Der Umsturz 1989 in Osteuropa und die Neue Weltordnung
von Prof. Dr. Peter Bachmaier*
Die Neue Weltordnung, die nach der Wende in Mittel- und Osteuropa eingeführt wurde, bedeutete die Durchsetzung des neoliberalen Modells, der Diktatur des Geldes, mit folgenden Merkmalen: völlige Liberalisierung der Wirtschaft, Abbau des Staates, Auflösung des Staatseigentums und Privatisierung, Deregulierung, Unterstellung jedes Landes unter die Kontrolle ausländischen Kapitals und schliesslich die politische Eingliederung in das westliche System, in die EU und die Nato.
Der Ostblock, der unter der Herrschaft der Sowjetunion stand, wurde aufgelöst, weil Michail Gorbatschow auf der Konferenz von Malta mit George Bush am 2. Dezember 1989 auf Osteuropa «verzichtet» hatte. Allerdings hatte man ihm dafür versprochen, dass sich die Nato nicht nach Osten ausdehnen werde. Die Konferenz der KSZE in Paris im November 1990 war der Höhepunkt der Entspannung. In der Charta für ein Neues Europa wurde die Grundlage für ein «gemeinsames Haus Europa» formuliert. Europa wurde «einheitlich», und die Ost-West-Spaltung, die seit 1945 gedauert hatte, schien überwunden. Das Ziel der amerikanischen Aussenpolitik war jedoch die Unterwerfung Russlands, wie aus dem «Project for the New American Century» 1997 und anderen Dokumenten hervorgeht. Zbigniew Brzezinski forderte 1997 in seinem bekannten Werk «Die einzige Weltmacht» die Auflösung Russlands in drei Teile: in ein europäisches Russland, Sibirien und eine Fernostrepublik und erklärte: Die Neue Weltordnung wird auf den Trümmern Russlands errichtet werden. Washington möchte heute mit Putin Schluss machen und hat offensichtlich entschieden, dass er ein wesentliches Hindernis in seinen Plänen ist, weil Russland zusammen mit China die einzige globale Achse des Widerstandes ist. Die Nato expandierte nach Osten und ebnete den Weg für die Europäische Union. Das Ziel der Nato hat heute nichts mehr mit Verteidigung zu tun. Sie will sich so weit wie möglich nach Osten ausdehnen, um Russland zurückzudrängen. Auf ihrer Tagung in Wales im September 2014 hat die Nato eine Offensive nach Osten beschlossen. In jedem östlichen Mitgliedsstaat der Nato, vor allem in Polen und den baltischen Ländern, werden Truppen stationiert, «um damit einen russischen Angriff zu verhindern», wie es heisst. Die Ausgaben für die östlichen Verbündeten der Nato wurden vervierfacht.
Die Expansion der Europäischen Union: der Osten wird Peripherie
Nachdem die Europäische Gemeinschaft bereits 1989 das PHARE-Abkommen (Poland and Hungary Assistance for Restructuring the Economy)1 für die Umstrukturierung der ostmitteleuropäischen Länder beschlossen hatte, folgte 1993 der EU-Gipfel von Kopenhagen, der die Assoziierung der ostmitteleuropäischen Länder beschloss und festlegte, dass sie der EU beitreten könnten, wenn sie die Bedingungen der Kopenhagener Kriterien erfüllen und den Acquis communautaire übernehmen würden. Durch die Assoziierung mussten die ostmitteleuropäischen Länder in den neunziger Jahren die Prinzipien der neoliberalen Wirtschaft übernehmen. Die Europäische Union nahm 2004 die ostmitteleuropäischen und baltischen Länder, 2007 Bulgarien und Rumänien und 2012 Kroatien als Mitglieder auf. In der Folge wurde die Wirtschaft Ostmitteleuropas von westlichen Konzernen übernommen, und der Osten wurde zum «peripheren Kapitalismus» (Dieter Senghaas). Die Regierungen wurden von amerikanischen Experten wie Geoffrey Sachs beraten. Die neue Elite in den Beitrittsländern verkaufte das Volksvermögen ihrer Länder ans Ausland. Die Länder Ostmitteleuropas zählen heute zur Peripherie, wie Hannes Hofbauer in seiner Untersuchung «EU-Osterweiterung» (2008) gezeigt hat. Sie verloren weitgehend die Kontrolle über ihre eigene Entwicklung. Die Ost-Erweiterung der Europäischen Union diente vornehmlich dazu, den grössten Unternehmen im Westen neuen Marktraum zu erschliessen. Die praktischen Folgen der radikalen Umstellungsmassnahmen in den meisten Ländern waren Massenarbeitslosigkeit, Korruption, sinkende Lebenserwartung und ständige Abwanderung qualifizierter Fachkräfte. Die Industrie wurde zum Grossteil zerschlagen, die Produktion sank, und Millionen Arbeitsplätze wurden vernichtet. Die Menschen wurden in Gewinner und Verlierer eingeteilt.
Die verlängerte Werkbank der westlichen Konzerne
Die Betriebe der ostmitteleuropäischen Länder, die übrigblieben, wurden in eine verlängerte Werkbank der westlichen Konzerne verwandelt. In Polen, das als Erfolgsmodell gilt, wurden seit dem EU-Beitritt 2004 mehr als 90 % der Kohlebergwerke, die mehr als 300000 Menschen beschäftigten, geschlossen. Die grosse Danziger Schiffswerft, die in den 1960er und 1970er Jahren weltweit die meisten Schiffe baute, ist heute praktisch ohne Aufträge. Polens Auslandsschulden stiegen von 99 Milliarden US-Dollar 2004 auf 360 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015. In Tschechien wurden die berühmten Škoda-Werke von der Volkswagen AG übernommen, die ein neues Montagewerk errichtete, in dem verschiedene dezentrale Subsysteme arbeiteten. Die Pkw-Produktion der Tatra-Werke wurde geschlossen. In Ungarn hat Ikarus, einst der grösste Autobushersteller der Welt, seine Produktion praktisch eingestellt, weil der IWF bei seinen Bedingungen für Staatskredite an Ungarn den Export von Autobussen in den ehemaligen RGW-Raum (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, 1949–1991)2verboten hat. In Bulgarien und Rumänien ist heute die nationale Industrie vollständig verschwunden, und strategische Sektoren wurden an ausländische Unternehmen verkauft. Im Rahmen der «Östlichen Partnerschaft» soll den Nachfolgestaaten der Sowjetunion Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Ukraine und Weissrussland ebenfalls eine Politik der wirtschaftlichen Annäherung, der demokratischen Fortschritte und der finanziellen und technischen Hilfe geboten werden. Das Programm hat das strategische Ziel, einen «Ring stabiler, befreundeter Staaten» um die EU herum zu etablieren. Mit den sechs ehemaligen Sowjetrepubliken wurden entsprechende Abkommen geschlossen. Der Deindustrialisierung folgte eine handels- und wirtschaftspolitische Neuorientierung. Schon nach knapp zehn Jahren Reformeifer hatte sich eine völlige Änderung der Aussenhandelsbeziehungen ergeben. Tschechien exportierte 1999 bereits 69 % seiner Waren in die EU, Ungarn 76 %, Polen 70 %, Rumänien 65 % und Bulgarien 52 %. In Tschechien, Ungarn, der Slowakei und Slowenien spielte der Zusammenbau von Pkw eine wichtige Rolle. Die Kluft zwischen Ost und West hat sich nach 1989 vergrössert, von Aufholen kann keine Rede mehr sein. Der Anteil ausländischer Geldinstitute am Gesamtmarkt lag bereits vor der EU-Erweiterung zwischen 60 und 80 %. Die Erweiterung dient vornehmlich dazu, den stärksten Kräften im Westen – den so genannten Global playern – neuen Marktraum zu erschliessen. Im Jahrzehnt nach der Wende von 1989 wurde, bereits vor dem Beitritt zur EU, ein Eigentümerwandel in der Wirtschaftsstruktur dieser Länder durchgesetzt. Unter dem Stichwort der «internationalen Arbeitsteilung» wurde die Auslagerung von industrieller Produktion aus den wirtschaftlichen Zentralräumen in Randgebiete praktiziert. Tausende Industriestandorte wurden nach Osteuropa ausgelagert, wo die Lohnkosten nur ein Zehntel betrugen. Vor allem Ungarn, die Slowakei und Tschechien sind zu verlängerten Werkbänken für die westeuropäische Automobilindustrie geworden. Auch die Landwirtschaft wurde von der EU nicht verschont. Während in der EuroZone ein Hektar durchschnittlich 10 000 Euro kostet, beträgt der vergleichbare Preis in den ostmitteleuropäischen Ländern nur 1000 Euro oder weniger. In der Ukraine ist es den westlichen Agrarkonzernen bereits gelungen, 40 % des Bodens zu erwerben. Andere Länder wie Ungarn wehren sich noch dagegen.
Das Vorantreiben der kulturellen Harmonisierung
Die Neue Weltordnung bedeutete auch die Durchsetzung eines neuen liberalistischen Wertesystems in der Gesellschaft mit dem Ziel der Auflösung der nationalen Kultur, der traditionellen Familie und der Atomisierung der Gesellschaft, eine «Diktatur des Relativismus» (Benedikt XVI.). Der Westen ist heute kosmopolitisch, er ist für die «Ehe für alle» und eine Kultur der Diversität. Die EU beschloss im Jahr 2000 die Charta der Grundrechte, die keine Beziehung zum Naturrecht mehr hat. Die EU möchte «die kulturelle Harmonisierung vorantreiben» (Johannes Hahn), mit dem Ziel der Umerziehung der Menschen, vor allem der Jugend. Die Medien in Mittel- und Osteuropa sind faktisch von westlichen Medienkonzernen gesteuert: von der News Corporation von Rupert Murdoch, von der Bertelsmann AG, vom Springer-Konzern, der WAZ-Gruppe und dem Schweizer Medienkonzern Ringier. Ein Grossteil der polnischen Medien wird heute von BRD-Verlagen kontrolliert (Bauer Medien Group, Verlagsgruppe Passau und Axel Springer (der die Zeitung «Fakt» – die polnische «Bild» – und Newsweek Polska herausgibt). Eine grosse Rolle spielen die amerikanischen Stiftungen wie die Open Society Foundation, die auch Universitäten wie die Central European University in Budapest oder die Southeast European University in Bulgarien betreibt. Alle östlichen EU-Mitglieder sind dem Pisa- und Bologna-System beigetreten, das von der OECD gesteuert wird und zum Ziel hat, das gesamte Bildungssystem ökonomischen Kategorien zu unterwerfen. Das Bildungswesen hat sich parallel zur fortgesetzten Peripherisierung der Ostregion verschlechtert. In allen ehemals sozialistischen Ländern hat sich die Anzahl der Schüler in den Grundschulen teilweise drastisch reduziert. Die Aufgabe der Universität besteht nun in der Produktion von «Humankapital» für den Markt. Der Neoliberalismus möchte nur mehr Konsumenten produzieren.
Der Bevölkerungsrückgang im Osten
Der Neoliberalismus hat im Osten zu einem dramatischen demographischen Wandel geführt. Sinkende Geburtenraten, die gleich nach der Wende von 1989 begannen, zeugen von der Zukunftsangst der Menschen. Bereits 1993 kamen um durchschnittlich 18 % weniger Kinder auf die Welt als 1989, die Rückgänge lagen zwischen –3,3 % in Ungarn und –31,7 % in Rumänien. Eine Folge des Transformationsprozesses war ein riesiger Migrationsstrom von Ost nach West, der bis heute anhält. Etwa 14 Millionen Menschen haben seit dem Fall des Eisernen Vorhangs die Region um Mittel-, Ost- und Südosteuropa Richtung Westen verlassen, wie das Wiener Institut für Demographie im Jahr 2016 schätzt. Heute leben um 23 Millionen Menschen weniger in der Region als damals. Im Jahr 1989 waren es 214 Millionen. Allein in Österreich leben im Jahr 2016 nach Auskunft dieses Instituts 778 000 Menschen, die in Mittel-, Ost- oder Südosteuropa geboren wurden. Auch heute will ein grosser Teil der Jugend, vor allem gut ausgebildete Facharbeiter, Techniker, Ingenieure, Chemiker, Biologen, Ärzte und so weiter, ihr Land verlassen, um im Westen eine bessere Beschäftigung zu finden. In den Balkan-Ländern ist das nach den Umfragen etwa die Hälfte der Jugendlichen. Die von der Auswanderungswelle betroffenen Länder sind darüber «sehr besorgt». Die Regierungen entwickeln staatliche Programme zur Bevölkerungssicherheit. In Ungarn wurde für Auswanderer das Programm «Kommt nach Hause, junge Leute» entworfen, das finanzielle Anreize für die Heimkehr bieten soll, denn die jungen Leute fehlen im eigenen Land. In Litauen ist die Bevölkerung seit der Wende von 3,7 auf 3 Millionen, in Bulgarien von 9 auf 7,1 Millionen im Jahr 2015 zurückgegangen.
Der Niedergang des Ansehens der EU
Dieser gewaltige Umbruch hat bei der Masse der Bevölkerung nach der anfänglichen Euphorie eine grosse Enttäuschung ausgelöst. Seit dem EU-Beitritt sinkt in den ostmitteleuropäischen Staaten das Vertrauen in die EU, wie der Politologe Dieter Segert nachwies. In den beiden am höchsten entwickelten Ländern der Region, in Tschechien und Slowenien, ist das Vertrauen in die EU am niedrigsten und das Misstrauen am höchsten. Nach dem Eurobarometerindex hatten im Jahr 2015 in Tschechien 63 % (!), in Slowenien 61 %, in Ungarn 51 %, in Polen 39 % und in der Slowakei 51 % kein Vertrauen mehr in die EU. Diese negative Wahrnehmung der EU wird in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigt: «Die derzeitige Wirtschaftskrise in vielen EU-Ländern hat zu einem Verlust des Ansehens der EU geführt. In fünf von acht Ländern verbinden die Bürger die EU mehr mit Misserfolgen als mit Erfolgen, wobei die Mitglieder der unteren Schichten besonders skeptisch sind.» (FES 2016) Dieser Verlust des Vertrauens ist auch auf die Euro-Krise (seit 2008) und die jüngste Flüchtlingskrise (seit 2015) zurückzuführen. Die Situation verschlechterte sich durch das traditionell niedrige Niveau der politischen Teilnahme in den Wahlen zum Europäischen Parlament. Die Abstinenz ist in den ostmitteleuropäischen Staaten besonders hoch, aber der Wähleranteil bei nationalen Wahlen ist zwei- oder dreimal so hoch wie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Die Ereignisse seit dem Sommer 2015 in Zusammenhang mit der Migrationskrise brachten in allen östlichen Mitgliedsstaaten einen klaren Verlust des Vertrauens in die EU. Die hohen Erwartungen, die im Jahr 1989 entstanden – verbunden mit dem Systemwandel zum westlichen Kapitalismus – verwandelten sich etwa zwei Jahrzehnte später in eine tiefe Enttäuschung. Die Alternative sehen die Menschen dieser Region zunehmend in einer Rückkehr zum Nationalstaat.
Der Widerstand der östlichen EU-Länder
Die ehemals sozialistischen Länder leisten seit Mitte 2015 offenen Widerstand gegen die Politik Brüssels in der Migrationsfrage. Die tiefere Ursache für den Widerstand liegt aber in der nationalen Kultur, die im Osten – paradoxerweise – gerade durch den Eisernen Vorhang bis zu einem gewissen Grad erhalten blieb, weil die kommunistischen Regime den westlichen Liberalismus, vor allem nach der 1968er Revolution, abwehrten. Der Staat fördert in den östlichen Ländern bis heute die Nationalmuseen, die Nationaltheater, die Nationalphilharmonien und so weiter als identitätsstiftende Kultureinrichtungen. Die moderne westliche Kunst und Kultur, die sexuelle Revolution, der Drogenkonsum, die Regenbogenparaden und so weiter wurden im Ostblock nicht akzeptiert und sind dies in der Bevölkerung bis heute nicht. Der Kosmopolitismus wurde im Osten als imperialistische Ideologie bekämpft und wird auch heute als Bedrohung für die kulturelle Identität betrachtet. Im Osten spielen Werte noch eine Rolle, es gibt eine nationale und religiöse Wiedergeburt, die Familie wird noch geschätzt, weil der Osten andere Zeiten erlebte. Die westlichen Medien kritisieren heute die östlichen EU-Länder, weil sie ihre sozialen Werte und kulturellen Perspektiven für zurückgeblieben halten. Die führenden Politiker der östlichen Region zeigen heute Zurückhaltung gegenüber der EU und akzeptieren auch nicht den Kanon der politischen Korrektheit. Sie leisten einen verstärkten Widerstand, vor allem gegen die zunehmende Zentralisierung. In Polen verlangt die neue Regierung von den Medien, «nationale Traditionen sowie patriotische und humanistische Werte zu pflegen». Das Theater soll die allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Werte und Normen nicht verletzen. «Es gibt keinen Grund», erklärte der neue polnische Kulturminister Piotr Glinski, «dass Gruppen, die zum Abbau polnischer Kultur, Tradition und Identität beitragen, so wie bisher favorisiert werden». Staatliche Theater sollten auch eine öffentliche Mission erfüllen, meinte Glinski. «Sie sollen mit unserer Identität, mit der Geschichte, mit dem Kanon kultureller und nationaler Werte verbinden.» In Ungarn wurde am 1. Jänner 2011 ein neues Mediengesetz in Kraft gesetzt, das die öffentlich-rechtlichen Medien einer Aufsichtsbehörde unterwirft, die die Medien auf ausgewogene Berichterstattung und auf ihre Orientierung an der «Stärkung der nationalen Identität» überprüfen soll. In der Kultur wurden die Subventionen für die sogenannte freie Kunstszene gekürzt. Das Nationaltheater wurde wieder zu einem Haus der Nationalkultur.
Die Verteidigung der sozialen Werte
Im östlichen Europa werden aber nicht nur kulturelle, sondern auch soziale Werte verteidigt. In Polen erhöhte die neue Regierung die Steuern auf ausländische Banken und internationale Supermarktketten, was die Wettbewerbssituation für den Mittelstand verbessern soll. Die Rechte und Chancen für kleine polnische Händler sollen gegenüber den multinationalen Akteuren auf dem Markt gewahrt werden. Gleichzeitig sollen aus den zu erwartenden Steuereinnahmen Familien und Kinder sozialpolitisch unterstützt werden. So will man den polnischen Familien ab dem zweiten Kind 112 Euro monatlich als Familienunterstützung bezahlen. In Ungarn ist seit 1994 Ausländern der Kauf ungarischen Bodens verboten, um das Land vor ausländischen Spekulanten zu schützen. Deswegen schlossen viele österreichische Bauern von 1994 bis 2001 nur noch Niessbrauchverträge ab, mit denen der ungarische Grundeigentümer dem ausländischen Nutzniesser den Boden auf Lebenszeit oder für 99 Jahre überliess. Im Jahr 2014 wurden von der Regierung Orbán auch diese Verträge gekündigt. In der Slowakei gab es Widerstand in der Euro-Krise gegen den Rettungsschirm und die Fiskalunion, wo das Parlament unter dem Vorsitz von Richard Sulík im Oktober 2011 den Rettungsschirm ablehnte. Tschechien unterzeichnete die Fiskalunion nicht. Der Widerstand gegen die neoliberale Umstrukturierung spiegelt sich im Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung wider, der regelmässig die demokratische und marktwirtschaftliche Entwicklung von 128 Ländern zu messen vorgibt. Dieser unterstellt seit 2012 für die meisten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas «Rückschritte», das heisst Qualitätseinbussen ihrer demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnung. Im Untersuchungszeitraum 2009 bis 2011 verringerte sich die «Demokratiequalität» nach Meinung der Stiftung in 13 der 17 Länder, wobei Ungarn besonders heraussticht. Die meisten dieser Länder haben gleichzeitig mit den politischen Reformen auch ihre wirtschaftliche Transformation verlangsamt.
Die Spaltung der EU in Ost und West
Die EU ist heute gespalten in Unionisten, die eine immer engere, zentralistische Union wollen, und Souveränisten, die ein Europa der freien, souveränen Nationen wollen. Die östlichen EU-Mitglieder wollen den souveränen Staat, deshalb kooperieren sie in der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) sowie in der Ostmitteleuropäischen Initiative (CEI), die auf Initiative Österreichs gegründet wurde und heute von der österreichischen Generalsekretärin Margot Klestil-Löffler geleitet wird. Die Visegrád-Gruppe beschloss eine gemeinsame Migrationsspolitik, was von Luxemburgs Aussenminister Asselborn als «Abkehr von Europa» bezeichnet wurde. Die vier ostmitteleuropäischen Länder beschlossen im Februar 1991 eine Kooperation, die auch einen internationalen Fonds zur Förderung kultureller Netzwerke umfasst. Tschechien machte im Jahr 2014 den Vorschlag, dass auch Österreich und Slowenien daran teilnehmen sollten. Das Land mit der grössten EU-Ablehnung ist heute Tschechien, wo die Austrittsbefürworter offiziell 57 % erreichen. Nach einer Umfrage der Wochenzeitung Reflex sprachen sich sogar 80 % der Befragten für den Austritt aus der EU aus. Der derzeitige Präsident Miloš Zeman wie auch sein Vorgänger Václav Klaus zählen zu den prominentesten EU-Kritikern. Die Spaltung Europas geht mitten durch einzelne Länder. In Deutschland sind es die neuen Bundesländer, das heisst die ehemalige DDR, die die zunehmende Verwestlichung ablehnen. In der Aussen- und Sicherheitspolitik bleiben die Regierungen dieser Länder allerdings von der Nato abhängig. Die Nato hat grosse Stützpunkte errichtet, führt grosse Manöver in Polen und den baltischen Ländern durch und unterstützt das Projekt Intermarium, das einst vom polnischen Marschall Jozef Pilsudski nach dem Ersten Weltkrieg ausgearbeitet wurde und die Einbeziehung der Länder zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer in den Einflussbereich Polens und damit der USA zum Ziel hat. Die herrschende Elite in den östlichen EU-Ländern führt zwar im Inneren eine eigenständige Politik, befolgt aber in der Aussen- und Sicherheitspolitik weiterhin die Weisungen aus Brüssel und Washington. Die Kluft zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung ist heute im Osten noch grösser als im Westen. Aber die Regierungen werden von der Bevölkerung zum Widerstand gezwungen. Es gibt auch in der Sicherheitspolitik einen Widerstand: Die Nato-Mitglieder Bulgarien und Rumänien weigerten sich, ihre Kriegsflotten zur Unterstützung der amerikanischen Kriegsflotte ins Schwarze Meer zu entsenden.
Österreichs Wende nach Osten und Südosten
Auch die österreichische Bevölkerung wird immer kritischer gegenüber der EU und orientiert sich zunehmend nach Osten. Auf der Balkan-Konferenz am 24. Februar 2016 in Wien wurde unter dem Vorsitz Österreichs mit neun Balkan-Ländern ein gemeinsames Vorgehen in der Frage der Migration beschlossen, das auch mit den Visegrád-Ländern abgestimmt war. Österreich tritt auch für eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland und Belarus ein. In der Kritik am TTIP-Abkommen mit den USA wird Österreich von den meisten östlichen EU-Staaten unterstützt. Die Zustimmung des österreichischen Volkes zur EU ist heute auf etwa 30 % gesunken. Gleichzeitig missbilligen in einer Gallup-Umfrage 60 % der 2015 befragten Österreicher die US-Politik. Damit sind sie an dritter Stelle nach Russland (89 %) und Belarus (67 %). In keinem anderen EU-Land war die Ablehnung so gross. Die antikapitalistische Ablehnung der USA eint links wie rechts – Amerika-Kritik als gemeinsamer Nenner.
Die Krise der EU
Die EU hat heute keine gemeinsame Strategie mehr: weder in der Währungspolitik, noch in der Sicherheitspolitik, noch in der Migrationspolitik. Die Kluft zwischen der herrschenden politischen Klasse, die von der Finanzelite und den Medien unterstützt wird, und dem Volk wird immer grösser. Die Zeitungen verlieren ihre Leser, weil sie gleichgeschaltet sind, und die Leser informieren sich aus dem Internet und den sozialen Medien. Die Leserbriefe in den Zeitungen zeigen, wie die Menschen wirklich denken. Die Volksabstimmungen in einzelnen Ländern zeigen, dass eine Mehrheit der Bürger genug hat von der Erweiterung der EU und den ungelösten Problemen. Die Alternative ist deshalb ein dezentralisiertes, soziales Europa, ein Europa der Nationen, aber ohne völkischen Nationalismus, und eine Zusammenarbeit mit Russland und anderen osteuropäischen Ländern, die ebenfalls Widerstand leisten. Die Visegrád-Länder fordern einen tiefgreifenden Wandel der EU und ein Europa der souveränen Nationen. Sie vertiefen ihre Zusammenarbeit mit den baltischen Ländern und mit den Balkan-Ländern. Wir brauchen heute keine Aufrüstung, keine verstärkte Konfrontation, sondern eine Zusammenarbeit zwischen Ost und West. •
* Prof. Dr. Peter Bachmaier ist Osteuropaexperte und Vorsitzender der Österreichisch-Weissrussischen Gesellschaft. Der Text folgt einem Referat, das am 6. Mai 2016 auf der Konferenz «Österreich, Belarus und die EU» an der Belarussischen Staatlichen Universität Minsk gehalten wurde.
