von Professor Karl Albrecht Schachtschneider
Der Staat ist, republikanisch,
also freiheitlich, konzipiert, die
„Vereinigung einer Menge von Menschen unter
Rechtsgesetzen11“. Staatlichkeit ist die Staatsgewalt, also
die Hoheit, die aufgrund der verfassungsgemäßen
Aufgaben und Befugnisse aus einer Vielheit von Hoheitsrechten besteht. Existentieller Staat ist das zum Staat verfaßte Volk (als
Schicksalsgemeinschaft), die souveränen
Bürger, existentielle Staatlichkeit
sind die wesentlichen Hoheitsrechte eines Volkes, welche es um der Freiheit, der Gleichheit und des Eigentums willen selbst unmittelbar oder
mittelbar durch seine Vertreter
ausüben muß12.
1. Staatseigenschaft und
Staatlichkeit der Union
Das
Beitrittsverfassungsgesetz öffnet die Republik Österreich nicht für einen
Europäischen Staat oder Bundesstaat, weil nach Art. 1 und 2 B-VG Österreich
ein Staat ist und nach Art. 1 S. 2 B-VG das Recht vom Volk ausgeht. Auch in
Deutschland geht alle
Staatsgewalt vom Volke aus (Art 20 Abs. 2 S. 1 GG). Diese Verfassungslage ist der Grund, warum das Bundesverfassungsgericht sich bisher auf den
Standpunkt gestellt hat, daß die
Europäische Union weder ein Staat
noch ein Bundesstaat sei (BVerfGE 22, 293 (296); 37, 271 (278); 75, 223 (242); 89, 155 (188); 123, 267, Absätze 179, 228, 263, 334, 347). Es hat für diese Doktrin aber weder einen Begriff des
Staates oder des Bundesstaates
entwickelt noch geprüft, ob die Europäische Union ein Staat oder Bundesstaat ist. Daß die Vertretungsbefugnisse des
Deutschen Bundestages „noch nicht in
einer Weise entleert“ seien, daß „das
Demokratieprinzip, soweit es für
unantastbar erklärt ist, verletzt“ sei (BVerfGE 89, 155 (181)), hat das Gericht im Maastricht-Urteil 1993 ohne jede Erörterung der Aufgaben und Befugnisse der Union und deren Gemeinschaften im Einzelnen und in der Gesamtheit ausgesprochen.
Die Sach- und Rechtslage ist eine
andere: Die Europäische Union ist kein
existentieller Staat und wird auch durch den Vertrag von Lissabon kein existentieller Staat, weil nur ein zu einem Staat
verfaßtes Volk ein existentieller
Staat ist, in dem durch die Staatsverfassung
die originäre Hoheit, nämlich die Macht (Handlungsmöglichkeiten) des
ganzen Volkes, als Staatsgewalt verfaßt ist.
Diese originäre Hoheit bleibt den
Völkern der Mitgliedstaaten, welche sich zu existentiellen Staaten verfaßt haben. Sie ist (gewissermaßen
als Freiheit oder Souveränität der Bürger) unübertragbar.
Die Union handelt aufgrund der ihr von
den Mitgliedstaaten zur gemeinschaftlichen Ausübung übertragenen (besser: zugewiesenen) Hoheitsrechte (vgl. Art. 9 Abs. 2 B-VG; Art. 23 Abs. 1 S.
2 GG; BVerfGE 89, 155 (188 f.)). Diese Übertragung kann zurückgenommen werden. Auch der Vertrag von
Lissabon verfaßt kein Volk, wenn er auch von „Bürgerinnen und Bürgern“ spricht, die auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten seien (Art. 10 Abs. 2 EUV), aber auch von „Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern“, aus deren Vertretern sich das Europäische Parlament zusammensetze (Art. 14 Abs. 2 S. 2 EUV). Derartige
Texte begründen keine originäre Hoheit
und verfassen keinen existentiellen
Staat. Sie sind rechtswidrig, weil sie
der staatsrechtlichen Lage nicht entsprechen. Originäre Hoheit bedarf der
Verfassungsgebung des Volkes, also des
Unionsvolkes. Ein solcher Schritt aber setzt
voraus, daß die verbundenen Völker ihre existentielle Staatseigenschaft und existentielle Staatlichkeit einzuschränken
oder gar aufzugeben bereit sind.
Aber der
Union sind schon jetzt Aufgaben und Befugnisse existentieller Staatlichkeit
als Hoheitsrechte zur gemeinschaftlichen Ausübung übertragen, welche um der demokratischen Legitimation willen den Völkern als existentiellen Staaten verbleiben müssen,
weil sonst das demokratische Fundamentalprinzip: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, oder, was dasselbe ist,
das Recht geht vom Volk aus, verletzt wird. Der existentielle Staat, das zum Staat verfaßte Volk also, kann
und darf Hoheitsrechte nur auf eine
völkerrechtliche „zwischenstaatliche“ (Art. 9 Abs. 2 B-VG), also ‚internationale’,
nicht ‚supranationale’ Organisation zur gemeinschaftlichen Ausübung übertragen, wenn die Ermächtigungen zu einer voraussehbaren und dadurch für die Vertreter des Volkes, wegen der
demokratischen Transparenz, besser:
für das Volk verantwortbaren Politik
der Union führt (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV, BVerfGE 89, 155 (181, 191 ff.))13. Die
übertragenen Hoheitsrechte
ermächtigen die Union aber nicht begrenzt und bestimmt, sondern weit und offen. Die Politik der Union können die Völker und ihre Vertreter nicht
voraussehen und verantworten. Der
Legitimationszusammenhang zwischen
den Völkern und der Europäischen Union
ist zerrissen. Im Vertrag von Lissabon ist denn auch der „Grundsatz der
begrenzten Einzelermächtigung“
nichts anderes als die „Zuständigkeiten“, die der Europäischen Union von den Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der Unionsziele übertragen werden
(Art. 5 Abs. 2 EUV). Die Union kann mangels originärer Hoheit nur derivative Befugnisse haben und Zuständigkeiten sind immer irgendwie begrenzt. Die demokratierechtliche Substanz der Voraussehbarkeit und
Verantwortbarkeit ist in dieser
Vertragsgebung gänzlich verloren, ja
explizit negiert.
2. Keine eigenständige demokratische Legitimation der
Union
Eine
eigenständige demokratische Legitimation hat die Union mangels eines
Unionsvolkes, das eine originäre Hoheit hat, nicht. Das würde eine Unionsverfassung
voraussetzen, welche ein Unionsvolk verfaßt. Das Europäische Parlament ist
ein Organ des Staatenverbundes (BVerfGE 89, 155 (184, 186, 188 ff.; 123, 267
LS. 1, Absätze 229, 233, 294)) und wird es ohne verfaßtes Unionsvolk
bleiben, nicht aber (entgegen den zitierten Texten) ein Vertretungsorgan eines Unionsvolkes. Dafür fehlt
der konstitutionelle Verfassungsakt, der eben
die Öffnung der Verfassungen der
Mitgliedstaaten für einen existentiellen Unions(bundes)staat voraussetzt. Im übrigen wird das Europäische Parlament nicht gleichheitlich gewählt
und vermag darum keine demokratische Legitimation zu begründen. Es bleibt der Sache nach eine „Versammlung der Vertreter der Völker“ (Art. 189 Abs.
1 EGV, so auch BVerfGE 123, 267, Absatz 284: „Versammlung der Vertreter der Mitgliedstaaten“), das kein Unionsvolk mit originärer Hoheit
repräsentiert. Würde die
demokratische Legitimation vom Europäischen
Parlament ausgehen oder nur wesentlich verstärkt
werden, wäre das Fundamentalprinzip der Freiheit, nämlich die Gleichheit
aller Menschen und Bürger in der Freiheit,
gröblich verletzt.
3.
Europäische Union als echter
Bundesstaat
a) Institutionelle und funktionale Staatlichkeit
Die
Europäische Union ist spätestens seit dem Vertrag von Lissabon ein echter
Bundesstaat14, echt, weil sie aufgrund eines
(völkerrechtlichen) Vertrages zwischen den Mitgliedstaaten von diesen
übertragene Hoheitsrechte
gemeinschaftlich ausübt. Sie ist institutionell ein Staat, wenn auch mangels
eines Staatsvolkes kein existentieller
Staat, und sie hat funktionell Aufgaben
und Befugnisse eines Staates, also Staatlichkeit, zu Unrecht sogar existentielle Staatlichkeit. Typisch
für den echten Bundesstaat ist das Austrittsrecht (Art. 50 EUV). Die Union ist
kein Bundesstaat nach dem Modell des
unechten Bundesstaates, wie es Österreich
und auch Deutschland sind. Der unechte Bundesstaat
beruht nicht auf Vertrag der Mitgliedstaaten
(Länder), sondern auf einem den Bundesstaat insgesamt ordnenden Verfassungsgesetz, welches den Gesamtstaat im Sinne eines Bundesstaates föderalisiert.
Die funktionale und institutionelle Staatlichkeit der Hoheitsgewalt der Union beruht auf den durch
die Verträge
übertragenen Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten und dient der
gemeinschaftlichen Ausübung dieser Hoheitsrechte, ist also Ausübung der Bundesstaatsgewalt eines echten
Bundesstaates. Der meist gebrauchte Begriff
der Supranationalität ist eine die
Bundesstaatseigenschaft der Union verschleiernde Wortbildung15. Nicht die Eigenschaft der Union als echter Bundesstaat ist verfassungswidrig, sondern
deren Ausstattung mit Aufgaben und Befugnissen existentieller Staatlichkeit, aber ohne demokratische Legitimation.
b) Zuständigkeitsverteilung eines Bundesstaates
Die neue
Zuständigkeitsteilung des Vertrages von Lissabon schließt die Dogmatik vom Staatenverbund aus. Die Dogmatik des Bundesstaates ist unausweichlich. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Union (AEUV) unterscheidet in Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 „ausschließliche Zuständigkeiten“ und
„geteilte Zuständigkeiten“, abgesehen
von Koordinierungszuständigkeiten in
Art. 5 und Art. 6. Im Bereich der
ausschließlichen Zuständigkeiten „kann nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen“. „Die Mitgliedstaaten dürfen in einem solchen Fall nur tätig werden, wenn sie von der Union hierzu ermächtigt werden, oder um Rechtsakte der Union durchzuführen“ (Art. 2 Abs.
1 AEUV). Nach dem eindeutigen
Wortlaut verlieren die Mitgliedstaaten im Bereich ausschließlicher
Zuständigkeit der Union ihre Gesetzgebungshoheit, die sie durch den Vertrag von Lissabon auf die Europäische
Union übertragen. Jedenfalls dadurch
wird über die bisherige bundesstaatliche Integration hinaus ein Bundesstaat begründet. Die Mitgliedstaaten verlieren einen Teil ihrer Hoheit, d.h. sie können
Staatsgewalt nur noch insoweit
ausüben, als sie ihnen verblieben ist, wie das in einem echten und erst recht
in einem unechten Bundesstaat, in dem
die Ausübung der Staatsgewalt
zwischen dem Bund, dem Zentralstaat,
und den Gliedstaaten, den Ländern, geteilt ist, üblich ist. Das Recht geht nicht mehr insgesamt vom Volk aus, wie das Art. 1 S. 2 B-VG vorschreibt,
sondern in dem zur ausschließlichen
Zuständigkeit der Union übertragenen
Bereich von der Union, einem Staat
ohne Volk und ohne Legitimation. Das entspricht einer „autonomen“
Rechtsordnung der Gemeinschaft, von der der
Gerichtshof der Europäischen Union vom
Beginn seiner Judikatur ausgeht, die
aber mangels originärer Hoheit keine Grundlage hat und im
Maastricht-Urteil vom deutschen Bundes‑verfassungsgericht nicht mehr aufgegriffen wurde16.
Das Fundamentalprinzip der Demokratie wird
somit für den Bereich
ausschließlicher Zuständigkeiten der Union
eingeschränkt, aber auch für den Bereich der geteilten Zuständigkeiten der Union nach Art. 2 Abs. 2 AEUV, soweit die Union die geteilten
Zuständigkeiten ausgeübt hat. Wenn
die Mitgliedstaaten in dem Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit
der Union oder auch nur in dem Bereich der
geteilten Zuständigkeit der Union,
wenn diese die Zuständigkeit ausgeübt hat, gesetzgeberisch tätig
werden, sind diese Gesetze mangels
Zuständigkeit nichtig und nicht mehr
nur wegen des Vorranges des Unionsrechts nicht anwendbar.
Die Mitgliedstaaten wahren ihre
Eigenständigkeit und Souveränität nur darin, daß sie gemäß Art. 50 EUV aus der
Union austreten können. Diese Möglichkeit ändert nichts daran, daß die
Mitgliedstaaten, solange sie Mitglied der Europäischen Union sind,
Gliedstaat eines Bundesstaates sind, die nur noch einen (geringen) Teil
der Hoheit, der Staatsgewalt also, inne haben.
14 Dazu K. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf
einer „Verfassung für Europa“, in: W. Hankel, K. A. Schachtschneider, J. Starbatty (Hrsg.), Der Ökonom als Politiker – Europa, Geld
und die soziale Frage, FS W. Nölling 2003, S. 279 ff.; ders. Verfassungsklage, 2. Teil A, S. 44 ff.
15 Vgl. die
Begriffskritik des Verfassungsgerichts der Republik Polen, Urteil vom
11.05.2005, EuR 2006, S. 236 (241 ff.).
16 Vgl. EuGH v. 15.07.1964 – Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251, Rdn. 8
ff.; BVerfGE 22, 293 (296), 31, 145 (173 f.); 37, 271 (277 f.); 58, 1 (27); richtig BVerfGE 89, 155 (188 f.).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen