2010-10-13

Die immerwährende Neutralität Österreichs

 Die Neutralität Österreichs wird - so argumentieren auch Verfassungsexperten - ständig den internationalen Anforderungen angepasst - und so auf einen "Kern" reduziert. Am 18. Juni 1998 beschloss der Nationalrat mit den Stimmen der SPÖ, der ÖVP und des Liberalen Forums, also unter einer SPÖ - geführten Regierung, den Artikel 23f der österreichischen Bundesverfassung, wonach für die Teilnahme an EU-Militäreinsätzen ausdrücklich kein UNO-Mandat notwendig ist.

Noch dazu bringt der EU-Vertrag von Lissabon die militärische Aufrüstung mit allen Mitteln, der Einsatz österreichischer Soldaten in Drittstaaten im Kampf gegen den "Terror" und eine Beistandsverpflichtung im Falle eines Angriffs auf einen Mitgliedsstaat der Union. Stehen diese Verfassungsänderungen überhaupt zur Disposition des Gesetzgebers?

Justizminister a.D. Prof. Dr. Hans R. Klecatsky:
Das Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die immerwährende Neutralität Österreichs "nach Schweizer Muster" steht nach wie vor in voller Geltung und es kann gegenwärtig rechtsgültig weder geändert, noch beseitigt werden, auch nicht durch eine Volksabstimmung nach Art. 44 Abs. 3 B-VG. Es vollendete erst - jeglichen innerösterreichischen Verfassungsfragen vorausgehend - die schon vor Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Unabhängigkeitserklärung Österreichs vom 27. April 1945 (StGBl Nr.1) eingeleitete Phase der konstitutionellen Wiederherstellung der Zweiten Republik als freien und unabhängigen Staat unter Beendigung der Fremdbesetzung ihres Staatsgebietes durch die vier alliierten Siegermächte im Wege des "Moskauer Memorandums" vom 15. April 1955 und des diesem folgenden Wiener Staatsvertrags vom 15. Mai 1955 (BGBl Nr.152). Damit erst erlangte die Republik ihre voll handlungsfähige, souveräne Staatsqualität. Das Neutralitätsverfassungsgesetz gehört somit zu dem Komplex der dem heutigen Bundesverfassungsrecht vorgelagerten und dessen volle Geltung erst bewirkenden Staatsgründungakten der Zweiten Republik. Der 26. Oktober wurde denn auch in ausdrücklicher Erinnerung an dieses staatsfundamentale Ereignis zwölf Jahre später zum Nationalfeiertag im ganzen Bundesgebiet erklärt. Und zwanzig Jahre später wurde die immerwährende Neutralität auch noch unter den besonderen Schutz der auch für sich in alle Zukunft weisenden verfassungsrechtlichen Staatszielbestimmung der "umfassenden Landesverteidigung" gestellt.
Art. 9a B-VG sagt: "Österreich bekennt sich zur umfassenden Landesverteidigung, ihre Aufgabe ist es, die Unabhängigkeit nach außen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebiets zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität. Hierbei sind auch die verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihre Handlungsfähigkeit sowie die demokratischen Freiheiten der Einwohner vor gewaltsamen Angriffen von außen zu schützen und zu verteidigen (Abs.1).
Zur umfassenden Landesverteidigung gehören die militärische, die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung (Abs. 2). Staatszielbestimmungen solcher Art, einmal erlassen, weisen auch schon für sich über zeitlich befristete Legislaturperioden hinaus und können daher durch nur auf Zeit gewählte Staatsorgane, einschließlich des Parlaments, nicht sistiert werden.
Die Neutralität ist also mit der äußeren und inneren verfassungsrechtlichen Identität der 2. Republik samt ihren inneren "Baugesetzen" oder "Grundprinzipien", mit ihrem Werden und ihrer Zukunft nach dem klaren Wortlaut des Neutralitätsverfassungsgesetzes "immerwährend", "dauernd", "für alle Zeiten" verknüpft - somit eine die einfachen, nicht "immerwährenden" Verfassungsbestimmungen des B-VG überragende und auch dessen später leichtfertig eingefügten Art. 23f von vorneherein begrenzende Staatsfundamentalnorm oder Staatsexistenzialnorm, die als solche ausschließlich der Selbstbestimmung des österreichischen Volkes unterliegt. Nicht nur Politiker, auch Rechtswissenschaftler, die heute noch die verfassungsrechtliche Axiomatik der dem österreichischen Volk im Ganzen zuzurechnenden Wiedererrichtung der 2. Republik (1945) unter Abzug der alliierten Besatzungsmächte (1955) verneinen, sollten dies offen sagen !
Kann somit von einer "Derogation" des Neutralitätsverfassungsgesetzes - wie auch durch Einsichtnahme in den gewiss radikalen Kahlschlag des Ersten Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetzes festzustellen ist - keine Rede sein, so bleibt es Sache der österreichischen Staatsorgane und einer sie kontrollierenden öffentlichen Meinung, in konkreten Neutralitätsfällen, die aus der somit verfassungswidrigen (Verfassungsbestimmung) des Art. 23f B-VG entspringenden Zumutungen zurückzuweisen. Zu ignorieren sind dabei alle Einwände, die auf die verfassungsrechtliche Belanglosigkeit der "Immerwährigkeit" der Neutralität aus etymologischen oder militärischen Gründen hinauslaufen. Eine Verfassungsnorm, die sich als "immerwährend", "dauernd", "für alle Zeiten" geltend erklärt, kann schon aus rechtslogischen Gründen nur durch eine höherrangige, nicht durch eine gleichrangige beseitigt oder eingeschränkt werden .
Neutralität bedeutet Beitrag zum Frieden in der Welt, der niemals ein für allemal gesichert ist. Die österreichische Neutralität ist nach "Schweizer Muster" und diese besteht seit Jahrhunderten. Zur Beeinträchtigung des Neutralitätsstatus durch Art. 27 Abs.7 des Lissabonner EU-Vertrags verweise ich auch auf die Betrachtungen des Linzer Völkerrechtsprofessors Manfred Rotter:  "Beistandspflicht oder Neutralität - Österreichs Außen- und Sicherheitspolitik am Scheideweg" ; er trat insofern für eine, wenn auch fakultative Volksabstimmung nach Art. 44 Abs. 3 B-VG ein. Willibald P. Pahr, ehemaliger Leiter des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt und langjähriger Außenminister, schon 1967 am 3. Österreichischen Juristentag und am 27. Februar 2008 im Wiener Justizpalast sah in der Neutralität überhaupt ein unter Art. 44 Abs. 3 B-VG fallendes Grundprinzip der Bundesverfassung, was sie natürlich auch, aber eben noch mehr ist.

Nur das Volk (Art 1 B-VG), nicht seine Repräsentanten können von ihr rechtsgültig Abschied nehmen. Will man solches und lässt die gegenwärtige ruinenhafte Bundesverfassung für einen solchen Volksentscheid keinen Raum, so muss er erst in Ergänzung der Verfassung geschaffen werden und zwar wieder durch Volksabstimmung. Es geht schon für sich nicht an, dass auf Zeit gewählte Funktionäre der Republik eigenmächtig "immerwährendes" Staatsfundamentalrecht auch nur zeitweise beeinträchtigen. Die obersten Staatsorgane: Bundespräsident, Bundesregierung und in ihr den Bundesminister für Landesverteidigung trifft kraft ihrer verfassungsrechtlichen Führungskompetenzen gegenüber dem Bundesheer (Art 80 B -VG) in Verbindung mit der Staatszielbestimmung des Art. 9a B-VG die besondere Verpflichtung, die Neutralität der Republik positiv zu schützen, auch "geistig", "zivil", "politisch", nach allen Seiten hin, also auch gegenüber der EU und nicht nur gelegentlich, reduziert, sondern voll.

 
VI. Immerwährende Neutralität
Die immerwährende Neutralität Österreichs, ausweislich des Bundesverfas­sungsgesetzes vom 26. Oktober 1955 ein Baugesetz der österreichischen Ver­fassung, der auch in Art. 9a B-VG die umfassende Landesverteidigung Öster­reichs bestimmt, die nämlich „insbesondere zu Aufrechterhaltung und Vertei­digung der immerwährenden Neutralität“ dienen soll, stellt die Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union seit dem Beitritt in Frage. Die reiche Diskussion dieses Problems hat bisher nicht zu dessen Lösung geführt792.
Ein derart weitreichender und tiefgehender Staatenverbund, wie der der Eu­ropäischen Union (ein echter Bundesstaat) und (bislang) der Europäischen Gemeinschaft läßt es nicht zu, die Neutralitätsfrage auf sogenannte Kernele­mente zu reduzieren, nämlich auf die Teilnahme an Kriegen, Bündnis- und Stützpunktlosigkeit zu reduzieren793. Das widerspricht bereits dem ersten Ab­satz des Artikel 1 des Neutralitätsgesetzes, wonach Österreich die immerwäh­rende Neutralität „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen“ wird. Die in Absatz 2 dieses Artikel genannten, wenn man so will, Kernelemente der Neutralität, sind lediglich besonders schwerwie­gende Neutralitätsverstöße. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, die schon durch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) auf Kriege ausgerichtet ist, ist sicher keine Maßnahme, welche die Neutralität auf­recht zu erhalten und zu verteidigen geeignet ist, schon gar nicht, seit der Vertrag von Amsterdam die sogenannten Petersberg-Aufgaben in Art. 17 Abs. 2 verankert hat, nämlich „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedens­erhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung ein­schließlich Frieden schaffender Maßnahmen“. Kampfeinsätze bei Krisenbe­wältigung können nicht anders als Frieden schaffende Maßnahmen Militär­maßnahmen sein, die nicht der Verteidigung dienen und jedenfalls völker­rechtswidrig sind, wenn sie nicht durch die Vereinten Nationen gemäß deren Charta legalisiert sind. Der Einschränkung des Neutralitätsprinzips auf eine militärische Kernneutralität widerspricht Art. 9 a Abs. 2 B-VG selbst; denn dort heißt es: „Zur umfassenden Landesverteidigung gehören die militärische, die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung“. Richtig sieht die Bundesverfassung die Notwendigkeit, alle Kräfte für die Verteidi­gung des Landes einzusetzen. Demgemäß sind die geistigen, die zivilen und vor allem die wirtschaftlichen Möglichkeiten eines Landes Teil des Neutrali­tätsprinzips. Vor allem wirtschaftlich ist Österreich gänzlich in die Europäi­sche Union integriert.
Der Vertrag von Lissabon entwickelt die Sicherheits- und Verteidigungs­union deutlich weiter. Zum einen schafft dieser Vertrag, wie im 2. Teil A und zu IV dargelegt, einen Bundesstaat, in den Österreich eingegliedert ist. Dieser Bundesstaat beendet die immerwährende Neutralität Österreichs und ist damit eine Gesamtverfassungsänderung im Sinne des Art. 44 Abs. 3 B-VG und zu­dem eine Verletzung der unabänderlichen Strukturprinzipien der Verfassung Österreichs. Die auf eine immer engere Vereinigung der Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik der Mitgliedstaaten ausgerichtete Regelung des Art. 28a (42) EUV läßt eine eigenständige Landesverteidigung, wie sie Österreich in Art. 9 a B-VG vorsieht, schlechterdings nicht mehr zu. Die Verteidigung, die aus­weislich Art. 28a (42) Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 „zu einer gemeinsamen Verteidi­gung“ führen soll, sobald der Europäische Rat diese einstimmig beschlossen hat, schließt Österreich nicht aus. Auch Österreich verpflichtet sich durch den Vertrag nach Art. 28a (42) Abs. 3 UAbs. 2 S. 1 EUV, „seine militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Diese Verpflichtung wird in Art. 28d (45) EUV, der die Aufgaben der Europäischen Verteidigungsagentur zum Gegenstand hat, näher geregelt. Das ist eine Aufrüstungsverpflichtung im (vermeintlichen) Interesse aller Mitgliedstaaten, die zur gemeinsamen Si­cherheits- und Verteidigungspolitik genutzt werden soll.
Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 EUV geltender Fassung läßt die Gemeinsame Au­ßen- und Sicherheitspolitik der Union „den besonderen Charakter der Si­cherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ insgesamt unberührt. Diese Regelung nimmt Rücksicht auf die zur Neutralität verpflich­teten Mitgliedstaaten, auch Österreich. Das mag der Neutralitätspflicht genügt haben, wenn man diese auf einen Kernbereich reduziert. Die entsprechende Formulierung findet sich jetzt aber nur noch in Absatz 7 S. 2 des Art. 28a (42) EUV und betrifft darum nach der Stellung der Regelung im Text ausschließ­lich die Bündnispflicht im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheits­gebiet eines Mitgliedstaates.
Abgesehen davon, daß die Europäische Union durch den Vertrag von Lis­sabon endgültig zum Bundesstaat wird, so daß die sicherheits- und verteidi­gungspolitische Differenzierung der Mitgliedstaaten fragwürdig ist, bleiben alle anderen Verpflichtungen aus der Gemeinsamen Sicherheits- und Vertei­digungspolitik auch für die neutralen Staaten, also auch für Österreich, ver­bindlich. Österreich wird durch diesen Vertrag weitestgehend in die Si­cherheits- und Verteidigungspolitik der Union integriert und beendet damit (endgültig) die immerwährende Neutralität und damit einen Grundbaustein seiner Verfassung. Wenn der Schritt überhaupt rechtens ist, bedarf er allemal einer Zustimmung des gesamten Bundesvolkes. So verpflichtet sich Öster­reich durch Art. 28b (43) Abs. 1 EUV auch zu „humanitären Aufgaben und Rettungseinsätzen, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten“. Nach Satz 2 dieser Vorschrift kann mit diesen Missionen „zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ih­rem Hoheitsgebiet“. Die Terrorismusbekämpfung gestaltet sich gegebenenfalls zu Angriffskriegen, wie die gegenwärtige Lage in verschiedenen Teilen der Welt erweist.
Durch Art. 23 f. B-VG hat Österreich die Neutralität bereits weitgehend ein­geschränkt794 und die Beschlüsse des Europäischen Rates zur gemeinsamen Verteidigung der Europäischen Union und zu einer Integration der Westeuro­päischen Union der Beschlußfassung des Nationalrates und des Bundesrates überantwortet. Absatz 4 des Art. 23 f. B-VG ermöglicht sogar die Verpflich­tung Österreichs zur Entsendung von Einheiten oder einzelnen Personen zu friedenserhaltenden Maßnahmen und Kampfeinsätzen bei der Krisenbewälti­gung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen. Die sicherheits- und ver­teidigungspolitischen Verpflichtungen, die der Vertrag von Lissabon einführt, gehen über diese bereits zu Lasten der immerwährenden Neutralität in der Bundesverfassung verankerten militärischen Integration Österreichs in der Si­cherheits- und Verteidigungspolitik deutlich hinaus, insbesondere die Ver­pflichtung zur Aufrüstung und die Verpflichtung, den Terrorismus in aller Welt zu bekämpfen, was Angriffskriege im völkerrechtlichen Sinne ein­schließt:
792 Hingewiesen sei auf die Abhandlung von W. Hummer „Österreich zwischen Neutralität und Integration. Völkerrechtliche, europarechtliche und verfassungsrechtliche Implikationen einer Mitwirkung Österreichs in Systemen sicherheitspolitischer und wirtschaftspolitischer In­tegration“, in: M. Pape (Hrsg.), Österreich – von der Monarchie zum EU-Partner, 2000, S. 221 ff., der die dogmatischen Versuche, das Neutralitätsproblem zu beseitigen oder zu ver­kleinern, darlegt; vgl. auch R. Walter/H. Mayer/G. Kucsko-Stadelmayer, Grundriß des Öster­reichischen Verfassungsrechts, Rdn. 168, S. 94 („Neutralitätsgesetz partiell“ durch Art. 23 B­VG „materiell derogiert“; Österreich „verschiedentlich nicht mehr als neutral“, „sondern als bündnislos bezeichnet“.
793 Vgl. W. Hummer, ebenda, S. 269 f.

794 So auch R. Walter/H. Mayer/G. Kucsko-Stadelmayer, Grundriß des Österreichischen Verfassungsrechts, Rdn. 168, S. 94; H. R. Klecatsky/S. Morscher/B. Ohms, Die österreichi­sche Bundesverfassung, VI, S. 323.

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Die immerwährende Neutralität Österreichs

Von Prof. Dr. Erwin Bader, Wien
Mit dem folgenden sehr lesenswerten Beitrag von Professor Erwin Bader möchten wir unsere Serie zum Thema Neutralität fortsetzen. Professor Bader führt die Bedeutung der immerwährenden Neutralität für Österreich klar vor Augen. Er zeigt, wie wichtig es für dieses Land ist, an dieser aussenpolitischen Maxime festzuhalten. Vorbild und Modell für das österreichische Neutralitätsgesetz von 1955 war die Schweiz, was einmal mehr den zentralen Beitrag der Schweiz zu einem friedlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aufzeigt. Die Schweiz und auch Österreich haben es nicht nötig, nach Brüssel zu wallfahren!
Unser österreichischer Staatsfeiertag ist jener Tag, an welchem der feierlichen Beschlussfassung des Neutralitätsgesetzes durch den Nationalrat gedacht wird. Schon anlässlich der Vorbereitung jenes Beschlusses hatte ja Bundeskanzler Ing. Julius Raab ausdrücklich den freien «Willen» und das «tiefe Verlangen des österreichischen Volkes zur immerwährenden, dauerhaften Neutralität» betont. Am Beschlusstag bestärkte Bundeskanzler Raab dies noch und weist auf die erstmalige bewusste Nationswerdung Österreichs durch den 26. Oktober hin: «Mit dem heutigen Tag wird der Unterschied gegenüber der seelischen Verfassung des österreichischen Volkes im Jahre 1918 voll sichtbar. (É) Das österreichische Selbstbewusstsein hat sich (É) bis zu einem eigenständigen österreichischen Nationalbewusstsein gesteigert.» Dieser «besondere österreichische Beitrag zur europäischen Friedensordnung» sei fernerhin «keine provisorische, widerrufliche Beschränkung unserer Souveränität», sondern «bindet auch unsere Kinder und Kindeskinder.» [Hervorhebungen durch den Autor]
Durch den Nationalfeiertag in Gedenken an den Beschluss des Neutralitätsgesetzes (26. Oktober 1955) wird die spezifische Verbindung der Neutralität mit der Entstehung des österreichischen Nationsbewusstseins gewürdigt. An diesem ersten Tag nach der wiedererlangten politischen Freiheit, nach dem Abzug des letzten Besatzungssoldaten (25. Oktober), wurde die Erklärung der immerwährenden Neutralität als Akt der freien, selbstbewussten Entscheidung über die Zukunft und Zielsetzung unseres Staates feierlich beschlossen.


Symbol der nationalen Identität

Im internationalen Leben weiss man im allgemeinen zu würdigen, wie eine Nation gewisse Symbole mit einer Würde versieht. Wie sonst Wappen und Fahne können auch hervorstechende Leitideen und Staatsziele sowie damit verbundene Gedenktage solche nationalen Symbole werden. Damit hat Österreich wie wohl kein anderer Staat der Welt der Neutralitätsidee eine Weihe und Würde verliehen und sie zu den obersten Grundsätzen des österreichischen Staates und Volkes erhoben. Folglich ist die Neutralität nicht nur ein Staatsziel und Baugesetz der Verfassung wie andere auch, sondern zu einem über andere erhobenen, besonderen Symbol der nationalen Identität aufgerückt. (É)
Die Neutralität ist das verfassungsmässige Ziel der Landesverteidigung, welche primär eine «umfassende», also auch die «geistige» Verteidigung der sogenannten «Staatszielbestimmungen» sein muss: «Österreich bekennt sich zur umfassenden Landesverteidigung. Ihre Aufgabe ist es, die Unabhängigkeit nach aussen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung der immerwährenden Neutralität. Hierbei sind auch die verfassungsmässigen Einrichtungen und ihre Handlungsfähigkeit sowie die demokratischen Freiheiten der Einwohner vor ge-waltsamen Angriffen von aussen zu schützen und zu verteidigen.» Die Pflicht zur Verteidigung der Einrichtungen und Einwohner der Republik wird hier also von der Notwendigkeit der Verteidigung der Unabhängigkeit und Neutralität Österreichs abgeleitet. Darauf wird auch bei der Angelobung der Rekruten hingewiesen. (É)


Primat der Friedensförderung

Das Nationsbewusstsein Österreichs vereinigte sich angesichts der geschichtlichen Erfahrung mit dem Neutralitätsbewusstsein. Denn die Landesverteidigung wurde wegen der Erinnerung an die Kriegsgreuel im Zweiten Weltkrieg, in welchem die Kriegshetze Nazideutschlands mit dem Gedanken der Landesverteidigung beschönigt wurde, mit dem Neutralitätsgedanken verknüpft. «Nie wieder Krieg!» hiess es nach 1945; wenn der Österreicher dennoch seine Heimat verteidigen wird, dann in der Überzeugung, dass die Neutralität keine Kriegshetze mehr ermöglicht, sondern den Frieden fördert!
Vor der Beschlussfassung der Neutralität lagen die Jahre zwischen 1938 bis 1955, in welchen Österreich nicht frei war; in der Ersten Republik aber hatte Österreich einen Staat, den keiner wollte. Wenn die Identität Österreichs nun doch wieder zerstört werden sollte, wäre nicht auszuschliessen, dass wieder eine Art von scheinbarer Geborgenheit in einer grösseren Einheit bei Verzicht auf die für die Demokratie unverzichtbare Bewusstseinslage der Eigenständigkeit des Wollens entsteht.
So gesehen würde das österreichische Volk seine Identität verlieren, wenn es von der Neutralität abrückte; mit der österreichischen Staatsnation wäre auch der Staat Österreich aufgegeben. Eine solche völlige Auflösung der Identität Österreichs könnte wohl nur dann als Fortschritt gewertet werden, wenn die Aussenpolitik jedes anderen Staates eine bessere Friedenspolitik nachweisen könnte als die Neutralitätspolitik Österreichs und Österreich zudem mehr Immunität gegen gefährliche Extremismen und Militarismen bewiesen hätte. Das ist aber nicht der Fall.




Resultat freier Willensbildung

Von neutralitätsgegnerischer Seite wurde seit längerem die Meinung geäussert, dass die überstarke Verankerung der Neutralität Österreichs nicht der realen Bewusstseinslage der Österreicher entsprochen habe, sondern bloss Ergebnis eines aussenpolitischen Zwanges gewesen sei. Tatsache ist, dass die Österreicher in der Hoffnung, durch dieses politische Mittel die Unabhängigkeit zu erlangen, eher zur Neutralitätserklärung bereit gewesen sind. Da Österreich keinen hinreichenden Nachweis einer historisch bewährten Neutralitätspolitik aufweisen konnte, wurde die Neutralitätserklärung durch das Verfassungsgesetz besser plausibel gemacht.
Andererseits ist das Gesetz über die Einführung des Staatsfeiertages im Gedenken an den Beschluss des Neutralitätsgesetzes erst als Ergebnis eines jahrelangen Prozesses der politischen Willensbildung im Jahre 1967 erfolgt. Die Alternativen zu diesem Feiertag, die kurz erwogen worden waren, wie der 15. Mai (Staatsvertrag) oder der 12. November (Gründung der Ersten Republik), kamen nicht zum Zug. Dies zeigt, dass sich die Idee der Neutralität sogar gut für den Staatsfeiertag eignete. Damals bestand kein aussenpolitischer Druck, und Österreichs Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität waren international bereits voll anerkannt. (É)
Nicht nur in Österreich, sondern auch in der Schweiz, dem erklärten Vorbild der österreichischen Neutralität, wurde - vor allem als Folge der internationalen Entstehungskonstellation - die Unauflöslichkeit der österreichischen Neutralitätsverpflichtung angenommen. Bezüglich der Schweiz, deren Neutralität von den seinerzeitigen Grossmächten am Wiener Kongress 1815 ausgehandelt worden war, herrschte die Meinung, dass nur das Volk (was nicht zu erwarten war) eine Abänderung von der immerwährenden Neutralität beschliessen könnte. Aber Österreich habe darüber hinaus von sich aus und in überzeugender Weise freiwillig die Unauflöslichkeit der Neutralität verfassungsmässig verankert, indem ausdrücklich festgeschrieben worden war, dass diese «in aller Zukunft» gelten sollte, folglich auch die zukünftigen Generationen bindet. (É)

Bedeutung der Bündnisfreiheit
Der kalte Krieg selbst war übrigens ein potentieller Neutralitätsfall, der allerdings den immerwährend Neutralen akut betraf. Österreich war aber zu keinem Neutralismus verurteilt, sondern hat sich während des kalten Krieges stets zum Westen bekannt und manchmal wie im Falle der Besetzung der Tschechoslowakei sogar trotz Gefahr stark engagiert. Auch aus diesem Grund ist der Wegfall des kalten Krieges kein akut veränderter Umstand. Schliesslich brachte das Ende der Ost-West-Konflikte, wie wir sehen, keineswegs eine konfliktlose Welt, sondern ging sogar mit einer Eskalation nationaler Konflikte, besonders in Südosteuropa, einher. (É)
Die von der Völkergemeinschaft anerkannte Aufgabe des immerwährend neutralen Staates, der Friedenssicherung zu dienen, kann nur erfüllt werden, wenn Vertrauen in die Aufrichtigkeit bei der Einhaltung der Neutralitätspflichten besteht. Das Vertrauen wird aber durch den Verdacht der mangelnden Vertragstreue untergraben, wodurch langfristig auch die friedenssichernde Selbstschutzfunktion des neutralen Staates gefährdet wird.
Österreichs Zusage zur Aufrechterhaltung der immerwährenden Neutralität gilt laut Verfassung «in aller Zukunft». Österreich kann sich's nach vierzig Jahren nicht anders überlegen. Eine Veränderung dieser internationalen Verpflichtung könnte zwar langfristig wachsen, aber nicht einseitig und schon gar nicht willkürlich erfolgen. Das Vorbild der Schweiz sollte auch hier als Massstab für die Zeiträume dienen: Zunächst ist insofern mindestens ein Jahrhundert glaubwürdige Einhaltung der Verpflichtung geboten. (É)
Von vorderster Bedeutung ist für den immerwährend Neutralen die Bündnisfreiheit, wenigstens sofern militärische Implikationen betroffen sind. Ein immerwährend neutraler Staat selbst hat dafür zu sorgen, dass in Friedenszeiten kein Hindernis dafür entsteht, welches in Kriegszeiten die Einhaltung seiner Neutralitätsverpflichtung beeinträchtigen könnte. Daher versicherte Dr. Kurt Waldheim, der damals noch nicht Bundespräsident war, aber auf seine Erfahrung als Österreichischer Aussenminister und als Uno-Generalsekretär blicken konnte: «Es ist nicht zu erwarten, dass die Vereinten Nationen (É) das neutrale Österreich zur Teilnahme an militärischen Zwangsmassnahmen gemäss Kapitel VII der Charta auffordern werden.» Folglich war die Mitgliedschaft in der Uno mit der Neutralität vereinbar.
Im Jahr 1980 machte Bundesminister a. D. Fritz Bock die Öffentlichkeit aufmerksam: «Nach anerkanntem Völkerrecht kann ein neutraler Staat nicht Mitglied einer internationalen Organisation mit supranationalem Charakter sein. Man geht dabei davon aus, dass eine solche Organisation ihre Mitglieder durch Beschlüsse der supranationalen Behörde zu Massnahmen zwingen kann, die die Einhaltung von Neutralitätsverpflichtungen beeinträchtigen oder gar unmöglich machen könnten. Die allgemeine Völkerrechtsregel lautet, dass ein neutraler Staat überhaupt keine Souveränitätsverzichte, weder in bilateraler noch in supralateraler Form, akzeptieren kann.»
Seit dem EU-Beitritt setzen einige Vorbehalte hinsichtlich der Vertragstreue gegenüber der international bindenden Verpflichtung zur immerwährenden Neutralität ein. Problematisch könnte die Situation aber noch werden, da auf eine militärische Solidarität der EU-Staaten gedrängt wird. Schon die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU (Gasp) ist nicht mehr gut verträglich mit der immerwährenden Neutralität, aber ein Beitritt zur WEU oder zur Nato widerspricht dieser sonnenklar. Denn immerwährende Neutralität bedeutet vor allem strikte Nichtbeteiligung an allen Bündnissen, welche geeignet sind, im Falle eines Krieges Beistandspflichten einzufordern, insbesondere an Militärbündnissen.

Neutralität und Souveränität
Schliesslich noch einige Argumente gegen weitere Einwände: Der neutrale Staat ist nicht weniger souverän als ein sonstiger Staat, der die Verteidigungsbereitschaft und das Leben seiner Rekruten auch für auswärtige Konflikte einzusetzen bereit ist, durch welche er nicht unmittelbar betroffen ist, sobald dies die Beistandspflicht fordert. Jede militärische Beistandsverpflichtung ist so gesehen ein grösserer Einschnitt in die Souveränität des Staates als eine Neutralitätsverpflichtung.
Auch die Befürchtung, ein Staat sei international isoliert, wenn er neutral sei, trifft nicht zu, denn gerade die Geschichte Österreichs hat gezeigt, dass durch die Neutralität die Reputation der österreichischen Aussenpolitik international einen beachtlichen Zuwachs, beispielsweise auch in der Dritten Welt, erhalten hat. Die Aussenpolitik Österreichs wäre schlecht beraten, wenn sie diese internationale Reputation gegen irgendwelche fragwürdigen Vorteile eintauschen wollte.
Es geht, so müssen wir resümieren, um die Treue Österreichs zu ihrer historisch gewachsenen friedliebenden Staatsgesinnung, in welcher sein Volk in Übereinstimmung mit der internationalen Staatenwelt im Jahre 1955 das freie Österreich als einen neutralen Staat schuf und für alle Zukunft feierlich festlegte, dass die unabhängige Republik Österreich die Neutralität mit allen, auch militärischen, Mitteln verteidigen wird; die Nichteinmischung in internationale Konflikte ermöglicht einen besonderen Beitrag zum Frieden und zur Sicherheit, in der Hoffnung, dass das «Beispiel Österreichs» Nachahmung finden werde.
Österreichs immerwährende Neutralität versteht sich als eigenständiger Beitrag zur Friedenssicherung und zur Förderung des internationalen Dialogs sowie als Institution eines möglichst unabhängigen Forums für Verständigung in möglichen Kriegs- oder Konfliktfällen und Spannungen. Diese friedens- und sicherheitsfördernde Aufgabe ist nicht schon nach vierzig Jahren zu ihrem Ziel und Ende gelangt, im Gegenteil, in unserer Zeit scheinen Kriege an Zahl und sogar an Grausamkeit nicht in Schranken gehalten werden zu können. Unsere immerwährende Neutralität hat so lange Bedeutung, als es irgendwo in der Welt, und nicht nur etwa in unmittelbarer Nachbarschaft, Kriege gibt oder auch nur Konflikte, die zu Kriegen ausarten könnten.
Schliesslich ist nicht nur Österreich betroffen, sondern vielleicht sogar der Weltfrieden, wenn mit der österreichischen Neutralität nicht nur ein inzwischen international anerkanntes Symbol für einen friedlichen Weg zur Völkerverständigung abhanden käme, sondern Österreich sogar ein schlechtes Beispiel der einseitigen Lossagung von freiwillig und feierlich eingegangenen internationalen Verpflichtungen böte.
Prof. Dr. Erwin Bader ist erster Vorsitzender des Universitätszentrums für Friedensforschung (UZF) am Institut für Philosophie, Universität Wien
 Artikel 1: Zeit-Fragen Nr. 67 vom 29.05.2000, Seite 1, letzte Änderung am 1.06.2000



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