2013-04-12

Von der Finanzkrise über eine Realkrise und eine Gesellschaftskrise zur Sinnkrise

von Prof. Dr. Eberhard Hamer

Der Einbruch der Finanzkrise ab 2008 hat die meisten Menschen überrascht. Und noch heute ist die Bedeutung dieser Krise in den meisten Köpfen nicht angekommen.
Dabei haben etwa 50 Experten in meinem Institut schon 2002 die Untersuchung «Was passiert, wenn der Crash kommt?» herausgebracht, ein Buch, welches die herrschenden Kreise der Banker, Politiker, Journalisten und auch leider meine wissenschaftlichen Kollegen damals verlacht und als unsinnig abgetan haben. Inzwischen wird aber immer mehr Wirklichkeit, was wir analysiert haben:
1. Die derzeitige Finanzkrise war nicht nur voraussehbar, sondern geradezu zwangsläufig, weil sich auf einer nur vervierfachenden Realwirtschaft in den letzten 30 Jahren die Dollarmenge mehr als vervierzigfacht hat, also eine riesige ungedeckte Finanzblase aus überschüssig gedrucktem Geld, überbewerteten Anlagen, leichtsinnigen Krediten und sogar kriminellen Zockerfinanzprodukten aufgebaut hat. Dass dies möglich wurde, liegt daran, dass die Federal Reserve Bank eine private Bank ist mit Notenausgaberecht, sie also als Goldesel wie im Märchen von den Eigentümern zu hemmungsloser Geldvermehrung missbraucht werden konnte. Dieses Geld wurde dann unter dem Schlagwort der Globalisierung in die ganze Welt gepumpt, weil die FED-Eigentümer damit die Sachwerte der Welt aufgekauft, die Staaten alimentiert, Kriege geführt, ganze Marktsegmente, vor allem bei Rohstoffen und Industriesektoren, zusammengekauft und auch die ausländischen Zentralbanken gezwungen haben, ihre Währungsreserven in faulen Dollars anzulegen.
So hat die Dollarschwemme zwei Jahrzehnte eine Scheinblüte in die ganze Welt gebracht. Man konnte schneller durch Spekulation als durch Arbeit reich werden. Immer grössere Bevölkerungskreise beteiligten sich an immer windigeren Finanzprodukten, so dass die Börsenkurse ständig stiegen, Tausende von faulen Fonds reissenden Absatz ihrer Zertifikate fanden und die Banken immer gewagtere Anlagegeschäfte bis zum Achthundertfachen ihres Eigenkapitals betrieben.
Der Zusammenbruch dieser Finanzorgie war nur eine Frage der Zeit. Wer dies aber behauptete, wurde verlacht, verleumdet, diskriminiert. Unser erst verlachtes Crash-Buch wurde jetzt zum Bestseller.
Die Finanzorgie hat in den USA begonnen und auch der Zusammenbruch. Als die bis zu 120% der Kaufpreise finanzierten Immobilien nicht mehr absetzbar waren, ihre Preise und Beleihungswerte sogar fielen, kam es zur ersten Hypothekenkrise, die sich in einer Kreditkartenkrise in den USA fortsetzte. Konsumenten konnten nämlich bis zu zwanzig Kreditkarten mit jeweils bis 2000 Dollar überziehen. Solche Kredite mit fast 90 Milliarden Dollar sind dann ebenfalls mit Höchstbonität der eigenen Rating-Agenturen in die ganze Welt verkauft worden. Immer noch steht jetzt die zehnfach so grosse Derivatekrise an, der Zusammenbruch von kreditfinanzierten Wetten und Heuschreckengeschäften, mit denen gewissenlose Zockerbanken die Welt überschwemmt haben. Die Kreditkrise ist damit systematisch globalisiert, zur Weltfinanzkrise ausgeweitet worden.
2. Das Schrumpfen einer ungedeckten Geldblase wäre Deflation. Die durch ungedeckte Finanzprodukte und Finanzspekulationen übermässig ausgedehnte Geldmenge muss wieder vermindert werden, damit Geldstrom und Güterstrom wieder ins Gleichgewicht kommen.
Ebenso wie die Expansion der Geldmenge eine Scheinblüte verursacht hat, würde aber auch eine Geldmengenverminderung (Deflation) als Krise für die Realwirtschaft wirken:
•    Ein Zusammenbruch von Banken, Krediten und Bankenanlagen würde auch bei den Unternehmen zur Kreditkrise führen.
•    Wo Unternehmen keine Kredite mehr bekommen oder sogar gekündigt wurden, kommt es zu Liquiditätsschwierigkeiten, wird nicht mehr investiert, sondern umgekehrt desinvestiert.
•    Die Kapazitäten der Betriebe werden zurückgefahren, nicht nur sachlich, sondern auch personell. Es kommt zu Firmenzusammenbrüchen und Entlassungen, Aufträge schwinden und die Preise sinken. Die am meisten verschuldeten Unternehmen müssen zuerst aufgeben. Die Löhne sinken, die Arbeitslosigkeit steigt.
In der ersten Weltwirtschaftskrise der Zwanziger Jahre haben fast ein Drittel aller Betriebe aufgeben müssen, sind die Löhne um etwa ein Viertel im Durchschnitt gesunken und hatten wir in allen Industriestaaten Massenarbeitslosigkeit. Hiermit müssen wir nun wieder rechnen.
3. Deflation und Realkrise werden von den dadurch überraschten Politikern, von der Wirtschaft und von Gewerkschaften als Katastrophe empfunden. Tatsächlich wirkt sich eine Finanzkrise nicht nur auf die Realwirtschaft aus, sondern wirkt auch weiter in die Staatsfinanzen:
Sinkende Umsätze und sinkende Gewinne und sinkende Beschäftigung lassen die Steuern und Sozialabgaben sinken, so dass auch die Staaten in Finanznot und die Sozialkassen sogar in Existenznot geraten, zumal bei ihnen nicht nur sinkende Einnahmen, sondern auch steigende Ausgaben anfallen.
Deshalb hat der amerikanische Finanzminister Paulson – vormals Chef der grössten amerikanischen Zockerbank Goldman Sachs und damit Hauptverantwortlicher für die Produktion des Finanz-Giftmülls – nach dem Zusammenbruch der ersten Zockerbank sofort die deflatorische Geldmengenverminderung durch staatliche Geldflutung aufzuhalten versucht, um die Verluste seiner Bankstergenossen auf den Staat, also auf alle Steuerbürger zu verlagern. Auf amerikanischen Druck haben dann auch die Satellitenregierungen den gleichen Fehler nachmachen und sich ebenfalls bis an den Kragen verbürgen müssen. Die Bankenkrise wurde dadurch nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Staaten zur Staatsfinanzkrise. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Finanzindustrie den Währungen nicht mehr glaubt, aus der Liquidität flüchtet und mit einer Inflation und anschliessenden Währungsreform rechnet. Die Finanzkrise musste sich nach der Realkrise also auch zu Staatskrisen auswirken, die wir in unserem Buch beschrieben haben.
4. Realkrise und Staatskrise führen immer auch zur Sozialkrise, zur Krise in unserer Gesellschaft.
Das gilt einmal für die soziale Existenz vieler Menschen:
•    Ein Teil des Mittelstandes wird in einer Realkrise verarmen, weil er in verdampfende Finanzanlagen statt in Sachwerte investiert hat, weil er sich zu stark verschuldet hat oder weil er als Unternehmer Defensivstrategien eines zurückgehenden Marktes nicht beherrscht. Durch Schrumpfen des Mittelstandes entsteht dann wieder eine duale Gesellschaft von Oberschicht und Unterschicht. Und wenn der Mittelstand nicht mehr stark genug ist, die Freiheitssysteme von Demokratie und Marktwirtschaft zu tragen, werden auch diese Systeme in eine Krise geraten, denn die Oberschicht will Machtwirtschaft mit zentraler Macht und die Unterschicht nicht Freiheit und Selbstverantwortung, sondern Sicherheit und Führung. Es wird spannend sein, ob und in welchem Masse wir unsere Demokratie durch die Krise retten. Zumindest ist zu erwarten, dass die zurzeit herrschenden Politiker und Parteien für die Krise verantwortlich gemacht und sie nicht überstehen werden.
•    Vor allem für die Unterschichten sind Real- und Staatskrise katastrophal. Massenarbeitslosigkeit und Zahlungsunfähigkeit der Sozialsysteme werden eine Proletarisierung gerade der unteren Bevölkerungsschichten mit sich bringen. Und was die 11 Millionen (von 16 Millionen) von unserem Sozialsystem lebenden Immigranten tun werden, wenn ihnen die Sozialleistungen (auf die sie inzwischen Anrecht zu haben glauben) nicht mehr gezahlt werden können, kann man sich leicht vorstellen. Und wie werden die Rentner reagieren, wenn ihre Renten entweder real gesenkt oder durch Inflation entwertet, sie also ärmer werden? Zu lange haben Politiker und Medien den Menschen in unserem Land allgemeine Üppigkeit und Wohlstand ohne Arbeit versprochen, sie über Korrekturnotwendigkeiten nicht aufgeklärt und sie sogar mit Renten- und Sozialsicherheit belogen; – die Menschen werden von den auf sie zukommenden Folgen überrascht sein und könnten deshalb auch anders reagieren, als die Verführer erwarten.
Jedenfalls bricht in dieser Krise nicht nur die Scheinblüte, sondern auch die Scheinsicherheit zusammen, aus welchen die Menschen ihren Lebenssinn und ihre Existenz bisher gesichert glaubten:
–    Die Spareinlagen und das angesammelte Kapital verflüchtigen sich,
–    die Einkommen werden flächendeckend real sinken,
–    die gesetzlichen Renten werden reduziert oder durch Inflation auf eine Mindestversorgung reduziert werden müssen,
–    und die Sozialleistungen werden drastisch korrigiert. Sozialleistungen ohne Arbeit und lebenslangen Sozialbezug wird es wohl künftig nicht mehr geben.
Die Mehrheit unserer Bevölkerung wird sich also im Verlauf der Krisenstufen vom Wohlstand verabschieden müssen und bitter erkennen, dass ihr bisheriges Lebensziel des materiellen Wohlstandes zusammengebrochen ist, sie also ihr bisheriges Leben für ein schwindendes Phantom eingesetzt haben.
5. Wir haben gerade als Senioren diese Wirtschaftskrise als eine über unser Eigeninteresse hinausgehende Herausforderung anzunehmen, welche ebenso mit unserem persönlichen Lebenssinn wie mit den Zielvorstellungen unserer Gesellschaft zu tun hat: Wir gehören nämlich noch zur Generation derer, die erlebt haben, wie nach dem Krieg zerplatzte Ideale die Menschen ratlos suchend nach neuen Lebenszielen hinterlassen haben. Damals hatten wir einen ungeheuren Aufbruch von Frömmigkeit, Suche nach christlichem Leben.
Die Amerikaner haben uns jedoch durch die von ihnen beherrschten Medien beigebracht, dass nicht mehr idealistische Ziele angesagt sind, sondern unser Leben der Erzielung von Wohlstand und materiellen Gütern dienen müsse. Unsere Eliten sind dann aus ideellen geisteswissenschaftlichen in wirtschaftswissenschaftliche und technische Disziplinen gewandert und haben das Wirtschaftswunder aufgebaut.
Zu lange haben wir jedoch an den Wohlstand als Lebensziel geglaubt, auch als wir über den echten Wohlstand hinaus zunehmend Scheinwohlstand erreicht hatten. Dieses Lebensziel des Erreichens materieller Güter bricht nun in der Krise für viele zusammen. Die Menschen werden zunehmend feststellen, dass sie mit leeren Händen dastehen, also wohl einem falschen Götzen nachgejagt sind. Sie werden wie nach 1945 nach einem neuen, für ein anderes Leben tragfähigen Sinn und Lebensziel suchen. Keine Gesellschaft kann nämlich ohne gemeinsame Zielvorstellungen zusammenhalten. Wenn die alten Visionen sich als Trugschluss erwiesen haben, braucht man neue, um nicht nur den Sinn des eigenen Lebens zu finden, sondern auch, um die Gesellschaft unter gemeinsamen Zielvorstellungen zusammenzuhalten und zu entwickeln.
Wo liegt nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der neue Lebenssinn für uns selbst und für unsere Gesellschaft?
Wir wissen dies noch nicht. 98 Prozent unserer Menschen sehen aber auch die Notwendigkeit eines neuen Lebensziels noch nicht, weil die Krise mit dem Zusammenbruch der alten materiellen Werte noch nicht in ihre Köpfe gedrungen ist. Neue Ideen kommen aber ohnehin immer nur aus kleinen Eliten. Wir stehen also vor zwei entscheidenden Fragen:
•    In welcher Richtung müssen wir neue tragfähige Lebensziele für uns und unsere Gesellschaft suchen?
•    Und aus welchen Elitegruppen können wir die Entwicklung solcher neuen Leitideen erwarten?
Wenn man die verschiedenen Epochen der Geschichte nach ihren Leitideen untersucht, wird man feststellen, dass es immer einen Wechsel zwischen materiellen und immateriellen (idealistischen oder religiösen) Dominanzideen gegeben hat. Das Glück der Menschen ist sogar häufiger immateriell als materiell gesucht worden. Denken wir an Gotik, Reformation, Klassik, Romantik oder auch an die verschiedenen sozialistischen Ideologien. Alle haben das Glück der Menschen in der Verwirklichung religiöser oder ideeller statt materieller Ziele gesehen. Unstreitig können nämlich Menschen auch glücklich sein im Glauben, in ihrer Idee, in der Verwirklichung persönlicher Ziele wie Familie oder anderer nicht materieller Ziele.
Zeigt sich also nun, wie trügerisch und vergänglich materielle Lebensziele geworden sind, wird die nächste Leitidee voraussichtlich wieder in ideellen, religiösen oder humanitären Lebenszielen gesucht werden. Wer nun in der Lage ist, diese neuen Visionen zu formulieren, wird unserer Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des Materialismus neuen Lebenssinn aufzeigen können und damit die Menschen zu einem neuen Anfang begeistern. Unsere Aufgabe ist also, neue, nicht materialistische Leitideen zu erkennen, welche den Menschen ein Glück auch ohne Wohlstand bieten können.
Wenn man überlegt, wer solche neuen Leitideen entwickeln könnte, wird man die grössten Weltmächte abschreiben können: Die USA, weil sie in dieser Krise implodieren, ihr Weltreich verlieren werden und als Exportland des Materialismus schwerer getroffen sein werden als andere Länder. Und China steht erst im Anfang des Materialismus, ohne dass sich dort ideeller Wandel zeigen würde. Ich vermute deshalb, dass auch jetzt neue ideelle Leitideen vor allem aus den klassischen Kulturräumen Europa und Indien kommen können. Aus Europa vor allem deshalb, weil es trotz aller Globalisierungs- und Zentralisierungstendenzen immer noch eine einzigartige kulturelle Vielfalt und Tradition hat.
Wo aber sind in Europa die geistigen Eliten, welche über neue Leitideen, über ideelles Glück der Menschen und über tragfähige Ideen nachdenken?
Früher kamen tragfähige Leitideen für unser christliches Abendland aus den christlichen Kirchen. Ich zweifle, ob diese heute noch die Kraft zu einer neuen Reformation haben.
Im Feudalismus kamen neue Ideen und neue Werte überwiegend aus der Oberschicht des Adels. Auch dieser aber hat nicht nur seine Funktion, sondern auch seine Kraft und Bedeutung verloren.
Bleibt der Mittelstand, insbesondere der kulturelle Mittelstand. Ihm verdanken wir die grossen Ideen der letzten 200 Jahre. Denken Sie nur daran, was die Pfarrhäuser für unsere Kulturgeschichte, für Literatur, Philosophie und Wissenschaft bedeutet haben. Ich sehe als Mittelstandsforscher nach den grossen Leistungen des wirtschaftlichen Mittelstandes – der Unternehmer – in den vergangenen 50 Jahren nun die Zeit des kulturellen Mittelstandes – der Wissenschaftler, der Pädagogen, Künstler oder Schriftsteller – wiederkommen. Sie scheinen von allen Bevölkerungsgruppen neuen ideellen Leitideen am nächsten. Dafür wäre allerdings Voraussetzung, dass sich unser kultureller Mittelstand in Europa von der Führung und Manipulation der noch materialistisch orientierten globalen Medienherrschaft löst und wieder geistig tiefer zu den Wurzeln unserer nationalen Bildung und Ideen gräbt. Hier liegt die Aufgabe der Besten unseres Volkes, aus der Wirtschaftskrise den geistigen Aufstieg und aus dem Materialismus neue ideelle Sinnziele für die Menschen zu suchen.
Alle grossen Ideen sind in kleinen Zirkeln entwickelt worden. Ideelle Zirkel haben vor 150 Jahren die grössten Leistungen für Ideen von Freiheit, Volk und Demokratie zur Überwindung des Feudalismus geleistet. Warum sollten nicht solche ideellen Gruppen heute wieder zur Keimzelle einer ideellen Erneuerung werden? Jedenfalls wäre es des Schweisses aller Edlen wert, eine solche Aufgabe anzugehen, sich unter einer solchen Aufgabe zu sammeln, das grosse Netzwerk aller Idealisten für diese Aufgabe zu nutzen und in der Suche nach der neuen Leitidee und dem Ziel des Glückes für unsere Menschen auch eine eigene neue Rolle zu gewinnen.
Lassen Sie uns in diesem Sinne die Krise als Chance begreifen. Vieles geht unter. Daraus wird aber Neues entstehen. An diesem Neuen müssen wir beteiligt sein, können vielleicht sogar entscheidende Impulse geben.
Schön wäre es, wenn dann gegen Ende der Krise ein neuer ideeller und kultureller Wiederaufschwung von uns mitentwickelt werden und wir mit neuen tragfähigen Leitideen zu wieder neuem Glück der Menschen beitragen könnten.    •

Quelle: Zeit-Fragen Nr. 14 vom 8. April

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