben wir Kommunikationsmittel und Supermärkte und Apotheken, in denen wir meist noch das finden, was wir brauchen. Auch älteren Menschen, die mehr als sonst auf Hilfskräfte angewiesen sind, wird geholfen. Das funktioniert erstaunlich gut; Hilfsbereitschaft ist an vielen Stellen spontan und schnell organisiert entstanden.
Schwieriger ist es bereits im medizinischen und pflegerischen Bereich; hier fallen zunehmend Kräfte aus, weil sie erhöhter Ansteckungsgefahr unterliegen; gleichzeitig werden absehbar vermehrt medizinische und pflegerische Kräfte gebraucht. Diese Schwierigkeit liegt in der Natur der Sache, eben einer Ansteckungskrankheit. Davon abgesehen regt die Covid-19-Pandemie aber auch zu einer grundsätzlichen Überlegung an: Wie zentral oder dezentral sollte unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben organisiert sein? Ist die Krise nicht gerade eine Nagelprobe für diese Frage?
Zentralisierung schafft Abhängigkeit und Ungerechtigkeit
Schon seit längerem findet eine Zentralisierung im politischen und gesellschaftlichen Leben statt. Legislative Kompetenzen sind von nationalen Parlamenten an eine EU-Kommission abgegeben worden, wirtschaftliche Konzentrationsprozesse zulasten des Mittelstandes finden statt, Krankenhäuser werden geschlossen oder müssen sich so spezialisieren, dass manche medizinischen Dienste nicht mehr bürgernah vorhanden sind, Produktionen werden an Billigstandorte irgendwo in der Welt verlagert, so vor Jahrzehnten Deutschlands Stahl- und Textilproduktion, vor kürzerer Zeit die Pharmaproduktion, um nur wenige Beispiele zu nennen. Internationale Abhängigkeiten sind auf den Arbeitsmärkten schon so weit entstanden, dass die Deckung des Pflegebedarfs für alte und kranke Menschen oder die Erntehilfe für lebensnotwendige Agrarprodukte nicht mehr ohne ständige oder zeitweilige Arbeitskräfte aus dem Ausland funktioniert. Umgekehrt fragen sich viele aber nicht einmal, wie unter diesen Umständen eigentlich die pflegebedürftigen Menschen in Osteuropa versorgt werden. Oder wie Landwirtschaft und Kleinhandel in Afrika gedeihen können, wenn wir unsere subventionierte Überproduktion dorthin verschiffen und verscherbeln. Oder wenn landwirtschaftliche Produktionsflächen ärmerer Länder in Energieerzeugungsflächen für reichere Länder umgenutzt werden. Umverteilungen finden in grossem Massstab statt; die reicheren Länder können sich weltweit gut und günstig versorgen; die anderen können schauen, wie sie zurechtkommen. Das globalisierte Freihandels-System funktioniert ähnlich wie in der Fussballwelt: Wenn in einem kleinen Zweitligaverein ein begabter Spieler auftaucht, wird er bald vom grossen Erstligaverein gekauft, und der kleine Verein bleibt, was er ist. Die Schwachen kommen nicht hoch, die Starken werden stärker.
Trotzdem werden Globalisierung und damit verbundene Zentralisierung von manchen als unvermeidlicher Gang der Geschichte, wenn nicht gar als wünschenswerter Fortschritt gesehen. Tatsächlich bekommen bei diesem Umverteilungsprogramm auch die Schwächeren manche Produkte, die sie aus eigener Kraft nicht selbst geschaffen haben, zum Beispiel Mobiltelefone; aber die Stärkeren profitieren überproportional. Zumindest solange «der Laden läuft».
Vor allem in Krisenzeiten werden dann aber Vernetzung und Zentralisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten als ein System von Abhängigkeiten sichtbar, die ins Gegenteil kippen können. Medikamente für Europa werden hauptsächlich in China produziert. Unsere Kleider werden in Bangladesch hergestellt. Gas und Benzin kommen von anderen Kontinenten. Und selbst tägliche Lebensmittel überschreiten Grenzen, die in der Krise wieder als solche sichtbar werden. Die internationale Arbeitsteilung schafft unzählige andere Beispiele, was gerade für uns reiche Länder geschehen kann, wenn «der Laden» mal nicht so läuft, wenn Grenzen nicht nur auf dem Papier bestehen.
Unabhängigkeit braucht dezentrale Grundversorgung
Natürlich kann als Gegenbeispiel nicht das andere Extrem Vorbild sein, so als könnten wir heute in kleinen Einheiten fast so autark leben wie ein Bauernhof vor tausend Jahren. Aber da unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben menschengemacht ist, können und müssen wir in gewissen Grenzen schon überlegen, wie wir es gestalten wollen.
Eine grössere Dezentralität von lebensnotwendigen Produktionsvorgängen würde jedenfalls grössere Unabhängigkeit, also mehr Souveränität bedeuten. Können wir es uns wirklich nicht leisten, so viele gut ausgestattete Krankenhausstandorte zu haben wie vor 50 Jahren? Warum können wir nicht lebensnotwendige Produktionen und Dienstleistungen auf kommunaler oder regionaler Ebene im Sinne einer Grundversorgung unterstützen, ja, gegebenenfalls auch mit Steuermitteln, wenn wir «systemrelevante» Banken mit Milliarden unterstützen konnten? Das sind Fragen an die Politik, also indirekt an uns Bürger. Und warum müssen wir unsere Waren zunehmend aus irgendeinem Zentrallager von einem Weltkonzern anliefern lassen, während gleichzeitig Einzelhandelsgeschäfte in unserer Nähe Insolvenz anmelden? Das ist eine Frage an uns Bürger direkt.
Wir entscheiden (mit) darüber, wie unser Wirtschaftsleben organisiert ist. Es sind politische Entscheidungen, ob dezentrale Strukturen für die Versorgung mit «zentralen» Gütern unterstützt oder eben gestört werden. Zurzeit werden Tendenzen zur Dezentralisierung und entsprechend «niederschwelliger» Selbstbestimmung propagandistisch grundsätzlich als «Abschottung» abgewertet, mit bösartigem Nationalismus in einen Topf geworfen und dem sowieso gestrigen Föderalismus untergerührt. Das ist das angesagte «Narrativ». Dass es die Aufgabe des Staates ist, seine Bürger zu schützen und in Freiheit leben zu lassen, ist in den Augen dieser Erzähler fast schon eine Menschenrechtsverletzung, weil dabei ja alle Nicht-Staatsbürger ausgeschlossen seien…
Dabei wäre die dezentralere Organisation im Interesse aller: Politische Entscheidungsebenen wären bürgernäher, und Produktion und Handel existenzieller Güter wären wesentlich flexibler. Wenn an einer Stelle Mangel entsteht, kann ein Nachbar, der selbst über «systemrelevante» Produkte und Dienstleistungen verfügt, rasch helfen. Bei einem zentralisierten Versorgungssystem dagegen, welches selbst für Grundleistungen nur noch auf die internationale Arbeitsteilung vertraut, bricht viel mehr auf einmal zusammen; der nächste zur Hilfe fähige «Nachbar» ist weit entfernt und schnell überlastet, wenn von allen Seiten zusätzliche Nachfrage kommt. Und wenn er sowieso schon auf den Standard-, aber nicht auf den Ausnahmefall zurück«optimiert» wurde. Abschottungsängste und Wagenburgmentalität können dem angedeuteten Vorschlag nur von dem unterstellt werden, der selbst ein entsprechend schlechtes Menschenbild hat. Tatsächlich erleben wir ja gerade in der Corona-Krise, dass selbständige und gesunde Nachbarn den anderen gerne helfen, wo sie können. Das ist die menschliche Natur. Diese Hilfe gelingt um so besser, je mehr wichtige Kompetenzen breit an vielen Orten verteilt sind, nicht in weit auseinander liegende und maximal profitable Zentren zersplittert.
Das berührt übrigens auch die unmittelbaren sozialen Beziehungen. In funktionsfähigen und einigermassen überschaubaren Einheiten sind die internen sozialen Beziehungen direkter; die Menschen kennen sich untereinander besser. Es ist ein Unterschied, ob ich mit meinem Metzger oder Bäcker reden kann oder ob ich meine Wurst und mein Brot aus einem riesigen Regal hole oder gar «vom Internet» anliefern lasse. Persönliche Bekanntschaft hilft selbst dann, wenn Ansteckungsgefahr besteht. Man verständigt sich und weiss mehr übereinander – mehr und vor allem Wichtigeres als man sich in stundenlangen Facebook-Chats mitteilen kann.
Eine dezentralere Wirtschaftsorganisation für grundlegende Dienste und Güter führt nicht nur zu mehr Flexibilität in der Krise, sondern auch zu mehr Gerechtigkeit im Normalfall: Existenziell unabhängigere Einheiten sind nicht so leicht zu schwächen, und sie haben oft selbst weniger Ambition, andere zu schwächen.
Der politische Wille, solche Strukturen zu unterstützen oder überhaupt zu schaffen, verlangt ein Umdenken in der Wirtschaftspolitik und kann Entscheidungen entgegen wirtschaftlicher «Vernunft» erfordern – sofern diese Vernunft nur den kurzfristigen Profit meint. Gestaltungswillen für eine gemeinwohlorientierte, gerechte, versorgungssichere, also für zentrale Leistungen dezentrale Wirtschaftsstruktur braucht Politiker, die sich nicht damit zufriedengeben, selbst von den stärksten Lobbyisten «gestaltet» zu werden. Zuerst braucht es deshalb Bürger, die solche Politiker hervorbringen. Das wäre die Selbstverwirklichung einer souveränen Bürgerschaft. •
Quelle: Zeit-Fragen Nr. 6 2020
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen