von Prof. Dr. phil Dr. h.c. Dr. h.c. Hans Köchler*
Ich werde das mir gestellte Thema in vier Abschnitten behandeln. Zunächst (I) möchte ich über Begriff und Geschichte der Souveränität sprechen, sodann (II) mich mit dem beschäftigen, was ich als «integrale Definition» der Souveränität bezeichne, und damit zusammenhängend mit der Frage, ob es eine Möglichkeit gibt, über die Machtpolitik hinauszugehen. Schliesslich (III) werde ich – im Kontext unseres Grundthemas «Souveränität, Recht und Demokratie» – normenlogische Widersprüche und deren Folgen in der Charta der Vereinten Nationen aufzeigen und abschliessend (IV) die Frage «Quid nunc?» (Was jetzt?) stellen, mit welcher eine grundsätzliche Reform des derzeitigen internationalen Systems thematisiert werden soll.
I Begriffliches und Geschichtliches
Der Begriff der Souveränität ist aus meiner Sicht zentral für das Verständnis der Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und die Formulierung der damit zusammenhängenden Problembereiche internationaler Politik. Im internationalen (das heisst zwischenstaatlichen) Kontext wird Souveränität generell in Verbindung mit Gleichheit gedacht. Artikel 2, Absatz 1 der Charta der Vereinten Nationen, der sich auf die Grundsätze bezieht, an denen sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zu orientieren haben, verwendet den Terminus «sovereign equality» (souveräne Gleichheit). Nach meiner Analyse ist Souveränität quasi der Basisbegriff des modernen Völkerrechts, wobei nicht übersehen werden darf, dass damit immer zwischenstaatliches Recht («international law») gemeint ist und nicht so etwas wie ein «Recht der Völker» («peoples’ rights»), was etwas gänzlich anderes wäre. Auch wenn sie im Zuge der Globalisierung immer mehr ausgehöhlt wird, so ist und bleibt Souveränität im Kontext des gegenwärtigen Völkerrechts der zentrale Begriff. Bei einer grundsätzlichen Betrachtung wird zudem klar, dass Souveränität Recht (bzw. Rechtsstaatlichkeit) und Demokratie mit einschliesst. Der zentrale Aspekt ist hierbei derjenige der Volkssouveränität. Souveränität ist nicht irgendeine metaphysische Qualität, die dem Staat zu eigen wäre und auf Grund deren dann der jeweilige Staatsvertreter sozusagen «souverän» agieren könnte. Souveränität ist letztlich, wenn sie überhaupt eine Bedeutung haben soll, nichts anderes als der Ausdruck der unveräusserlichen Würde der menschlichen Person, ein Umstand, der sich sowohl auf den Menschen in seinem Status als Individuum wie auch als Mitglied einer Gemeinschaft bezieht. Volkssouveränität ist nach meiner Interpretation einerseits die Quelle von Demokratie – was mehr oder weniger offenkundig ist und nicht näher erläutert zu werden braucht, vor allem auch hier in diesem Lande [der Schweiz, d. Red.], in welchem das Demokratieverständnis gerade diesen Aspekt akzentuiert. Volkssouveränität ist aber auch Quelle und Fundament des Völkerrechtes, also des internationalen Rechts, im Sinne eines Systems von Regeln der Beziehungen zwischen den Staaten.
Hier scheint mir noch eine Bemerkung zur Verwendungsweise des Terminus «Souveränität» angebracht. Dieser ist als normativer, nicht als deskriptiver Begriff zu verstehen – ein Gesichtspunkt, den schon Hans Kelsen in seinem klassischen Werk über «Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts» (1920) klar hervorgehoben hat. Wenn ich sage, dass Souveränität nicht als deskriptiver, also rein beschreibender Begriff zu denken ist, dann meine ich damit, dass Souveränität nicht im Sinne der aktuellen Machtfülle eines Staates interpretiert werden kann. Würde man sie so, nämlich deskriptiv, verstehen – und nicht normativ, also mit Bezug auf den rechtlichen Status eines Staates im zwischenstaatlichen (internationalen) Kontext –, dann wären eigentlich nur die Grossmächte souverän und alle anderen, die kleinen und mittleren Staaten, nicht. Dies ist allerdings ein häufiges und kaum auszurottendes Missverständnis. Die konkrete Fähigkeit eines Staates, sich zu artikulieren, internationale Macht auszuüben und «souverän» (im Sinne von selbstbestimmt) zu handeln – sein internationales Machtpotential sozusagen –, ist nicht zu verwechseln bzw. gleichzusetzen mit dem Prinzip der Souveränität selbst.
Die Würde des Menschen, welche die Grundlage der Volkssouveränität ist, kann philosophisch auch aus der Konzeption von Immanuel Kant hergeleitet werden, und zwar aus seinem Verständnis des Subjektes im Sinne eines autonomen Willens, der sich selbst ein Gesetz sein kann und niemals zum Objekt der Bestrebungen anderer gemacht werden darf. So wird auch deutlich, dass es zwischen Souveränität und Menschenrechten einen inneren Zusammenhang gibt.
Bei der Begriffsklärung ist die Analyse der konkreten Anwendung des Prinzips ein weiterer wichtiger Schritt. Souveränität wird konkretisiert gemäss dem Prinzip der Gleichheit. Dies schliesst wiederum Gegenseitigkeit (Reziprozität) ein – im Sinne des klassischen Diktums, dass meine Freiheit «begrenzt» wird durch die Freiheit des anderen. Man könnte hier auch, wenn man semantisch präzise vorgehen will, das Verbum «definiert» verwenden. Der lateinische Ausdruck «de-finitio» bedeutet nichts anderes als «etwas abgrenzen». Man kann also sagen: Meine Freiheit wird «definiert» durch die Freiheit des anderen und vice versa. Das heisst, dass es in sich widersprüchlich wäre, wenn jemand für sich Freiheit des Handelns in Anspruch nimmt, diese aber allen anderen abspricht. Dies gilt selbstverständlich auch für den Staat als Kollektiv, als rechtliche Organisationsform von Bürgern. Deshalb ist es auch offensichtlich, dass absolute, das heisst absolut verstandene Souveränität einen Selbstwiderspruch darstellt. (Auch hier kann man wieder etymologisch darauf verweisen, dass «ab-solut» im wörtlichen Sinne «losgelöst» – konkret also losgelöst von allen anderen Staaten – bedeutet.) Unter dieser Voraussetzung würde sich sozusagen einer über alle – ein Staat über alle anderen Mitglieder der Staatengemeinschaft – stellen. Dies wäre allerdings das staatliche Selbstverständnis aus der Ära des Absolutismus. Auch wenn diese Auslegung der Souveränität zweifellos ein historisches Faktum ist, so muss doch betont werden, dass die philosophische Basis des Prinzips die Unvergegenständlichbarkeit des Menschen als Person ist (als Subjekt im Sinne der von Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten, aber auch in der Kritik der praktischen Vernunft ausgearbeiteten Konzeption, oder auch gemäss der personalistischen Philosophie des Professors und nachmaligen Papstes Karol Wojtyla, der diesbezüglich den Terminus der «irreducibility», das heisst der Nichtreduzierbarkeit des Subjekts auf den Status eines blossen Objekts, gebraucht hat).
Damit komme ich – ganz kurz und «en passant» – zur Geschichte der Souveränität, also der Interpretation dieses Prinzips in den unterschiedlichen politischen Konstellationen. Es ist ein Faktum, wie immer man dazu stehen mag, dass die internationalen Beziehungen bis zum heutigen Tag von der Machtpolitik geprägt sind. Bis in die jüngste Gegenwart hinein war dies zumeist eine Politik im Sinne eines absoluten oder, anders formuliert, exklusiven Souveränitätsverständnisses. Dies bedeutet – und das hat auch Kelsen in dem vorhin erwähnten Werk ausgeführt –, dass alle völkerrechtlichen Normen nur im Hinblick bzw. in Hinordnung auf das jeweilige innerstaatliche Rechtssystem gelten. Wenn man das aber so absolut interpretiert, ist man unweigerlich mit dem Problem sich gegenseitig ausschliessender Souveränitätsansprüche konfrontiert. Für die realpolitischen Folgen daraus gibt es in der Theorie der internationalen Beziehungen den treffenden deutschen Terminus «Souveränitätsanarchie». Damit lässt sich der Zustand der zwischenstaatlichen Beziehungen all die Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart treffend charakterisieren. Dieses absolute bzw. exklusive Souveränitätsverständnis, wonach jeder sozusagen allein «Herr» der Normen ist und die Normen anderer Gemeinwesen wie auch internationale Normen nur als geltend anerkannt werden, wenn man diese im eigenen Bereich «nachvollzieht», schliesst natürlich auch das Recht auf Krieg ein. Nach dieser gewissermassen absolutistischen Auffassung hat der Herrscher eines als souverän definierten Staates das Recht, gegen andere Staaten Gewalt anzuwenden. In der völkerrechtlichen Tradition ist der Ausdruck dafür das «ius ad bellum», wörtlich «Recht auf Krieg», das heisst das Recht, einen Krieg zu führen, ohne dafür eine weitere Begründung abzugeben; es bedarf lediglich der Einhaltung gewisser Prozeduren. Nach der traditionellen völkerrechtlichen Auffassung muss ein Krieg zumindest vorher erklärt werden. Im modernen Völkerrecht gibt es zwar kein «ius ad bellum» mehr, aber wenn man nichtsdestotrotz einen Krieg führt, deklariert man ihn zumeist gar nicht als solchen. Dieses «ius ad bellum», dieses Recht auf den Krieg – als Ausfluss oder Ausdruck der Souveränität – ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem, was man als «ius in bello» bezeichnet, wörtlich «das Recht im Krieg». Gemeint sind damit die Rechtsprinzipien, welche die Art der Gewaltanwendung regeln, wenn es denn schon einmal Krieg gibt. Der heute gängige Terminus dafür ist derjenige des «Humanitären Völkerrechts».
In dem Kontext, wie ich ihn hier apostrophiert habe, ist es klar, dass die Dynamik der zwischenstaatlichen Politik ausschliesslich durch den Machtkampf zwischen souveränen Akteuren bestimmt wird. Es gibt keine wie immer geartete Möglichkeit, diesen auf Grund von Prinzipien zu entscheiden. Letztlich zählt das Recht des Stärkeren. Die Differenzen werden sozusagen auf dem Schlachtfeld ausgetragen. Dies ist geschichtliche Realität bis in die Gegenwart. Wenn es um den Machtwettbewerb zwischen souveränen Staaten geht, so haben wir es letztlich mit einer Art moralfreiem Bereich zu tun, wofür es den treffenden deutschen Ausdruck der «Realpolitik» gibt (der übrigens auch zu einem Standardterminus der englischsprachigen Theorie der internationalen Politik geworden ist). «Moralfrei» heisst hier insbesondere, dass die Staaten aus einem Selbstverständnis heraus agieren, welches durch den Spruch charakterisiert wird, dass «Staaten keine Freunde haben, sondern Interessen», wobei klar ist, dass letztere sich laufend ändern können. Das bedeutet, dass – völlig unabhängig von irgendwelchen Prinzipien, ob moralischer oder rechtlicher Art – für einen Staat gilt, dass, wer heute mein grösster Feind ist, morgen oder übermorgen auch mein bester Freund sein kann und umgekehrt. Wenn man die Geschichte der zwischenstaatlichen Beziehungen betrachtet, dann gibt es dafür eine Unzahl von Beispielen. Entscheidend ist hierbei allerdings, dass sich die miteinander konkurrierenden Mächte gegenseitig in Schach halten, dass sich also nach und nach, wenngleich nicht notwendig in friedlicher Art, so etwas wie ein Machtgleichgewicht – «balance of power» – herausbildet. Eine solche Konstellation der Beziehungen zwischen souveränen Staaten kann multipolar – also ein System mit mehr als zwei Akteuren – oder allenfalls, wie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, das heisst in der Ära des Kalten Krieges, bipolar sein. Weiters ist zu bedenken, dass die Gefahren für den Frieden und die Rechte der Völker, die aus dem traditionellen «absolutistischen» Souveränitätsverständnis resultieren, dann besonders gross sind, wenn es kein derartiges Machtgleichgewicht gibt, nämlich in einer Situation der Unipolarität, also in einer Konstellation hegemonialer Ordnung, wenn ein übermächtiger Staat allein im Stande ist, die Richtlinien vorzugeben, und der Unterschied zwischen der Machtfülle, insbesondere dem militärischen Potential, dieses einen Staates und der Machtfülle des zweitstärksten Staates so gross ist, dass letztlich dieser eine allein gewissermassen die Direktiven vorgibt. Das ist auch eine Situation, in der ein Staat in der Regel der Versuchung nicht widerstehen kann, sich selber als unverzichtbare Ordnungsmacht zu sehen und gegenüber der Staatengemeinschaft auch so zu präsentieren. Dies ist uns noch in jüngster Zeit durch die Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika drastisch vor Augen geführt worden, welche ihr Land als «indispensable nation», als «unverzichtbaren Staat», charakterisiert haben. Ein solcher ideologischer Führungsanspruch kann im unipolaren Kontext leicht zu einer Art universalisierter «Breschnew-Doktrin» führen, nämlich zur Einschränkung bzw. Infragestellung der Souveränität kleinerer oder schwächerer Staaten. Wenn man ein derartiges quasi missionarisches Selbstverständnis formuliert, dann bedeutet dies weiters, dass man jede Möglichkeit einer kritischen Analyse des eigenen hegemonialen Status ausschliesst. Dies ist eine für die Logik der Macht geradezu typische Situation, in welcher ein Akteur, der nicht nur effektiv über dem Recht steht, sondern dieses faktische Privileg auch noch als Ausfluss seiner eigenen Souveränität für sich reklamiert, der gesamten Welt seinen Willen aufzuzwingen sucht. Hierbei ist Folgendes zu bedenken: Selbstverständlich kann Hegemonie (eine hegemoniale Struktur) auch Ordnung und Stabilität bedeuten. Dies ist vor allem dann evident, wenn die Machtkonstellation scharf ausgeprägt und der Abstand zwischen der Macht des einen dominierenden Staates und dem Rest der Welt sehr gross ist.
Es ist aber genauso klar, dass Hegemonie, das heisst eine Konstellation extremer Machtfülle, auch die Gefahr von Willkürherrschaft einschliesst und gleichzeitig die Einschränkung der Freiheit aller anderen Akteure der internationalen Beziehungen bedeutet. Es ist weiters eine historisch belegte Tatsache, dass der jeweilige Hegemon diese Realitäten nicht zur Kenntnis nehmen will. Ein derartiges Eingeständnis, das heisst eine Konfrontation mit den sozialen und politischen Folgen ihrer Politik, ist für die hegemonialen Mächte oftmals ein schmerzhafter Prozess. Es ist schliesslich offenkundig, dass Hegemonie auch Widerstand und Aufbegehren bedeutet, also langfristig Instabilität produziert, weil eben irgendwann die anderen Völker bzw. Staaten diese für sie nachteilige Konstellation nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollen.
Wenn man in die Geschichte zurückblickt, dann kann man sagen, dass es, was die machtpolitischen Extreme betrifft, sehr wohl Ansätze zur «Hegung» der Souveränität – oder zumindest Versuche des Aufweises und der Einforderung von ethischen Rahmenbedingungen gegeben hat, unter denen Souveränität ausgeübt werden soll. Ein Beispiel hiefür ist die sogenannte Heilige Allianz, welche im Jahre 1815 – nach dem Ende der Napoleonischen Kriege – von einigen europäischen Mächten proklamiert wurde. In dieser Initiative der «Siegermächte» in der nachnapoleonischen Zeit verpflichteten sich die Herrscher von Russland, Österreich und Preussen (1818 kam auch Frankreich dazu), ihre Politik ausschliesslich an den hehren Prinzipien der christlichen Moral zu orientieren. (Historisch interessant, wenngleich nur ein Detail am Rande ist übrigens, dass sich der Kirchenstaat der Heiligen Allianz niemals angeschlossen hat.)
Weiters könnte man hier Ansätze zur Milderung der Folgen souveräner Machtausübung, das heisst also einer ungezügelten Machtpolitik, in Form von Konventionen des Kriegsvölkerrechts im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erwähnen. Dazu gehören die Genfer Konventionen von 1864 und 1906 (Vorläufer der Genfer Konventionen von 1949, mit welchen, nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, das Humanitäre Völkerrecht umfassend kodifiziert wurde). Man könnte aber auch auf die sogenannte Haager Landkriegsordnung (IV. Haager Konvention) verweisen, die bereits 1907 als Anhang zum Abkommen über die «Gesetze und Gebräuche des Landkrieges» beschlossen worden war und mit welcher die schlimmsten und inhumansten Auswüchse kriegerischer Gewaltanwendung eingedämmt werden sollten.
Bei all diesen völkerrechtlichen Initiativen, so kann man rückblickend sagen, handelte es sich um moralisch durchaus begründete Bemühungen zur, um bei der vorherigen Diktion zu bleiben, rechtlichen Hegung des Krieges. Durch die verbindliche Formulierung von Grundsätzen und das Erlassen von Regelungen, welche die Behandlung von Verwundeten und Kriegsgefangenen, den Schutz der Zivilbevölkerung und ganz allgemein das Ausmass und die Art der Gewaltanwendung zum Gegenstand hatten, erstrebte man gewissermassen eine Minimierung der inhumanen Folgen des Krieges.
Allerdings – und dies ist das rechtstheoretisch und rechtsphilosophisch Entscheidende – bedeutete all dies keine grundsätzliche Infragestellung des souveränen Rechtes zum Krieg, des «ius ad bellum». Es ging immer nur um die Bindung der Ausübung dieses Rechtes an gewisse übergeordnete, sozusagen humanitäre Normen; deshalb auch die Bezeichnung «Humanitäres Völkerrecht» (international humanitarian law) für den Normenkomplex, der traditionell unter «Kriegsvölkerrecht» («ius in bello») firmiert. Ein Paradigmenwechsel, also ein echter Umschwung im Denken hat sich erst im 20. Jahrhundert mit der grundsätzlichen Ächtung der Gewaltanwendung in den zwischenstaatlichen Beziehungen angebahnt. Ich meine hier den sogenannten Briand-Kellogg-Pakt aus dem Jahr 1928, der nach den Aussenministern Frankreichs und der Vereinigten Staaten benannt ist, die diesen Vertrag ausgehandelt hatten. Man muss allerdings hinzufügen, dass die damit eingeleitete Entwicklung durchaus mit Widersprüchen behaftet und auch von Rückschlägen gekennzeichnet war und ist. Auf das gravierendste Problem in diesem Zusammenhang – nämlich einen bis zum heutigen Tage ungelösten normenlogischen Widerspruch in der im Jahre 1945 beschlossenen Charta der Vereinten Nationen – werde ich später eingehen.
Hier scheint mir noch eine Bemerkung zur Verwendungsweise des Terminus «Souveränität» angebracht. Dieser ist als normativer, nicht als deskriptiver Begriff zu verstehen – ein Gesichtspunkt, den schon Hans Kelsen in seinem klassischen Werk über «Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts» (1920) klar hervorgehoben hat. Wenn ich sage, dass Souveränität nicht als deskriptiver, also rein beschreibender Begriff zu denken ist, dann meine ich damit, dass Souveränität nicht im Sinne der aktuellen Machtfülle eines Staates interpretiert werden kann. Würde man sie so, nämlich deskriptiv, verstehen – und nicht normativ, also mit Bezug auf den rechtlichen Status eines Staates im zwischenstaatlichen (internationalen) Kontext –, dann wären eigentlich nur die Grossmächte souverän und alle anderen, die kleinen und mittleren Staaten, nicht. Dies ist allerdings ein häufiges und kaum auszurottendes Missverständnis. Die konkrete Fähigkeit eines Staates, sich zu artikulieren, internationale Macht auszuüben und «souverän» (im Sinne von selbstbestimmt) zu handeln – sein internationales Machtpotential sozusagen –, ist nicht zu verwechseln bzw. gleichzusetzen mit dem Prinzip der Souveränität selbst.
Die Würde des Menschen, welche die Grundlage der Volkssouveränität ist, kann philosophisch auch aus der Konzeption von Immanuel Kant hergeleitet werden, und zwar aus seinem Verständnis des Subjektes im Sinne eines autonomen Willens, der sich selbst ein Gesetz sein kann und niemals zum Objekt der Bestrebungen anderer gemacht werden darf. So wird auch deutlich, dass es zwischen Souveränität und Menschenrechten einen inneren Zusammenhang gibt.
Bei der Begriffsklärung ist die Analyse der konkreten Anwendung des Prinzips ein weiterer wichtiger Schritt. Souveränität wird konkretisiert gemäss dem Prinzip der Gleichheit. Dies schliesst wiederum Gegenseitigkeit (Reziprozität) ein – im Sinne des klassischen Diktums, dass meine Freiheit «begrenzt» wird durch die Freiheit des anderen. Man könnte hier auch, wenn man semantisch präzise vorgehen will, das Verbum «definiert» verwenden. Der lateinische Ausdruck «de-finitio» bedeutet nichts anderes als «etwas abgrenzen». Man kann also sagen: Meine Freiheit wird «definiert» durch die Freiheit des anderen und vice versa. Das heisst, dass es in sich widersprüchlich wäre, wenn jemand für sich Freiheit des Handelns in Anspruch nimmt, diese aber allen anderen abspricht. Dies gilt selbstverständlich auch für den Staat als Kollektiv, als rechtliche Organisationsform von Bürgern. Deshalb ist es auch offensichtlich, dass absolute, das heisst absolut verstandene Souveränität einen Selbstwiderspruch darstellt. (Auch hier kann man wieder etymologisch darauf verweisen, dass «ab-solut» im wörtlichen Sinne «losgelöst» – konkret also losgelöst von allen anderen Staaten – bedeutet.) Unter dieser Voraussetzung würde sich sozusagen einer über alle – ein Staat über alle anderen Mitglieder der Staatengemeinschaft – stellen. Dies wäre allerdings das staatliche Selbstverständnis aus der Ära des Absolutismus. Auch wenn diese Auslegung der Souveränität zweifellos ein historisches Faktum ist, so muss doch betont werden, dass die philosophische Basis des Prinzips die Unvergegenständlichbarkeit des Menschen als Person ist (als Subjekt im Sinne der von Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten, aber auch in der Kritik der praktischen Vernunft ausgearbeiteten Konzeption, oder auch gemäss der personalistischen Philosophie des Professors und nachmaligen Papstes Karol Wojtyla, der diesbezüglich den Terminus der «irreducibility», das heisst der Nichtreduzierbarkeit des Subjekts auf den Status eines blossen Objekts, gebraucht hat).
Damit komme ich – ganz kurz und «en passant» – zur Geschichte der Souveränität, also der Interpretation dieses Prinzips in den unterschiedlichen politischen Konstellationen. Es ist ein Faktum, wie immer man dazu stehen mag, dass die internationalen Beziehungen bis zum heutigen Tag von der Machtpolitik geprägt sind. Bis in die jüngste Gegenwart hinein war dies zumeist eine Politik im Sinne eines absoluten oder, anders formuliert, exklusiven Souveränitätsverständnisses. Dies bedeutet – und das hat auch Kelsen in dem vorhin erwähnten Werk ausgeführt –, dass alle völkerrechtlichen Normen nur im Hinblick bzw. in Hinordnung auf das jeweilige innerstaatliche Rechtssystem gelten. Wenn man das aber so absolut interpretiert, ist man unweigerlich mit dem Problem sich gegenseitig ausschliessender Souveränitätsansprüche konfrontiert. Für die realpolitischen Folgen daraus gibt es in der Theorie der internationalen Beziehungen den treffenden deutschen Terminus «Souveränitätsanarchie». Damit lässt sich der Zustand der zwischenstaatlichen Beziehungen all die Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart treffend charakterisieren. Dieses absolute bzw. exklusive Souveränitätsverständnis, wonach jeder sozusagen allein «Herr» der Normen ist und die Normen anderer Gemeinwesen wie auch internationale Normen nur als geltend anerkannt werden, wenn man diese im eigenen Bereich «nachvollzieht», schliesst natürlich auch das Recht auf Krieg ein. Nach dieser gewissermassen absolutistischen Auffassung hat der Herrscher eines als souverän definierten Staates das Recht, gegen andere Staaten Gewalt anzuwenden. In der völkerrechtlichen Tradition ist der Ausdruck dafür das «ius ad bellum», wörtlich «Recht auf Krieg», das heisst das Recht, einen Krieg zu führen, ohne dafür eine weitere Begründung abzugeben; es bedarf lediglich der Einhaltung gewisser Prozeduren. Nach der traditionellen völkerrechtlichen Auffassung muss ein Krieg zumindest vorher erklärt werden. Im modernen Völkerrecht gibt es zwar kein «ius ad bellum» mehr, aber wenn man nichtsdestotrotz einen Krieg führt, deklariert man ihn zumeist gar nicht als solchen. Dieses «ius ad bellum», dieses Recht auf den Krieg – als Ausfluss oder Ausdruck der Souveränität – ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem, was man als «ius in bello» bezeichnet, wörtlich «das Recht im Krieg». Gemeint sind damit die Rechtsprinzipien, welche die Art der Gewaltanwendung regeln, wenn es denn schon einmal Krieg gibt. Der heute gängige Terminus dafür ist derjenige des «Humanitären Völkerrechts».
In dem Kontext, wie ich ihn hier apostrophiert habe, ist es klar, dass die Dynamik der zwischenstaatlichen Politik ausschliesslich durch den Machtkampf zwischen souveränen Akteuren bestimmt wird. Es gibt keine wie immer geartete Möglichkeit, diesen auf Grund von Prinzipien zu entscheiden. Letztlich zählt das Recht des Stärkeren. Die Differenzen werden sozusagen auf dem Schlachtfeld ausgetragen. Dies ist geschichtliche Realität bis in die Gegenwart. Wenn es um den Machtwettbewerb zwischen souveränen Staaten geht, so haben wir es letztlich mit einer Art moralfreiem Bereich zu tun, wofür es den treffenden deutschen Ausdruck der «Realpolitik» gibt (der übrigens auch zu einem Standardterminus der englischsprachigen Theorie der internationalen Politik geworden ist). «Moralfrei» heisst hier insbesondere, dass die Staaten aus einem Selbstverständnis heraus agieren, welches durch den Spruch charakterisiert wird, dass «Staaten keine Freunde haben, sondern Interessen», wobei klar ist, dass letztere sich laufend ändern können. Das bedeutet, dass – völlig unabhängig von irgendwelchen Prinzipien, ob moralischer oder rechtlicher Art – für einen Staat gilt, dass, wer heute mein grösster Feind ist, morgen oder übermorgen auch mein bester Freund sein kann und umgekehrt. Wenn man die Geschichte der zwischenstaatlichen Beziehungen betrachtet, dann gibt es dafür eine Unzahl von Beispielen. Entscheidend ist hierbei allerdings, dass sich die miteinander konkurrierenden Mächte gegenseitig in Schach halten, dass sich also nach und nach, wenngleich nicht notwendig in friedlicher Art, so etwas wie ein Machtgleichgewicht – «balance of power» – herausbildet. Eine solche Konstellation der Beziehungen zwischen souveränen Staaten kann multipolar – also ein System mit mehr als zwei Akteuren – oder allenfalls, wie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, das heisst in der Ära des Kalten Krieges, bipolar sein. Weiters ist zu bedenken, dass die Gefahren für den Frieden und die Rechte der Völker, die aus dem traditionellen «absolutistischen» Souveränitätsverständnis resultieren, dann besonders gross sind, wenn es kein derartiges Machtgleichgewicht gibt, nämlich in einer Situation der Unipolarität, also in einer Konstellation hegemonialer Ordnung, wenn ein übermächtiger Staat allein im Stande ist, die Richtlinien vorzugeben, und der Unterschied zwischen der Machtfülle, insbesondere dem militärischen Potential, dieses einen Staates und der Machtfülle des zweitstärksten Staates so gross ist, dass letztlich dieser eine allein gewissermassen die Direktiven vorgibt. Das ist auch eine Situation, in der ein Staat in der Regel der Versuchung nicht widerstehen kann, sich selber als unverzichtbare Ordnungsmacht zu sehen und gegenüber der Staatengemeinschaft auch so zu präsentieren. Dies ist uns noch in jüngster Zeit durch die Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika drastisch vor Augen geführt worden, welche ihr Land als «indispensable nation», als «unverzichtbaren Staat», charakterisiert haben. Ein solcher ideologischer Führungsanspruch kann im unipolaren Kontext leicht zu einer Art universalisierter «Breschnew-Doktrin» führen, nämlich zur Einschränkung bzw. Infragestellung der Souveränität kleinerer oder schwächerer Staaten. Wenn man ein derartiges quasi missionarisches Selbstverständnis formuliert, dann bedeutet dies weiters, dass man jede Möglichkeit einer kritischen Analyse des eigenen hegemonialen Status ausschliesst. Dies ist eine für die Logik der Macht geradezu typische Situation, in welcher ein Akteur, der nicht nur effektiv über dem Recht steht, sondern dieses faktische Privileg auch noch als Ausfluss seiner eigenen Souveränität für sich reklamiert, der gesamten Welt seinen Willen aufzuzwingen sucht. Hierbei ist Folgendes zu bedenken: Selbstverständlich kann Hegemonie (eine hegemoniale Struktur) auch Ordnung und Stabilität bedeuten. Dies ist vor allem dann evident, wenn die Machtkonstellation scharf ausgeprägt und der Abstand zwischen der Macht des einen dominierenden Staates und dem Rest der Welt sehr gross ist.
Es ist aber genauso klar, dass Hegemonie, das heisst eine Konstellation extremer Machtfülle, auch die Gefahr von Willkürherrschaft einschliesst und gleichzeitig die Einschränkung der Freiheit aller anderen Akteure der internationalen Beziehungen bedeutet. Es ist weiters eine historisch belegte Tatsache, dass der jeweilige Hegemon diese Realitäten nicht zur Kenntnis nehmen will. Ein derartiges Eingeständnis, das heisst eine Konfrontation mit den sozialen und politischen Folgen ihrer Politik, ist für die hegemonialen Mächte oftmals ein schmerzhafter Prozess. Es ist schliesslich offenkundig, dass Hegemonie auch Widerstand und Aufbegehren bedeutet, also langfristig Instabilität produziert, weil eben irgendwann die anderen Völker bzw. Staaten diese für sie nachteilige Konstellation nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollen.
Wenn man in die Geschichte zurückblickt, dann kann man sagen, dass es, was die machtpolitischen Extreme betrifft, sehr wohl Ansätze zur «Hegung» der Souveränität – oder zumindest Versuche des Aufweises und der Einforderung von ethischen Rahmenbedingungen gegeben hat, unter denen Souveränität ausgeübt werden soll. Ein Beispiel hiefür ist die sogenannte Heilige Allianz, welche im Jahre 1815 – nach dem Ende der Napoleonischen Kriege – von einigen europäischen Mächten proklamiert wurde. In dieser Initiative der «Siegermächte» in der nachnapoleonischen Zeit verpflichteten sich die Herrscher von Russland, Österreich und Preussen (1818 kam auch Frankreich dazu), ihre Politik ausschliesslich an den hehren Prinzipien der christlichen Moral zu orientieren. (Historisch interessant, wenngleich nur ein Detail am Rande ist übrigens, dass sich der Kirchenstaat der Heiligen Allianz niemals angeschlossen hat.)
Weiters könnte man hier Ansätze zur Milderung der Folgen souveräner Machtausübung, das heisst also einer ungezügelten Machtpolitik, in Form von Konventionen des Kriegsvölkerrechts im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erwähnen. Dazu gehören die Genfer Konventionen von 1864 und 1906 (Vorläufer der Genfer Konventionen von 1949, mit welchen, nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, das Humanitäre Völkerrecht umfassend kodifiziert wurde). Man könnte aber auch auf die sogenannte Haager Landkriegsordnung (IV. Haager Konvention) verweisen, die bereits 1907 als Anhang zum Abkommen über die «Gesetze und Gebräuche des Landkrieges» beschlossen worden war und mit welcher die schlimmsten und inhumansten Auswüchse kriegerischer Gewaltanwendung eingedämmt werden sollten.
Bei all diesen völkerrechtlichen Initiativen, so kann man rückblickend sagen, handelte es sich um moralisch durchaus begründete Bemühungen zur, um bei der vorherigen Diktion zu bleiben, rechtlichen Hegung des Krieges. Durch die verbindliche Formulierung von Grundsätzen und das Erlassen von Regelungen, welche die Behandlung von Verwundeten und Kriegsgefangenen, den Schutz der Zivilbevölkerung und ganz allgemein das Ausmass und die Art der Gewaltanwendung zum Gegenstand hatten, erstrebte man gewissermassen eine Minimierung der inhumanen Folgen des Krieges.
Allerdings – und dies ist das rechtstheoretisch und rechtsphilosophisch Entscheidende – bedeutete all dies keine grundsätzliche Infragestellung des souveränen Rechtes zum Krieg, des «ius ad bellum». Es ging immer nur um die Bindung der Ausübung dieses Rechtes an gewisse übergeordnete, sozusagen humanitäre Normen; deshalb auch die Bezeichnung «Humanitäres Völkerrecht» (international humanitarian law) für den Normenkomplex, der traditionell unter «Kriegsvölkerrecht» («ius in bello») firmiert. Ein Paradigmenwechsel, also ein echter Umschwung im Denken hat sich erst im 20. Jahrhundert mit der grundsätzlichen Ächtung der Gewaltanwendung in den zwischenstaatlichen Beziehungen angebahnt. Ich meine hier den sogenannten Briand-Kellogg-Pakt aus dem Jahr 1928, der nach den Aussenministern Frankreichs und der Vereinigten Staaten benannt ist, die diesen Vertrag ausgehandelt hatten. Man muss allerdings hinzufügen, dass die damit eingeleitete Entwicklung durchaus mit Widersprüchen behaftet und auch von Rückschlägen gekennzeichnet war und ist. Auf das gravierendste Problem in diesem Zusammenhang – nämlich einen bis zum heutigen Tage ungelösten normenlogischen Widerspruch in der im Jahre 1945 beschlossenen Charta der Vereinten Nationen – werde ich später eingehen.
II Die integrale Definition der Souveränität (Über die Machtpolitik hinaus?)
Damit komme ich zum zweiten Teil meiner Überlegungen, nämlich zur Frage, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, über Machtpolitik im Sinne eines absoluten Souveränitätsverständnisses hinaus zu gelangen, das heisst, ob man sich ein internationales System vorstellen kann, in dem die Staaten jenseits der Machtpolitik agieren.
Entscheidend dafür, was ich als Transformation des Souveränitätsverständnisses in Richtung eines grundlegenden Prinzips einer internationalen Friedensordnung, die gerecht und demokratisch ist, bezeichnen möchte, ist, wie schon eingangs erläutert, die Definition von Souveränität im Sinne von Volkssouveränität, und nicht im Sinne irgendeiner abstrakten Eigenschaft eines sich metaphysisch oder von Gott her legitimierenden Staates, das heisst ohne irgendwelche Mystifikationen.
Ein Umdenken hat diesbezüglich bereits im Zuge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts – auch auf Rousseaus «Contrat social» von 1762 wäre hier zu verweisen – eingesetzt. Es hat sich ein Abschied vom Gottesgnadentum des absoluten Herrschers abgezeichnet und nach und nach eine Position durchgesetzt, wonach das Gemeinwesen nicht aus Untertanen, sondern aus Bürgern besteht, das heisst aus freien und autonomen Subjekten, die souveräne Akteure im jeweiligen Gemeinwesen sind und selbst entscheiden, wie der Staat beschaffen («konstituiert») sein soll und wer die Repräsentanten des Staates sein sollen. Dies ist in der Folge auch die Basis des Souveränitätsverständnisses in internationaler Hinsicht.
Man könnte also sagen, dass die Souveränität eines Staates sowohl nach innen wie nach aussen abgeleitet ist aus dem souveränen Status des Subjektes. Das Gemeinwesen hat ausschliesslich der Verwirklichung der Rechte seiner Bürger auf der Basis der Gegenseitigkeit zu dienen. Der Staat hat keinen Selbstzweckcharakter. Die Doktrin des Etatismus hat hier überhaupt keinen Platz. Der Repräsentant des Gemeinwesens bezieht seine Legitimation allein aus der Souveränität des Volkes und nicht aus irgendeiner Erbfolge oder auf Grund einer wie auch immer gearteten «metaphysischen» Proklamation. In einem solchen System ist der Repräsentant nicht Herr, sondern Diener (was übrigens auch die Bedeutung des lateinischen Wortes «Minister» ist).
Was sind nun die politisch-rechtlichen Implikationen dieser Konzeption? Sie bedeutet, erstens, dass auf innerstaatlicher Ebene eine demokratische Organisationsform des Gemeinwesens notwendig ist. Im Idealfall wäre dies eine «direkte Demokratie» (was streng genommen ein Pleonasmus ist, da der griechische Terminus Herrschaft des Volkes und nicht Herrschaft über das Volk oder im Namen des Volkes bedeutet, was umgekehrt heisst, dass «indirekte» Demokratie eigentlich einen Selbstwiderspruch darstellt).
Zweitens erfordert diese Konzeption auf zwischenstaatlicher (internationaler) Ebene ein System, das der rechtlichen (nicht zu verwechseln mit der faktischen) Gleichheit aller Menschen als Bürger durch Anerkennung und Umsetzung des Prinzips der «souveränen Gleichheit der Staaten» (gemäss Artikel 2 [1] der Uno-Charta) Rechnung trägt. Die rechtliche Gleichheit der Staaten resultiert nämlich aus der rechtlichen Gleichheit aller Menschen. Wichtig ist dabei, dass man die normative (rechtliche) von der faktischen Ebene klar unterscheidet. Tatsächlich gibt es grosse Unterschiede zwischen den Staaten, was Grösse der Einwohnerzahl, Reichtum, Macht, militärische Stärke usw. betrifft. Diese faktischen Unterschiede ändern jedoch nichts an der Gleichheit im rechtlichen (mit Bezug auf das Individuum: menschenrechtlichen) Sinne.
Auch wenn dies von der Idee her schön und gut klingt, so liegt darin doch auch das entscheidende Problem, wenn es um Recht und Demokratie in der gegenwärtigen Weltordnung geht: Die Anerkennung der Souveränität der Staaten im Sinne rechtlicher Gleichheit impliziert zwar die Akzeptanz allgemeiner – und das heisst für alle geltender – Regeln des Zusammenlebens und demgemäss auch einen demokratischen Prozess der Entscheidungsfindung in den internationalen Angelegenheiten im Sinne von «one state, one vote» («ein Staat, eine Stimme»). Die Realität sieht jedoch anders aus: In den entscheidenden Fragen der Anwendung von Gewalt zwischen den Staaten dominiert – so wie in früheren Jahrhunderten – auch weiterhin die Machtpolitik. Die internationalen Verträge, welche den Verkehr zwischen den Staaten regeln, und die Statuten der durch diese geschaffenen Organisationen sind oftmals lückenhaft und widersprüchlich – und Organisationen wie die Uno sind dadurch ineffizient –, wenn es um die Beachtung der souveränen Gleichheit der Staaten und die dieser allein entsprechende Organisationsform der Demokratie im zwischenstaatlichen Bereich, das heisst bei der Entscheidungsfindung in internationalen Angelegenheiten, geht.
Wir dürfen uns über den Status quo am Beginn des 21. Jahrhunderts keine Illusionen machen. Es existiert weiterhin eine durch unilaterale Gewaltanwendung charakterisierte prekäre, also instabile Ordnung, die sich offiziell zwar an der hehren Idee von Freiheit und Gleichheit der Bürger wie auch der sie repräsentierenden Staaten orientiert – so steht es auch in der Präambel der Uno-Charta –, tatsächlich aber das Resultat eines rechtlich kaum gezügelten Machtwettbewerbs zwischen den Staaten ist. Konkret sind es einige wenige Staaten, auf die es dabei ankommt. Seit dem Ende des bipolaren Machtgleichgewichtes zwischen Ost und West in der Periode des Kalten Krieges, also seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, ist, so scheint mir, die Situation noch wesentlich gravierender, da die in der Uno-Charta vorgesehenen checks und balances, das heisst die Kontrollmechanismen für die internationale Entscheidungsfindung – die ohnedies nur zwischen wenigen privilegierten Staaten gelten –, weitgehend ausser Kraft gesetzt sind.
Entscheidend dafür, was ich als Transformation des Souveränitätsverständnisses in Richtung eines grundlegenden Prinzips einer internationalen Friedensordnung, die gerecht und demokratisch ist, bezeichnen möchte, ist, wie schon eingangs erläutert, die Definition von Souveränität im Sinne von Volkssouveränität, und nicht im Sinne irgendeiner abstrakten Eigenschaft eines sich metaphysisch oder von Gott her legitimierenden Staates, das heisst ohne irgendwelche Mystifikationen.
Ein Umdenken hat diesbezüglich bereits im Zuge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts – auch auf Rousseaus «Contrat social» von 1762 wäre hier zu verweisen – eingesetzt. Es hat sich ein Abschied vom Gottesgnadentum des absoluten Herrschers abgezeichnet und nach und nach eine Position durchgesetzt, wonach das Gemeinwesen nicht aus Untertanen, sondern aus Bürgern besteht, das heisst aus freien und autonomen Subjekten, die souveräne Akteure im jeweiligen Gemeinwesen sind und selbst entscheiden, wie der Staat beschaffen («konstituiert») sein soll und wer die Repräsentanten des Staates sein sollen. Dies ist in der Folge auch die Basis des Souveränitätsverständnisses in internationaler Hinsicht.
Man könnte also sagen, dass die Souveränität eines Staates sowohl nach innen wie nach aussen abgeleitet ist aus dem souveränen Status des Subjektes. Das Gemeinwesen hat ausschliesslich der Verwirklichung der Rechte seiner Bürger auf der Basis der Gegenseitigkeit zu dienen. Der Staat hat keinen Selbstzweckcharakter. Die Doktrin des Etatismus hat hier überhaupt keinen Platz. Der Repräsentant des Gemeinwesens bezieht seine Legitimation allein aus der Souveränität des Volkes und nicht aus irgendeiner Erbfolge oder auf Grund einer wie auch immer gearteten «metaphysischen» Proklamation. In einem solchen System ist der Repräsentant nicht Herr, sondern Diener (was übrigens auch die Bedeutung des lateinischen Wortes «Minister» ist).
Was sind nun die politisch-rechtlichen Implikationen dieser Konzeption? Sie bedeutet, erstens, dass auf innerstaatlicher Ebene eine demokratische Organisationsform des Gemeinwesens notwendig ist. Im Idealfall wäre dies eine «direkte Demokratie» (was streng genommen ein Pleonasmus ist, da der griechische Terminus Herrschaft des Volkes und nicht Herrschaft über das Volk oder im Namen des Volkes bedeutet, was umgekehrt heisst, dass «indirekte» Demokratie eigentlich einen Selbstwiderspruch darstellt).
Zweitens erfordert diese Konzeption auf zwischenstaatlicher (internationaler) Ebene ein System, das der rechtlichen (nicht zu verwechseln mit der faktischen) Gleichheit aller Menschen als Bürger durch Anerkennung und Umsetzung des Prinzips der «souveränen Gleichheit der Staaten» (gemäss Artikel 2 [1] der Uno-Charta) Rechnung trägt. Die rechtliche Gleichheit der Staaten resultiert nämlich aus der rechtlichen Gleichheit aller Menschen. Wichtig ist dabei, dass man die normative (rechtliche) von der faktischen Ebene klar unterscheidet. Tatsächlich gibt es grosse Unterschiede zwischen den Staaten, was Grösse der Einwohnerzahl, Reichtum, Macht, militärische Stärke usw. betrifft. Diese faktischen Unterschiede ändern jedoch nichts an der Gleichheit im rechtlichen (mit Bezug auf das Individuum: menschenrechtlichen) Sinne.
Auch wenn dies von der Idee her schön und gut klingt, so liegt darin doch auch das entscheidende Problem, wenn es um Recht und Demokratie in der gegenwärtigen Weltordnung geht: Die Anerkennung der Souveränität der Staaten im Sinne rechtlicher Gleichheit impliziert zwar die Akzeptanz allgemeiner – und das heisst für alle geltender – Regeln des Zusammenlebens und demgemäss auch einen demokratischen Prozess der Entscheidungsfindung in den internationalen Angelegenheiten im Sinne von «one state, one vote» («ein Staat, eine Stimme»). Die Realität sieht jedoch anders aus: In den entscheidenden Fragen der Anwendung von Gewalt zwischen den Staaten dominiert – so wie in früheren Jahrhunderten – auch weiterhin die Machtpolitik. Die internationalen Verträge, welche den Verkehr zwischen den Staaten regeln, und die Statuten der durch diese geschaffenen Organisationen sind oftmals lückenhaft und widersprüchlich – und Organisationen wie die Uno sind dadurch ineffizient –, wenn es um die Beachtung der souveränen Gleichheit der Staaten und die dieser allein entsprechende Organisationsform der Demokratie im zwischenstaatlichen Bereich, das heisst bei der Entscheidungsfindung in internationalen Angelegenheiten, geht.
Wir dürfen uns über den Status quo am Beginn des 21. Jahrhunderts keine Illusionen machen. Es existiert weiterhin eine durch unilaterale Gewaltanwendung charakterisierte prekäre, also instabile Ordnung, die sich offiziell zwar an der hehren Idee von Freiheit und Gleichheit der Bürger wie auch der sie repräsentierenden Staaten orientiert – so steht es auch in der Präambel der Uno-Charta –, tatsächlich aber das Resultat eines rechtlich kaum gezügelten Machtwettbewerbs zwischen den Staaten ist. Konkret sind es einige wenige Staaten, auf die es dabei ankommt. Seit dem Ende des bipolaren Machtgleichgewichtes zwischen Ost und West in der Periode des Kalten Krieges, also seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, ist, so scheint mir, die Situation noch wesentlich gravierender, da die in der Uno-Charta vorgesehenen checks und balances, das heisst die Kontrollmechanismen für die internationale Entscheidungsfindung – die ohnedies nur zwischen wenigen privilegierten Staaten gelten –, weitgehend ausser Kraft gesetzt sind.
III Normenlogische Widersprüche und ihre weltpolitischen Folgen
Dies bringt mich zum dritten Abschnitt meiner Überlegungen, in dem ich mich zunächst (A) mit den Implikationen für die Doktrin der internationalen Beziehungen und sodann (B) mit den Auswirkungen auf die Weltpolitik beschäftige. Einen exemplarischen Hinweis, was die Wichtigkeit und Aktualität der Fragestellung betrifft, geben übrigens auch die jüngsten Enthüllungen um die keinerlei rechtliche Schranken – weder national noch international – akzeptierende globale Spionagetätigkeit der National Security Agency der Vereinigten Staaten.
(A) Zunächst widme ich mich der Doktrin der internationalen Beziehungen, von der allein her man die realpolitischen Fakten adäquat interpretieren kann. Tatsächlich ist die Doktrin den Machtinteressen untergeordnet – und dies trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Gralshüter der internationalen Rechtsstaatlichkeit (und ich meine hier insbesondere die Staaten, die sich heutzutage gerne als die «internationale Gemeinschaft» präsentieren, nämlich die USA und ihre Verbündeten).
Das beste und eindringlichste Beispiel scheint mir die Charta der Vereinten Nationen zu sein. Immerhin ist dies die erste wirklich universale Organisation der Staaten – es gab ja schon einmal den Völkerbund in der Kolonialzeit –, die einen dauerhaften Frieden zwischen allen Ländern auf der Grundlage von Freiheit und Gerechtigkeit für alle Völker anstrebt – wenn man sich an der Satzung orientiert.
Gleichzeitig aber ist festzuhalten, dass dieses Statut in der Ausformulierung der diesbezüglichen Prinzipien, Normen und Prozeduren sogar noch hinter das mit der Satzung des – nach dem Ersten Weltkrieg realpolititisch gescheiterten – Völkerbundes Erreichte zurückfällt. Was meine ich damit? In der Satzung des Völkerbundes, die als Teil des Vertrages von Versailles noch ein Jahrzehnt vor dem Briand-Kellogg-Pakt beschlossen wurde, gab es zwar keine grundsätzliche Ächtung des Krieges, aber immerhin ein Einstimmigkeitserfordernis, wenn es um die zentralen Fragen von Krieg und Frieden ging. In diesem Sinn galt also das Prinzip der Gleichheit zwischen den dem Rat des Völkerbundes angehörenden Staaten. Das ist ein gravierender Unterschied zur Charta der Vereinten Nationen. In dieser gilt zwar ein grundsätzliches Gewaltverbot, einschliesslich eines Verbotes der Androhung von Gewalt (Artikel 2, Absatz 4). Das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, das in der Charta ebenfalls festgeschrieben ist (Artikel 2, Absatz 1), gilt jedoch in der Uno nur mit Einschränkungen – und somit gar nicht. (Wenn man für einen generellen Begriff wie denjenigen der souveränen Gleichheit Einschränkungen vorsieht, dann ergibt dieses Prinzip als solches keinen Sinn mehr.)
Diese normenlogische Widersprüchlichkeit – oder Inkonsistenz – bedeutet gleichzeitig eine Aushöhlung des völkerrechtlichen Gewaltverbotes und, in letzter Konsequenz, eine Restauration des «ius ad bellum», also des Rechtes auf Krieg, das die Wohlmeinenden als längst überwundenes Relikt aus der Zeit der Souveränitätsanarchie zwischen den europäischen Nationalstaaten ansehen wollten. Was ist mit dieser Feststellung konkret gemeint, und warum ist dieser statutarische Widerspruch so gravierend? Dies möchte ich kurz in drei Punkten erläutern.
(A) Zunächst widme ich mich der Doktrin der internationalen Beziehungen, von der allein her man die realpolitischen Fakten adäquat interpretieren kann. Tatsächlich ist die Doktrin den Machtinteressen untergeordnet – und dies trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Gralshüter der internationalen Rechtsstaatlichkeit (und ich meine hier insbesondere die Staaten, die sich heutzutage gerne als die «internationale Gemeinschaft» präsentieren, nämlich die USA und ihre Verbündeten).
Das beste und eindringlichste Beispiel scheint mir die Charta der Vereinten Nationen zu sein. Immerhin ist dies die erste wirklich universale Organisation der Staaten – es gab ja schon einmal den Völkerbund in der Kolonialzeit –, die einen dauerhaften Frieden zwischen allen Ländern auf der Grundlage von Freiheit und Gerechtigkeit für alle Völker anstrebt – wenn man sich an der Satzung orientiert.
Gleichzeitig aber ist festzuhalten, dass dieses Statut in der Ausformulierung der diesbezüglichen Prinzipien, Normen und Prozeduren sogar noch hinter das mit der Satzung des – nach dem Ersten Weltkrieg realpolititisch gescheiterten – Völkerbundes Erreichte zurückfällt. Was meine ich damit? In der Satzung des Völkerbundes, die als Teil des Vertrages von Versailles noch ein Jahrzehnt vor dem Briand-Kellogg-Pakt beschlossen wurde, gab es zwar keine grundsätzliche Ächtung des Krieges, aber immerhin ein Einstimmigkeitserfordernis, wenn es um die zentralen Fragen von Krieg und Frieden ging. In diesem Sinn galt also das Prinzip der Gleichheit zwischen den dem Rat des Völkerbundes angehörenden Staaten. Das ist ein gravierender Unterschied zur Charta der Vereinten Nationen. In dieser gilt zwar ein grundsätzliches Gewaltverbot, einschliesslich eines Verbotes der Androhung von Gewalt (Artikel 2, Absatz 4). Das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten, das in der Charta ebenfalls festgeschrieben ist (Artikel 2, Absatz 1), gilt jedoch in der Uno nur mit Einschränkungen – und somit gar nicht. (Wenn man für einen generellen Begriff wie denjenigen der souveränen Gleichheit Einschränkungen vorsieht, dann ergibt dieses Prinzip als solches keinen Sinn mehr.)
Diese normenlogische Widersprüchlichkeit – oder Inkonsistenz – bedeutet gleichzeitig eine Aushöhlung des völkerrechtlichen Gewaltverbotes und, in letzter Konsequenz, eine Restauration des «ius ad bellum», also des Rechtes auf Krieg, das die Wohlmeinenden als längst überwundenes Relikt aus der Zeit der Souveränitätsanarchie zwischen den europäischen Nationalstaaten ansehen wollten. Was ist mit dieser Feststellung konkret gemeint, und warum ist dieser statutarische Widerspruch so gravierend? Dies möchte ich kurz in drei Punkten erläutern.
- Artikel 2, Absatz 4 der Uno-Charta verbietet die Anwendung und Androhung von Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs gemäss Artikel 51 der Charta ist sozusagen die logische Ausnahme vom generellen Gewaltverbot. Allerdings ist zu bedenken, dass der Ausdruck «kollektive Selbstverteidigung» nicht wirklich präzise ist und, wie man auch in der jüngeren Geschichte der Vereinten Nationen gesehen hat, eine durchaus nicht unproblematische Hintertür zu Koalitionskriegen nach alter (machtpolitischer) Façon öffnen kann. Ich meine hier insbesondere das Problem der Willkür in der Interpretation des Rechtes, das heisst, was das tatsächliche Ausmass der «erlaubten» Gewaltanwendung betrifft, das vor allem in dem Quasi-Koalitionskrieg gegen den Irak im Jahre 1991 deutlich wurde. Weiters darf nicht übersehen werden, dass das Recht auf Selbstverteidigung (ob individuell oder kollektiv), sozusagen als Ausnahme vom Gewaltverbot, nur so lange gilt und in Anspruch genommen werden kann, als der Sicherheitsrat keine entsprechenden Massnahmen gemäss Kapitel VII ergriffen hat.
- Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, in welchem die Zuständigkeit des Sicherheitsrates zur Durchsetzung des Gewaltverbotes geregelt ist, autorisiert diesen zur Anwendung von Zwangsmassnahmen unter Einschluss von Waffengewalt, wenn ein Mitgliedstaat den Frieden gefährdet oder gebrochen hat. Allerdings muss der Sicherheitsrat gemäss Artikel 39 in so einem Fall zunächst explizit eine Feststellung darüber treffen, dass eine Verletzung oder Gefährdung des Friedens oder ein Akt der Aggression vorliegt. Wenn es aber in der Folge zu derartigen Zwangsbeschlüssen gekommen ist, dann sind diese – das liegt in der Natur der Sache – für alle Staaten und für alle Uno-Gremien bindend. Sogar, und das ist aus meiner Sicht höchst problematisch, der Internationale Gerichtshof, der zum System der Vereinten Nationen gehört, kann Zwangsbeschlüsse des Sicherheitsrates nach Kapitel VII nicht auf ihre Rechtmässigkeit überprüfen. Somit trifft sehr wohl die Einschätzung des seinerzeitigen amerikanischen Aussenministers John Foster Dulles aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu, der einmal sagte, dass der Sicherheitsrat «a law unto itself» sei, was bedeutet, dass er faktisch über dem Gesetz (dem Völkerrecht) steht. Der Sicherheitsrat kann auf Grund der statutarischen Gegebenheiten tatsächlich wie ein souveräner Staat in der Ära des Absolutismus agieren, wobei allerdings zu fragen wäre, ob dies im 21. Jahrhundert nicht eigentlich ein Anachronismus ist. Auch was die vorhin schon erwähnte Zuständigkeit gemäss Artikel 39 zur Feststellung einer Gefährdung oder Verletzung des Friedens in einer konkreten Situation betrifft, gibt es effektiv keine Instanz, welche eine derartige Beurteilung auf ihre Richtigkeit und Angemessenheit überprüfen könnte. Der Sicherheitsrat kann gewissermassen dogmatisch alles und jedes, egal wie die Umstände konkret sein mögen, als Tatsache gemäss Artikel 39 statuieren und sodann Zwangsmassnahmen beschliessen – ob in Form von spezifischen oder generellen Wirtschaftssanktionen oder der Anwendung von Waffengewalt. Der Ermessensspielraum ist faktisch unbegrenzt. Es gibt keine wie immer geartete rechtliche Möglichkeit, derartige Feststellungen von aussen zu überprüfen. Dies zeigte sich besonders drastisch auch darin, dass die Errichtung von internationalen Strafgerichtshöfen (Jugoslawien, Ruanda) in Form von Zwangsmassnahmen nach Kapitel VII erfolgte, wobei in der Vergangenheit begangene Verbrechen als Gefährdung des Friedens nach Artikel 39 interpretiert worden waren.
- Ein ganz entscheidendes Problem, was den völkerrechtlichen Status und die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen schlechthin betrifft, ergibt sich aus den Beschlussfassungsregeln von Artikel 27, Absatz 3 der Uno-Charta. Dieser Artikel gibt den fünf ständigen Mitgliedsländern, also den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, das Recht, jeden Beschluss über Zwangsmassnahmen (bis hin zur Anwendung von Waffengewalt) zu beeinspruchen und somit zu verhindern, und zwar ohne Angabe von Gründen. Dieser selbe Artikel legt weiter fest, dass bei allen derartigen Beschlüssen die (eigentlich selbstverständliche) Verpflichtung zur Stimmenthaltung für ein Land, das selbst in einen Konflikt involviert ist, nicht gilt. Für die nicht zwingenden Beschlüsse des Sicherheitsrates nach Kapitel VI («Friedliche Beilegung von Streitigkeiten») gilt diese Verpflichtung jedoch sehr wohl. Wir haben es hier also mit einer statutarischen Monstrosität zu tun, nach welcher bei Beschlüssen, die letztlich nur den Charakter von Empfehlungen haben, ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, wenn es selber Konfliktpartei ist, sich der Stimme enthalten muss, aber bei verbindlichen Entscheidungen, wenn es um die Durchsetzung des Gewaltverbotes geht, eine solche Verpflichtung für einen an einem Konflikt beteiligten Staat nicht gilt. Dies bedeutet: Ein Staat, der den Status eines ständigen Mitgliedes hat, kann einen anderen Staat angreifen, einen Aggressionskrieg führen und gleichzeitig im Sicherheitsrat verhindern, dass es zu Zwangsmassnahmen gegen ihn selbst kommt. Hier wird uns drastisch wie kaum sonstwo die Logik der Machtpolitik vor Augen geführt. Ein anderer US-Aussenminister der Weltkriegsära, Cordell Hull, der bei der Ausarbeitung der Uno-Charta eine entscheidende Rolle gespielt hatte, hat in seinen Memoiren (konkret sich auf das eigene Land beziehend) in durchaus entwaffnender Offenheit enthüllt, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs niemals bereit gewesen wären, ein Gremium einzurichten, das so weitreichende Befugnisse besitzt wie der Sicherheitsrat, wenn sie nicht selbst von diesen Zwangsmassnahmen ausgenommen gewesen wären. («… our government would not remain there a day without retaining the veto power».) Der langen Rede kurzer Sinn (in der Logik der Grossmächte): «Quod licet Jovi, non licet bovi.» [Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt.]
(B) Damit kommen wir zu den realpolitischen Fakten, die aus diesen doktrinären Gegebenheiten folgen. Wie vorhin erläutert, kann jedes der fünf ständigen Mitglieder, sollte es Waffengewalt gegen einen anderen Staat anwenden, das Gebiet eines anderen Staats besetzen usw., Zwangsmassnahmen des Sicherheitsrates gegen sich selbst verhindern, das heisst also ungestraft und quasi unbesorgt Machtpolitik jenseits des Völkerrechts betreiben. Eines der drastischsten Beispiele in jüngerer Geschichte ist sicherlich die Invasion im Irak durch die Vereinigten Staaten im Jahre 2003.
Ein weiteres machtpolitisches Faktum zeigt sich am Statut («Römer Statut») des Internationalen Strafgerichtshofes (nicht zu verwechseln mit dem «Internationalen Gerichtshof» der Vereinten Nationen). Gemäss Artikel 13(b) kann der Sicherheitsrat eine «Situation», in welcher ein Land einen Aggressionskrieg führt bzw. dessen Vertreter Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, dem Strafgerichtshof zuweisen. Auf Grund dieser Bestimmung wäre das Gericht grundsätzlich für die Ahndung internationaler Verbrechen in jedem Staat der Welt zuständig, unabhängig davon, ob ein Land dem Strafgerichtshof beigetreten ist oder nicht. Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Sicherheitsrat dem Gericht eine «Situation» gemäss Zwangsresolution (also nach Kapitel VII) zuweist. Diese Bestimmung über das Recht auf Zuweisung von Fällen an den Internationalen Strafgerichtshof gemäss Zwangsresolution bedeutet gleichzeitig auch – und dies ist eine kaum zu überbietende Ironie der Machtpolitik! –, dass Politiker und Militärs eines Landes, das ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, aber dem Strafgerichtshof nicht beigetreten ist (und dies gilt für 3 von 5 ständigen Mitgliedern), sich vollkommener Straflosigkeit auf internationaler Ebene erfreuen, weil dieses Land eine Zuweisung durch sein Veto jederzeit verhindern kann. Tatsächlich gehören die militärisch mächtigsten Mitgliedsländer des Sicherheitsrates – die Vereinigten Staaten, Russland und China – dem Internationalen Strafgerichtshof nicht an. Das bedeutet konkret, dass zum Beispiel kein amerikanischer Politiker oder Militär jemals für allfällige Kriegsverbrechen im Zuge der Irak-Invasion von 2003 rechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, es sei denn, es nimmt sich ein amerikanisches Gericht der Sache an.
Was bedeutet all dies im Hinblick auf die moderne Völkerrechtsdoktrin? Ich möchte dies kurz in vier Gesichtspunkten erläutern:
Ein weiteres machtpolitisches Faktum zeigt sich am Statut («Römer Statut») des Internationalen Strafgerichtshofes (nicht zu verwechseln mit dem «Internationalen Gerichtshof» der Vereinten Nationen). Gemäss Artikel 13(b) kann der Sicherheitsrat eine «Situation», in welcher ein Land einen Aggressionskrieg führt bzw. dessen Vertreter Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, dem Strafgerichtshof zuweisen. Auf Grund dieser Bestimmung wäre das Gericht grundsätzlich für die Ahndung internationaler Verbrechen in jedem Staat der Welt zuständig, unabhängig davon, ob ein Land dem Strafgerichtshof beigetreten ist oder nicht. Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Sicherheitsrat dem Gericht eine «Situation» gemäss Zwangsresolution (also nach Kapitel VII) zuweist. Diese Bestimmung über das Recht auf Zuweisung von Fällen an den Internationalen Strafgerichtshof gemäss Zwangsresolution bedeutet gleichzeitig auch – und dies ist eine kaum zu überbietende Ironie der Machtpolitik! –, dass Politiker und Militärs eines Landes, das ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, aber dem Strafgerichtshof nicht beigetreten ist (und dies gilt für 3 von 5 ständigen Mitgliedern), sich vollkommener Straflosigkeit auf internationaler Ebene erfreuen, weil dieses Land eine Zuweisung durch sein Veto jederzeit verhindern kann. Tatsächlich gehören die militärisch mächtigsten Mitgliedsländer des Sicherheitsrates – die Vereinigten Staaten, Russland und China – dem Internationalen Strafgerichtshof nicht an. Das bedeutet konkret, dass zum Beispiel kein amerikanischer Politiker oder Militär jemals für allfällige Kriegsverbrechen im Zuge der Irak-Invasion von 2003 rechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann, es sei denn, es nimmt sich ein amerikanisches Gericht der Sache an.
Was bedeutet all dies im Hinblick auf die moderne Völkerrechtsdoktrin? Ich möchte dies kurz in vier Gesichtspunkten erläutern:
- Man muss zur Kenntnis nehmen, dass das Völkerrecht im strengen Sinne (noch) kein Recht ist, da, wie ich zu erläutern versucht habe, gerade in den gravierendsten Fällen die Sanktionsmöglichkeiten fehlen. Gemäss der Definition Kelsens, der ich hier folge, sind Normen, für die es kein generelles Durchsetzungsverfahren gibt, keine Rechtsnormen, sondern allenfalls Moralprinzipien. In diesem ausserrechtlichen Bereich sind wir unweigerlich auch mit dem Phänomen konfrontiert, das seit den 90er Jahren als «policy of double standards» – Politik des Messens mit zweierlei Mass – bezeichnet wird.
- Das Gewaltverbot von Artikel 2(4) der Uno-Charta ist das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht, da es gemäss dem von mir schon zitierten römischen Diktum «Quod licet Jovi, non licet bovi» umgesetzt wird. Es gilt effektiv gerade für diejenigen nicht, die dafür sorgen müssten, dass es durchgesetzt wird – die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Staaten, denen gemäss Artikel 24 der Uno-Charta die «Hauptverantwortung» für die internationale Friedenssicherung übertragen ist und von denen es auf Grund ihres Veto-Privilegs abhängt, ob eine Durchsetzungsaktion erfolgen kann oder nicht, sind also faktisch von der Anwendung eben dieser Bestimmungen ausgenommen, sie sind gewissermassen machtpolitisch immun.
- Dies bedeutet in Folge, dass das bereits mit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 «geächtete», das heisst in der Völkerrechtsdoktrin abgeschaffte, «ius ad bellum» – das Recht, Krieg zu führen – durch die Hintertür wieder eingeführt wird.
- All dies heisst schlussendlich, dass das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten faktisch nicht gilt, weil fünf in der Uno-Charta individuell benannte Staaten ein Sonderrecht geniessen, mit welchem sie einerseits die Souveränität aller anderen Staaten ungestraft verletzen oder ignorieren und andererseits ihre eigene Souveränität in einem absolutistischen Sinne interpretieren und handhaben können.
Wir sind also – entgegen allen anderslautenden Beteuerungen der selbsternannten Hüter der internationalen Rechtstaatlichkeit – auch am Beginn des neuen Jahrtausends mit den Konsequenzen der Souveränitätsanarchie konfrontiert. Dies ist ein Umstand, der, wie ich schon eingangs sagte, unter den Bedingungen einer unipolaren Weltordnung besonders schwer wiegt, also in einer Konstellation, in der es keine Gewaltenteilung gibt, weder statutarisch – in der Uno-Charta – noch realpolitisch (was einen echten Machtwettbewerb zwischen kräftemässig vergleichbaren Partnern voraussetzen würde). Ein funktionierendes System der Gewaltenteilung setzt ein globales Machtgleichgewicht («balance of power») voraus.
IV Quid nunc?
Damit komme ich zu den Zukunftsperspektiven. Tatsache ist: Die aus der Machtpolitik resultierenden normenlogischen Widersprüche der Uno-Charta haben die Weltorganisation bis jetzt daran gehindert, ihr in der Präambel so schön, geradezu poetisch, skizziertes Mandat zu verwirklichen, das sich in den Formulierungen zu Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden im Interesse aller Völker und Staaten manifestiert. Dies sollte der Weltgemeinschaft insgesamt – und ich meine hier nicht nur die westlichen Staaten, die sich heutzutage gerne stellvertretend für alle als «international community» deklarieren – Ansporn sein, eine grundlegende Reform des Systems der zwischenstaatlichen Beziehungen in Angriff zu nehmen. Ein würdiges Zusammenleben der in einer Vielzahl souveräner Staaten organisierten Bürger ist nur möglich, wenn all das, was Souveränität ausmacht – diejenige des Bürgers mit seinen unveräusserlichen Rechten genauso wie, davon abgeleitet, diejenige des den Bürger repräsentierenden Staates –, (1) in den internationalen Verträgen beachtet bzw. in diese integriert und (2) in der realen Politik auch umgesetzt wird. (Diese ist nicht mit «Realpolitik» im konventionellen Sinn zu verwechseln; gemeint ist vielmehr eine reale Politik im Sinne der tatsächlichen Umsetzung des Prinzips der Souveränität.) Auch wenn dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine blosse Vision sein mag, so muss mit den Massnahmen gerade angesichts der globalen Legitimitätskrise, die sich in einer immer stärker werdenden Ablehnung der Auswüchse der Machtpolitik durch die Weltöffentlichkeit manifestiert, begonnen werden.
Eine solche grundlegende Reform erfordert unter anderem:
Eine solche grundlegende Reform erfordert unter anderem:
- Eine Bereinigung der begrifflichen (normenlogischen) Widersprüche in der Uno-Charta: Konkret geht es dabei um das – in der Charta übrigens nirgends so bezeichnete und auch in Artikel 27(3) nur verklausuliert erwähnte – Veto-Recht. Gerade an diesem der Uno-Philosophie der Partnerschaft zwischen den Staaten diametral entgegengesetzten Prinzip wird deutlich, wie notwendig es wäre, im Zuge einer normenlogischen Bereinigung die Charta so zu reformieren, dass die souveräne Gleichheit der Staaten (Artikel 2[1]) tatsächlich zu einem zentralen Organisationsprinzip (Systemprinzip) der Vereinten Nationen wird.
- Eine Demokratisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen – generell und speziell – first and foremost sozusagen – im Bereich der Vereinten Nationen, aber auch von grossen regionalen Zusammenschlüssen wie etwa der Europäischen Union: Mit Bezug auf die Uno heisst dies ganz konkret, dass der Sicherheitsrat gemäss dem früher Gesagten nicht über dem bzw. jenseits des Rechts stehen darf. Weiter müssten die Rolle und die Kompetenzen des Internationalen Gerichtshofes gestärkt werden, so dass er – ähnlich einem Verfassungsgerichtshof – auch Entscheidungen des Sicherheitsrates auf ihre Rechtmässigkeit überprüfen kann. Während der Internationale Gerichtshof besser in das Uno-System integriert werden müsste, sollte jedoch der Internationale Strafgerichtshof (nicht zu verwechseln mit dem ersteren) gerade aus der Umklammerung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gelöst werden, was dessen Zuständigkeit für Zuweisungen von Situationen bzw. Sistierungen von Verfahren gemäss den Artikeln 13(b) bzw. 16 des Römer Statutes betrifft. Von seiner Konstruktion her gehört dieser Gerichtshof nämlich nicht zum System der Vereinten Nationen. Er ist erst viele Jahrzehnte nach deren Gründung, nämlich zu Beginn dieses Jahrtausends, zustande gekommen und von dieser Organisation rechtlich vollkommen unabhängig.
- Die Förderung von regionalen Zusammenschlüssen (Kooperationsstrukturen) zwischen Staaten, und nicht nur in Europa; ein Beispiel hierfür wäre etwa Asean, der Verband Südostasiatischer Staaten (Association of South-East Asian Nations): Eine derartige Entwicklung könnte ein wichtiger Beitrag zur schrittweisen Herausbildung einer neuen multipolaren Weltordnung sein. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang – auch wenn es hier nicht um einen regionalen Zusammenschluss geht – die Rolle der sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Wenn die Reform der Uno-Charta jemals eine Chance haben soll, so wird diese nicht in einer Konstellation und in einem Stimmungsklima unipolarer Herrschaft, sondern nur unter den Bedingungen eines neuen Machtgleichgewichtes erfolgen können.
Warum, so mag man hier fragen, ist eine Änderung der Charta nur möglich, wenn es ein neues Machtgleichgewicht gibt? Man darf den Pferdefuss jedweder statutarischen Reform der Organisation der Vereinten Nationen nicht übersehen. Tatsächlich bedarf gemäss Artikel 108 der Uno-Charta jede – auch noch so geringfügige – Änderung der Zustimmung der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Warum, so könnte man weiter fragen, sollte ein Land freiwillig auf den Sonderstatus (vgl. das Veto-Recht), der mit der ständigen Mitgliedschaft verbunden ist, verzichten? Nach der Logik der Macht muss man zur Kenntnis nehmen, dass kein Staat auf auch noch so skandalöse und ungerechtfertigte Privilegien verzichtet, wenn es dafür keinen realpolitischen Grund gibt, das heisst, wenn er aus diesem Verzicht nicht irgendeinen Vorteil lukrieren kann. Dies gilt um so mehr, wenn der betreffende Staat – wie etwa Grossbritannien und Frankreich – tatsächlich keine Grossmacht mehr ist. Allein eine Änderung der globalen Machtkonstellation in Richtung auf Multipolarität könnte die seit 1945 privilegierten Akteure davon überzeugen, dass der politische Preis für die Beibehaltung des Status quo höher ist als die Vorteile, die eine Aufrechterhaltung ihres Sonderstatus mit sich bringen mag. Diese Einsicht ist sicher deprimierend; aber eine umfassende (nicht nur kosmetische) Reform ist eben nur in einem entsprechenden politischen Kontext möglich. Der Verweis auf Rechtsprinzipien und auf die Notwendigkeit der Widerspruchsfreiheit zwischen diesen beeindruckt Staatenlenker eher nicht. Dieses realpolitische Faktum muss man zur Kenntnis nehmen, wenn der reformerische Idealismus nicht ins Leere gehen soll.
Abschliessend möchte ich nochmals auf die für Souveränität zentralen Begleitumstände bzw. Anwendungsbedingungen verweisen. Die Begriffe «Demokratie» und «Recht», insbesondere Rechtsstaatlichkeit («rule of law»), machen nur Sinn, wenn sie in ihrer universalen Gültigkeit anerkannt und demgemäss auch als Prinzipien auf internationaler – nicht nur innerstaatlicher – Ebene angewendet werden. Eine «lex privata», sozusagen als Privileg für einzelne Staaten, entspricht eher der Mentalität des Feudalismus als dem auf Partnerschaft und friedliche Koexistenz ausgerichteten und an den Menschenrechten und der Idee der Gleichheit aller orientierten Denkansatz der Neuzeit. Das Messen mit zweierlei Mass («policy of double standards») ist nicht nur im Bereich der Menschenrechte, sondern auch und gerade in Sachen der Demokratie als politisch-rechtlicher Organisationsform zu vermeiden. Man kann nicht Demokratie im Inneren predigen und gleichzeitig nach aussen als Diktator auftreten. Dies ist das Dilemma der Aussenpolitik insbesondere der Vereinigten Staaten, die in der jüngeren Geschichte – bis in die Gegenwart hinein – immer wieder beansprucht haben, die politischen Verhältnisse in anderen Staaten gemäss ihren eigenen (amerikanischen) Wertvorstellungen (das heisst ihrer Ideologie) umzugestalten – wenn nötig, unter Anwendung von Gewalt und ausserhalb der Uno-Charta. Abgesehen von ihrer normativen Inkonsistenz hatte diese Politik auch realiter durchaus «kontraproduktive» Folgen, da sie nicht nur die Länder und Regionen, die Ziel einer Intervention wurden, destablisierte, sondern oftmals auch neue Kriegsgefahr heraufbeschwor.
Daher soll die Entwicklung des Begriffes der Souveränität in Richtung auf die Gleichheit aller Staaten im normativen Sinn – in klarer Abhebung von ihrer exklusiven absolutistischen Interpretation – von allen internationalen Akteuren unterstützt werden. Der Prozess, der insbesondere mit der humanistischen Philosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts einsetzte, sollte nicht im Zeichen eines neuen Absolutismus, demgemäss sich ein Staat quasi als unverzichtbares Gemeinwesen («indispensable nation» à la Madeleine Albright, 1998) betrachtet, abgewürgt oder ideologisch uminterpretiert werden.
Ich möchte meine Betrachtungsweise abschliessend mit drei Maximen bzw. Imperativen verdeutlichen:
(1) Die Inanspruchnahme von Souveränität (das heisst eines international souveränen Status) durch das jeweilige Gemeinwesen ist nur gerechtfertigt, wenn diese die Souveränität – im Sinne der unveräusserlichen Rechte – jedes Bürgers dieses Gemeinwesens einbezieht. (Auch hier gilt es, ein Messen mit zweierlei Mass zu vermeiden.) Dies mündet in die Forderung nach innerstaatlicher Demokratie.
(2) Das Prinzip der staatlichen Souveränität ist im zwischenstaatlichen Verkehr nur sinnvoll und legitim, wenn es gemäss dem Grundsatz der Gleichheit interpretiert und realisiert wird. Das mündet in die Forderung nach internationaler Demokratie.
(3) Der dem Prinzip der Souveränität innewohnende, aus der «Selbstgesetzlichkeit» (Autonomie des Subjektes) abgeleitete Anspruch auf Gleichheit muss als Grundlage jeder Rechtsordnung, ob inner- oder zwischenstaatlich, angesehen werden. Recht ohne Gleichheit in der Anwendung der Normen ist nicht Recht, sondern Willkür. Dies mündet in die Forderung nach der «internationalen Herrschaft des Rechts».
Alle diese drei Grundsätze bzw. Imperative – innerstaatliche Demokratie, internationale Demokratie und internationale Herrschaft des Rechts («international rule of law») –, die, wie ich zu zeigen suchte, aus der Souveränität folgen, sind gemeinsam für eine gerechte Weltordnung, das heisst für ein würdiges Zusammenleben im Sinne des mir von Ihnen gestellten Themas, unverzichtbar.
Daher soll die Entwicklung des Begriffes der Souveränität in Richtung auf die Gleichheit aller Staaten im normativen Sinn – in klarer Abhebung von ihrer exklusiven absolutistischen Interpretation – von allen internationalen Akteuren unterstützt werden. Der Prozess, der insbesondere mit der humanistischen Philosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts einsetzte, sollte nicht im Zeichen eines neuen Absolutismus, demgemäss sich ein Staat quasi als unverzichtbares Gemeinwesen («indispensable nation» à la Madeleine Albright, 1998) betrachtet, abgewürgt oder ideologisch uminterpretiert werden.
Ich möchte meine Betrachtungsweise abschliessend mit drei Maximen bzw. Imperativen verdeutlichen:
(1) Die Inanspruchnahme von Souveränität (das heisst eines international souveränen Status) durch das jeweilige Gemeinwesen ist nur gerechtfertigt, wenn diese die Souveränität – im Sinne der unveräusserlichen Rechte – jedes Bürgers dieses Gemeinwesens einbezieht. (Auch hier gilt es, ein Messen mit zweierlei Mass zu vermeiden.) Dies mündet in die Forderung nach innerstaatlicher Demokratie.
(2) Das Prinzip der staatlichen Souveränität ist im zwischenstaatlichen Verkehr nur sinnvoll und legitim, wenn es gemäss dem Grundsatz der Gleichheit interpretiert und realisiert wird. Das mündet in die Forderung nach internationaler Demokratie.
(3) Der dem Prinzip der Souveränität innewohnende, aus der «Selbstgesetzlichkeit» (Autonomie des Subjektes) abgeleitete Anspruch auf Gleichheit muss als Grundlage jeder Rechtsordnung, ob inner- oder zwischenstaatlich, angesehen werden. Recht ohne Gleichheit in der Anwendung der Normen ist nicht Recht, sondern Willkür. Dies mündet in die Forderung nach der «internationalen Herrschaft des Rechts».
Alle diese drei Grundsätze bzw. Imperative – innerstaatliche Demokratie, internationale Demokratie und internationale Herrschaft des Rechts («international rule of law») –, die, wie ich zu zeigen suchte, aus der Souveränität folgen, sind gemeinsam für eine gerechte Weltordnung, das heisst für ein würdiges Zusammenleben im Sinne des mir von Ihnen gestellten Themas, unverzichtbar.
Damit beschliesse ich meine Ausführungen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. •
* Hans Köchler war von 1990 bis 2008 Vorstand des Institutes für Philosophie an der Universität Innsbruck. Heute ist er Vorsitzender der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik und Kopräsident der Internationalen Akademie für Philosophie.
Referat vom 25. Juli 2013 gehalten bei der Zeitung Zeit-Fragen. Vom Verfasser autorisierte Mitschrift.
Referat vom 25. Juli 2013 gehalten bei der Zeitung Zeit-Fragen. Vom Verfasser autorisierte Mitschrift.
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Art. 20
(1) Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten.
(2) Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.
Quelle: www.admin.ch
(1) Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten.
(2) Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.
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«Ich kenne keinen sichereren Hort der absoluten Macht einer Gesellschaft als das Volk selbst. Und wenn wir es für zu unwissend halten, die Kontrolle dieser Macht mit Besonnenheit auszuüben, so liegt die Lösung nicht darin, dem Volk diese Macht wegzunehmen, sondern darin, ihm diese Besonnenheit durch Aufklärung zu verleihen.»
Thomas Jefferson (1820)
Thomas Jefferson (1820)
Charta der Vereinten Nationen – Präambel
Abgeschlossen in San Francisco am 26. Juni 1945
Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob gross oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in grösserer Freiheit zu fördern, und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.
Dementsprechend haben unsere Regierungen durch ihre in der Stadt San Francisco versammelten Vertreter, deren Vollmachten vorgelegt und in guter und gehöriger Form befunden wurden, diese Charta der Vereinten Nationen angenommen und errichten hiermit eine internationale Organisation, die den Namen «Vereinte Nationen» führen soll. […]
Quelle: www.admin.ch
Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob gross oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in grösserer Freiheit zu fördern, und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.
Dementsprechend haben unsere Regierungen durch ihre in der Stadt San Francisco versammelten Vertreter, deren Vollmachten vorgelegt und in guter und gehöriger Form befunden wurden, diese Charta der Vereinten Nationen angenommen und errichten hiermit eine internationale Organisation, die den Namen «Vereinte Nationen» führen soll. […]
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Charta der Vereinten Nationen Kapitel I: Ziele und Grundsätze
Art. 1
Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:
1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmassnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen;
2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Massnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;
3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen;
4. ein Mittelpunkt zu sein, in dem die Bemühungen der Nationen zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt werden.
Art. 2
Die Organisation und ihre Mitglieder handeln im Verfolg der in Artikel 1 dargelegten Ziele nach folgenden Grundsätzen:
1. Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.
2. Alle Mitglieder erfüllen, um ihnen allen die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Rechte und Vorteile zu sichern, nach Treu und Glauben die Verpflichtungen, die sie mit dieser Charta übernehmen.
3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.
4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Quelle: www.admin.ch
Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:
1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmassnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen;
2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Massnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;
3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen;
4. ein Mittelpunkt zu sein, in dem die Bemühungen der Nationen zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt werden.
Art. 2
Die Organisation und ihre Mitglieder handeln im Verfolg der in Artikel 1 dargelegten Ziele nach folgenden Grundsätzen:
1. Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.
2. Alle Mitglieder erfüllen, um ihnen allen die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Rechte und Vorteile zu sichern, nach Treu und Glauben die Verpflichtungen, die sie mit dieser Charta übernehmen.
3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.
4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
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Quelle: Zeit-Fragen Nr. 29vom 23.9
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