von Professor Karl Albrecht Schachtschneider
1. Wirtschaftsverfassung des Sozialprinzips
Die
Wirtschafts- und Währungsunion17 überantwortet nach dem
Vertrag von Lissabon (Art. 3 Abs. 4 EUV, Art. 119 ff. AEUV) der Union
weitgehend die Wirtschafts- und gänzlich die Währungshoheit, ohne welche die
Mitgliedstaaten ihre existentiellen Aufgaben nicht erfüllen können, zumal
nicht die sozialen
Aufgaben. Österreich ist unabänderlich dem Sozialprinzip
verpflichtet. Das Sozialprinzip18 ist ein Fundamentalprinzip jeder Republik und damit ein ungeschriebenes Strukturprinzip, jedenfalls Baugesetz Österreichs. Es ist als das Prinzip der
Brüderlichkeit untrennbar mit den
Prinzipien der Freiheit und Gleichheit verbunden. Sein Gesetz ist der kategorische Imperativ, das Sittengesetz, das zugleich die
freiheitliche Grundpflicht jedes
Menschen bestimmt (Art. 2 Abs. 1 GG;
Art. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte)19.
Die Wirtschaftsverfassung Österreichs ist demgemäß unabänderlich die der
marktlichen Sozialwirtschaft20.
Dieser Begriff bringt die ausschließliche Verantwortung des
existentiellen Staates für das gute Leben
aller seiner Bürger zum Ausdruck. Der Staat ist darum zu einer Politik
verpflichtet, die allen Menschen die bürgerliche Selbständigkeit ermöglicht21.
Das gebietet vor allem eine Politik, die allen Bürgern Beschäftigung im Sinne
eines Rechts auf Arbeit22 gibt.
2. Neoliberale Wirtschaftsverfassung der
Union
Die
Wirtschafts- und Währungsunion ist demgegenüber „dem Grundsatz der offenen
Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet (Art. 119, 120 AEUV)23.
Der „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ und die „im
hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen
Fortschritt abzielt“, welche sich der
Vertrag von Lissabon in Art. 3 Abs. 2 und 3 EUV zum Ziel setzt, wird
durch das ebenso globale wie neoliberale
Markt- und Wettbewerbsprinzip des
Vertrages (Art. 3 Abs. 3 und 5 EUV), durch die vorrangig der
Preisstabilität verpflichtete Währungsunion
(Art. 127 Abs. 1 AEUV), insbesondere aber durch die Nachrangigkeit der sozialen Zielsetzung, konterkariert. Der Gemeinsame Markt, der durch
den Vertrag über die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 vereinbart war, ist zum Binnenmarkt entwickelt
worden. „Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie
Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet
ist“, definiert Art. 26 Abs. 2 AEUV seit dem Vertrag von Lissabon vom
13. Dezember 2007, der auch wegen der von
mir vertretenen Verfassungsbeschwerde gegen
das Zustimmungsgesetz Deutschlands erst am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist. Das stand auch schon in
Art. 14 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische
Gemeinschaft (EGV) in der Fassung des Vertrages
von Amsterdam vom 2. Oktober 1997, der
vor allem den insoweit gleichlautenden Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 (Art. 7 a EGV) konsolidiert
hatte. Der Binnenmarkt ist die Wirklichkeit
der Grund- oder Wirtschaftsfreiheiten, nämlich die Warenverkehrs-, die Niederlassungs-, die
Dienstleistungs-, die
Kapitalverkehrsfreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 26 ff., 45 ff., 49 ff., 56 ff., 63 ff. AEUV)24.
Der Binnenmarkt ist die Essens des Marktprinzips in der Union, das aber
weltweit angelegt ist.
17 Dazu K. A. Schachtschneider,
Verfassungsrecht der EU, Teil 2, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung,
2010, S. 128 ff.
18 Dazu K. A. Schachtschneider, Verfassungsklage, 2. Teil C, S. 146 ff.;
Freiheit in der Republik, 2007, S. 553 ff., 566 ff., 583 ff., 636 ff. u.ö.; weitere Hinweise in Fn. 4.
19 K. A.
Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 34 ff., 256 ff., 420 ff., 458
ff.
20 K. A.
Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, § 1, S. 25 ff.
21 K. A.
Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff.
22 Dazu K. A.
Schachtschneider, Recht auf Arbeit - Pflicht zur Arbeit, in: ders., H. Piper,
M. Hübsch (Hrsg.), Transport - Wirtschaft - Recht, GS J. G. Helm, 2001, S. 827
ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 579 ff.
23 Dazu K. A.
Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 258 ff.
24 K. A.
Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 51 ff., 71
ff.
Diese
Grundfreiheiten sind der Kern der Union und werden von den Organen der Union,
vor allem deren Gerichtshof, mit aller Härte durchgesetzt. Sie lassen der
Verwirklichung des Sozialprinzips in den Mitgliedstaaten keine
Chance. Auch der Primat der Preisstabilität in der Währungspolitik
geht zu Lasten der Beschäftigungspolitik. Das wirtschaftliche Stabilitätsprinzip,
welches das Sozialprinzip und das finanzverfassungsrechtliche Gebot des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG u.ö.) gebieten, ist durch
die Gleichrangigkeit der Preisniveaustabilität, des hohen
Beschäftigungsstandes, des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts und des
stetigen Wachstums (magisches Viereck, Art. 13 Abs. 2 B-VG, § 2 BStG)
gekennzeichnet. Die wirtschaftsverfassungsrechtlichen Prinzipien der Union
stehen einer Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten entgegen und
begünstigen dadurch im Interesse der globalen Wettbewerbsfähigkeit und mehr
noch, der globalen Verwertbarkeit des Kapitals das Marktprinzip. Mit dem
Sozialprinzip ist das unvereinbar. Diese Wirtschaftsordnung zwingt, die
Rechte der Arbeitnehmer zu schwächen, vor allem die Lohnquote zu senken, zumal die
Währungsunion keine die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der
Volkswirtschaften ausgleichenden Wechselkurse kennt. Sie verhindert aber auch
die durch das
Sozialprinzip gebotene gerechte Verteilung des
Volkseinkommens auf alle Menschen, also die Sozialpolitik im engeren
Sinne.
3.
Kapitalverkehrsfreiheit zu Lasten der Menschen
Insbesondere die
Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 Abs. 1 AEUV) widerspricht dem
Sozialprinzip25. Sie verwehrt es den Mitgliedstaaten, in
die Standortpolitik der Unternehmen einzugreifen. Das setzt die Mitgliedstaaten
dem sozialwidrigen Druck des (sogenannten) Systemwettbewerbs aus, vor
allem dem Steuer-, Lohn- und Sozialwettbewerb, der eine allgemeine Verarmung der Bevölkerung mit
sich bringt. Zudem stehen die Arbeitsplätze
und damit das wesentliche Eigentum der Arbeitnehmer zur Disposition der
(unmittelbaren und mittelbaren)
Kapitaleigner, deren soziales Interesse schon dadurch nivelliert ist,
daß sie (oft in fernen Ländern lebend) auf
das Renditeinteresse begrenzt sind.
Mittels der Kapitalverkehrsfreiheit wird
der Einfluß der Völker auf ihre für ihr Leben schicksalhaften Unternehmen existentiell und demokratiewidrig geschmälert. Die Sozialpflichtigkeit
des Eigentums26, dessen
kategorischer Imperativ, kann nicht
verwirklicht werden. Die weltweite Kapitalverkehrsfreiheit ermöglicht die fast unbegrenzten Finanzspekulationen,
die in etwa 98 % des globalen Kapital‑
verkehrs
ausmachen. Der kreditären Geldschöpfung, die zu Lasten der Realwirtschaft
und damit der arbeitenden Menschen außerordentliche Risiken birgt, sind keine wirksamen Grenzen gezogen.
Ganz im Gegenteil, die Europäische
Zentralbank steht für die Forderungen
ein, indem sie als „bad bank“ die Kredite als Sicherheiten, sogar gebündelt und verbrieft, übernimmt. Die Staaten haben durch die
Kapitalverkehrsfreiheit die Hoheit über die Finanzmärkte weitestgehend
eingebüßt. Die Sicherheit des Finanzverkehrs ist in keiner Weise gewährleistet. Die weltweite Finanzmarktkrise, ausgelöst durch nicht hinreichend besicherte Kredite an wenig begüterte Hauseigentümer in den Vereinigten Staaten, die wegen hoher Renditen von spekulierenden Geldinstituten (auch
staatlichen, entgegen dem Recht)
übernommen worden sind, hat zu einer
Weltwirtschaftskrise geführt, welche die
Menschen und Völker in (weitere) Armut führt. Die Banken- und Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank beschwört eine weitere Krise herauf,
die weitaus verheerender zu werden erwarten läßt.
Der globale Kapitalismus ist ebenso demokratie- wie sozialwidrig.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen