16 Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union formiert sich der Widerstand gegen Brüssel wie nie zuvor. Auf der Straße wird ein Austrittsvolksbegehren gefordert, auf Facebook eine Volksabstimmung. Die Blauen profitieren, Rot und Schwarz ignorieren die Entwicklung.
Text: Georg Eckelsberger, Nikolaus Jilch
Illustration: Tom Mackinger
„Wir braven Österreicher zahlen unsere Steuern und zahlen so für die EU. Für die Griechen, die immer nur streiken. Und für Irland und Portugal. Und Spanien bald auch. Ich bin ein Staatsdiener. Ich verdiene nicht übermäßig, aber ich muss zahlen. Immer und immer mehr“, sagt Paul K. Hinter ihm hat sich der 55-jährige Pavel D. (Name geändert) in die Schlange eingereiht. Weil er sich in der EU heute an sein früheres Leben im kommunistischen Polen erinnert fühlt, wie er sagt. „Ich bin vor 25 Jahren aus Polen nach Österreich gekommen. Damals war alles super hier. Aber die EU, die ist schlimmer, als es die Kommunisten je waren. Wie wir reden sollen, tun sollen, fahren sollen, essen sollen – alles wird von Brüssel vorgeschrieben. Das habe ich mir für meine Kinder nicht gewünscht. Deswegen bin ich ja aus Polen geflohen! Und deswegen habe ich hier unterschrieben.“
Eine Frau kommt vorbei und fängt an, mit den Betreibern des Volksbegehrens – vier Bürgerinitiativen, die seit vielen Jahren gegen die EU kämpfen – zu diskutieren: „Ich unterschreibe es nicht. Ich bin 73 Jahre alt. Ich habe keine Kinder. Mir ist alles schon egal. Aber eines muss ich schon sagen: Jetzt, wo wir wissen, dass das mit der EU eine Schnapsidee war, jetzt, wo wir nicht mehr rauskönnen – jetzt wollen plötzlich alle, die du fragst, dagegen gestimmt haben damals im 94er-Jahr. Plötzlich will niemand mehr je dafür gewesen sein. Genau wie beim Hitler.“
Was ist geschehen? Wie ist aus dem historisch einzigartigen Friedensprojekt Europäische Union, das die Freiheit und die Menschenrechte aller Europäer sichern soll, für manche Österreicher ein Dämon geworden – zu dem sie keine anderen Vergleiche finden als das Dritte Reich und den Sowjetkommunismus?
Die letzten wirklich repräsentativen Daten zur EU-Frage wurden in Österreich 1994 erhoben, als die Bevölkerung zur Volksabstimmung über den Beitritt aufgerufen wurde. Zwei Drittel waren damals dafür, ein Drittel dagegen. Im Burgenland war der EU-Zuspruch mit 74 Prozent damals am höchsten, in Tirol mit 54 Prozent am niedrigsten. Knapp 17 Jahre später hat sich die Stimmung stark verändert. Nur noch jeder vierte Österreicher sieht in noch mehr europäischer Integration eine Chance für die Zukunft, sagt eine aktuelle Fessel-GfK-Studie. Die regionalen Unterschiede sind inzwischen gewaltig – und andersrum: Während heute 62 Prozent der Tiroler in der EU die Zukunft sehen, können sich nur noch zwei Prozent der Burgenländer für Brüssel begeistern. Zwei Prozent der Burgenländer. Das sind gerade einmal 5.600 Menschen.
Lissabon-Vertrag, Überwachung, Gentechnik, Atomkraft, Grenzen, Neutralität, Krieg in Libyen: In Teilbereichen gab es immer schon Konflikte zwischen Österreich und Brüssel. Aber seit einem Jahr gibt es ein Problem, das alle angeht. Ein Geldproblem.
Nach nur zehn Jahren kämpft die europäische Einheitswährung um ihre Existenz. Der Euro ist weit entfernt von jener Stabilität, die traditionellen Hartwährungsländern wie Deutschland und Österreich bei seiner Einführung versprochen wurde. Fast täglich steigen jetzt die Summen, die von eben diesen Ländern zur Rettung von Euro, Banken und ganzen Staaten wie Griechenland und Portugal aufgebracht werden müssen. Es geht um hunderte, um tausende Milliarden an Steuergeldern – Summen, unter denen sich niemand etwas vorstellen kann. Und um die Frage: Wann soll das alles enden? Wenn Deutschland und Österreich genauso pleite sind wie Griechenland?
Kein Wunder, dass die EU-Skeptiker in Europa Zulauf bekommen. Hauptsächlich in jenen Ländern, die zahlen müssen. Die Wahren Finnen haben mit ihrem Widerstand gegen die „Rettungspakete“ kürzlich bei der Parlamentswahl einen Achtungserfolg errungen. Der Front National in Frankreich plant schon den Euro-Ausstieg für den Fall, dass er nach der Wahl 2012 in die Regierung kommen sollte. Und in Österreich liegt die FPÖ in den Umfragen derzeit gleichauf mit den Regierungsparteien SPÖ und ÖVP. Aber die, die es immer schon wussten – die EU-Gegner der ersten Stunde, die sich durch die Entwicklung bestätigt fühlen –, die sind im Parteiensystem gar nicht zu Hause. Vom Establishment vergessen und von den Medien unbeachtet, fanden sie sich in den vergangenen Jahren am Rand des politischen Spektrums wieder – und zwar sowohl am linken wie am rechten Rand. Den einen ist die EU zu neoliberal, den anderen zu sozialistisch. Und allen ist sie viel zu abgehoben, zu undemokratisch. Eine Diktatur der Bürokratie geradezu.
In Deutschland – wo das EU-Thema von keiner rechten Partei besetzt wird wie anderswo – ist dieser Diskurs schon in den Feuilletons der goßen Blätter angekommen. Der Autor Hans Magnus Enzensberger hat das Buch „Sanftes Monster Brüssel“ geschrieben – und prophezeit der Union nur noch ein kurzes Überleben. Der einflussreiche Philosoph Jürgen Habermas hat die EU in der Süddeutschen Zeitung heftig kritisiert. Der Ökonom und Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), Hans-Werner Sinn, argumentiert seit einiger Zeit lautstark gegen weitere Euro-Rettungspakete, die der deutsche Steuerzahler berappen muss. Mehrere Dutzend Ökonomen haben eine Petition gegen diese Bail-outs unterschrieben. Und Bürger haben bisher mehr als fünfzig Verfassungsbeschwerden eigebracht: gegen die Umwandlung der EU in eine Transferunion, in der Deutschland dauerhaft für die Schulden der schwächeren Staaten aufkommen muss.
Und in Österreich? Da gibt es ein Austrittsvolksbegehren, eine Facebook-Initiative, die Kronen Zeitung und die FPÖ.
Im Sozialen Netzwerk Facebook sind der Gruppe „Eine Million Österreicher für den EU-Austritt“ bisher rund 115.000 Menschen beigetreten. Facebook ist freilich nicht der Ort, an dem sich ein repräsentatives Meinungsbild erheben lässt, aber interessant sind diese Zahlen allemal: Die Europäische Union selbst hat dort nur knapp 90.000 Fans – weltweit. Hinter der Initiative steht eine Gruppe von Aktivisten, die ihre Namen noch nicht verraten wollen. Sie nennen sich „Anonymous“, dem Internet-Zeitgeist entsprechend. Auf Anfrage haben die Betreiber Screenshots geschickt, die beweisen, dass mehr als 100.000 Mitglieder der Gruppe tatsächlich aus Österreich kommen. Derzeit sind rund 2,3 Millionen Österreicher auf Facebook aktiv. „Das Netzwerk ist groß. Es gibt auch Anti-EU-Initiativen in Frankreich oder der Schweiz, aber bei weitem nicht so große wie in Österreich“, schreiben die Betreiber auf E-Mail-Anfrage.
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