Literatur:Hofbauer, Hannes. EU-Osterweiterung: Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration, Wien 2008 Musienko, Sergey (ed.). Belarus: Independence as National Idea, New York 2016 Segert, Dieter. Transformationen in Osteuropa, Wien 2013
1 PHARE war das zentrale Instrument zur Unterstützung des Transit- und Beitrittsprozesses der Kanditatenländer der EU. Es zielte auf die Verwaltungsorganisation, die wirtschaftlichen Stukturen und die Vorbereitung auf die Übernahme des acquis communautaire (Gesamtheit des gültigen EU-Rechts in der EU). Mehr als 2,5 Milliarden Euro wurden zwischen 1990 und 2000 im Rahmen vom PHARE eingesetzt. 2 Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) war eine internationale Organisation der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion.
km. In den vergangenen Wochen haben deutsche Politiker aller politischen Richtungen vor einer Kriegsgefahr gewarnt und Alternativen zur bisherigen Politik angemahnt. Wir haben eine Reihe dieser Stimmen zusammengestellt.
Frank-Walter Steinmeier: Panzerparaden schaffen nicht mehr Sicherheit
«Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen. Wer glaubt, mit symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses mehr Sicherheit zu schaffen, der irrt. Wir sind gut beraten, keine Vorwände für eine neue, alte Konfrontation frei Haus zu liefern.»
Quelle: Frank-Walter Steinmeier, Bundesaussenminister (SPD); in «Bild am Sonntag» vom 19.6.2016
Wolfgang Ischinger: Nato soll sich mässigen
«Wolfgang Ischinger, deutscher Spitzendiplomat und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, empfiehlt der Nato Zurückhaltung im Umgang mit Russland. Das westliche Militärbündnis solle ‹nicht draufsatteln, sondern mässigen›, sagte Ischinger dem NDR-Magazin ‹Panorama›. Die Gefahr, dass aus ‹Eskalationsschritten militärische Kampfhandlungen› werden, ist aus Ischingers Sicht grösser als in der Spätphase des Kalten Krieges oder ‹in den vergangen 25 Jahren›, ja sogar ‹grösser denn je›.»
Sarah Wagenknecht: Die Gefahr einer militärischen Eskalation ist sehr, sehr gross
«Ich finde, man sollte sich nicht mit dieser Möglichkeit [eines Krieges gegen Russland] beschäftigen, sondern damit, wie man alles tun kann, dass das niemals eintreten darf. Und ich finde schon, dass das, was die Nato jetzt macht – seit Jahren und forciert eigentlich in der letzten Zeit – Kriegsspiele sind. Und das ist eine hochgefährliche Politik. Was soll das? Manöver in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze, noch dazu unter dem martialischen Namen einer Würgeschlange. Dann dauerhafte Truppenstationierung, Raketenbasen. Deutschland ist überall beteiligt, und das angesichts der deutschen Geschichte. Ich finde das wirklich unglaublich verantwortungslos, weil so natürlich die Gefahr einer militärischen Eskalation sehr, sehr gross ist. Die kann aus einem Missverständnis entstehen. Und man muss sich ja immer bewusst sein: Hier stehen Atommächte einander gegenüber. Also es geht ja nicht darum, ob man jetzt die russische Politik toll findet. Ich finde da vieles überhaupt nicht toll. Aber wir müssen doch einfach einsehen, dass es in Europa Sicherheit nur mit Russland gibt und nicht gegen Russland. […] Wenn man zum Beispiel die Rüstungsausgaben betrachtet, dann gibt die Nato aktuell das 13fache dessen für Rüstung und Militär aus wie Russland. Und trotzdem will man jetzt noch mal eine deutliche Erhöhung der Rüstungsausgaben mit dem Ziel, dass alle Länder zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in Militärausgaben verschleudern. Das ist völlig irre. Wir haben ja schon das 13fache der Russen. Und was Grenzverschiebungen angeht, natürlich sind wir als Linke immer Kritiker von völkerrechtswidrigem Vorgehen. Das war auch schon im Kosovo so. Aber man muss natürlich schon sehen, wenn man sich die Entwicklung seit den neunziger Jahren ansieht, hat die Nato ihre Grenze immer weiter nach vorn geschoben, immer mehr in Richtung Russland. Erst die Osteuropäer, dann die Südosteuropäer. Jetzt ist Montenegro noch aufgenommen worden. […]
Deutschlandfunk: Die Menschen in Polen, im Baltikum, die sorgen sich ihrerseits vor russischer Aggression, vor den russischen Aufrüstungsprogrammen. Können Sie das einfach ignorieren?
Sarah Wagenknecht: Ich halte es wirklich nicht für realistisch, wenn irgendeiner denkt, dass Russland demnächst das Baltikum überfällt. Das ist doch absurd. In der Ukraine war eine spezielle Situation. Die russische Schwarzmeerflotte war schon da. Die war ja immer stationiert auf der Krim. Die hat die nicht besetzt, sondern die war vorher schon da, und die Russen wollten sie nicht abziehen und wollten auch nicht in der Situation sein, dass plötzlich ihre Schwarzmeerflotte und ihre für sie strategisch wichtige Schaltstelle dort auf Nato-Territorium stehen. […]
Christian Ströbele: Was wäre los, wenn Putin Truppen nach Kuba schicken würde?
«Haben 'nen Knall, die Nato in Polen und Baltikum. Was wäre los, wenn Putin robuste Truppen nach Kuba ins Manöver schickte. Undenkbare Folgen.»
Quelle: Twitter-Nachricht von Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) vom 8.7.2016
Horst Teltschik: Instrumentarien der Entspannung nutzen
«Wir haben auch in den letzten 20 Jahren Instrumentarien aufgebaut, um friedliche und Massnahmen der Entspannung zu entwickeln, und wir müssen uns auch im Westen fragen, ob wir sie auch genutzt haben – denken Sie an den Nato-Russland-Rat, den wir 2002 gegründet haben, denken Sie an die Grundakte von 1997 zwischen der Nato und Russland. Dort hat man viele Massnahmen verabredet, die wir in den Krisen der letzten Jahre nicht effizient eingesetzt haben.
Deutschlandfunk: Aber was soll die Nato denn konkret tun, wenn Mitgliedsstaaten wie die baltischen Staaten und Polen verlangen, dass sie ihnen hilft, weil die sich bedroht fühlen?
Horst Teltschik: Die baltischen Staaten wie Polen, wie alle anderen Mitgliedsstaaten der Nato, sind in einem Verteidigungsbündnis zusammengeschlossen. Sie sind Mitglieder der Europäischen Union, auch dort haben sie Sicherheitsgarantien, das heisst, sie sind in zwei Organisationen integriert, die sich wechselseitig die Sicherheit garantieren. Wenn Mitglieder davon nicht überzeugt sind, dann bräuchten sie auch nicht Mitglied dieser Organisationen werden. Russland und Präsident Putin sind ja nicht lebensmüde, ein Land anzugreifen, das Mitglied der Nato ist, wissend, dass sie dann praktisch in Kriegszustand mit 27 anderen Staaten gehen. Also man soll auch nicht übertreiben. […] Wir haben nach dem Ende des Kalten Krieges doch die weitreichendsten Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen getroffen, die es je gegeben hat. Diesen Prozess hätte man nicht unterbrechen, sondern weiterführen sollen. Wir haben damals eine Vereinbarung über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa verhandelt. Dieser Vertrag ist von Moskau ratifiziert worden, aber nicht vom Westen. Warum hat man diesen Prozess nicht wieder aufgenommen und weitergeführt? Wir hatten ein ganzes System vertrauensbildender Massnahmen, das heisst, die Ankündigung wechselseitig von Manövern, die wechselseitige Beobachtung von Manövern und, und, und. Das alles hat man ja nicht weitergeführt, zum Teil sogar aufgegeben. Das heisst, das Instrumentarium ist bekannt, es liegt auf dem Tisch, es ist zum Teil vertraglich vereinbart. Man hat den Nato-Russland-Rat in den entscheidenden Krisen – im Georgien-Krieg und im Ukraine-Konflikt – nicht einberufen. Jetzt hat immerhin der Nato-Generalsekretär Gott sei Dank angekündigt, dass man zwei Wochen nach dem Nato-Gipfel den Nato-Russland-Rat einberufen will. Ich hoffe, dass man dort die westlichen Massnahmen ausführlich erläutert und wieder an den Verhandlungstisch zurückkehrt und darüber diskutiert, was kann man tun, um Konflikte zu verhindern. […] Ich glaube, dass man mit Putin durchaus sprechen kann, das hat sich in der Vergangenheit auch gezeigt.»
Quelle: Horst Teltschick, ehemaliger Berater des Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) in einem
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