Der Unionsstaat verfügt
spätestens mit dem Vertrag von Lissabon auch über weitreichende
bundesstaatstypische Kompetenz-Kompetenzen. Er kann nicht nur seine Befugnisse
im Interesse der Zielverwirklichung ohne Mitwirkung der nationalen Parlamente
erweitern (Art. 352 AEUV) und wird nicht nur ermächtigt, Unionssteuern zu
erheben (Art. 311 AEUV), sondern maßt sich im «vereinfachten
Änderungsverfahren» des Art. 48 Abs. 6 EUV die Ermächtigung an, so gut
wie das gesamte Vertragswerk ganz oder zum Teil (außer der Außen- und
Sicherheitspolitik) durch Beschluss des Europäischen Rates zu ändern. Dem
müssen die nationalen Parlamente nur zustimmen, wenn das in ihren
Verfassungsgesetzen steht. In Deutschland und Österreich ist das jedenfalls
nicht der Fall. Bundestag und Bundesrat wie der Nationalrat können nur
Stellungnahmen abgeben, die berücksichtigt werden können und sollen, aber nicht
beachtet zu werden pflegen. Die Ermächtigung zum vereinfachten Änderungsverfahren
ist nichts anderes als eine Diktaturverfassung.
Kompetenz-Kompetenzen der
Europäischen Union
I.
Flexibilitätsklausel
Die Flexibilitätsklausel des
Art. 308 (352) Abs. 1 AEUV ermöglicht es der Union, zur Verwirklichung der
überaus weit gesteckten Ziele der Verträge durch geeignete Vorschriften des
Rates, im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche tätig zu
werden, auch wenn die Verträge die dafür erforderlichen Befugnisse nicht
vorsieht. Auf dieser Grundlage kann sich die Union so gut wie jede Befugnis
verschaffen, ohne daß die Mitgliedstaaten dem zustimmen müssen. Letztere können
lediglich ihre (kläglichen) Einwendungen aus dem Subsidiaritätsprinzip zur Geltung
bringen (Abs. 2). Diese Kompetenz-Kompetenz geht deutlich über die bisherige
Generalklausel des Art. 308 EGV hinaus, welche auf die Verwirklichung des
Gemeinsamen Marktes beschränkt war. Lediglich Harmonisierungsverbote dürfen
nicht überspielt werden (Abs. 3) und die Verwirklichung von Zielen der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik darf nicht auf diesen Artikel gestützt werden
(Abs. 4).
Der Rat muß die Vorschriften
einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments
erlassen. Der Rat kann sie auch in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren
erlassen, wieder auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des
Europäischen Parlaments. Ausschließlich Unionsorgane erlassen somit die
Vorschriften, welche die vertraglichen Ermächtigungen, die ohnehin äußerst weit
gefaßt sind, weiter ausdehnen und auf neue Politiken erstrecken können, soweit
das die Ziele der Union zulassen, folglich grenzenlos. Nur die in den Verträgen
festgelegten Politikbereiche bilden eine Grenze. Das sind alle Zuständigkeiten.
Art. 308 (352) AEUV ermöglicht der Union Steuerpolitik jeder Art, Sozialpolitik
jeder Art, Wirtschaftspolitik jeder Art, Justizpolitik jeder Art,
Polizeipolitik jeder Art usw. Die Steuer-, Sozial-, Wirtschafts-, Justiz- und
Polizeipolitik (usw.) der Mitgliedstaaten kann auf dieser Grundlage systemisch
umgestaltet werden, auch soweit sie nicht schon nach den bisherigen Verträgen
einem unionsrechtlichen System folgt. Die Kompetenz-Kompetenz des Art. 308 AEUV
ist nicht nur mit dem demokratischen Prinzip nicht zu vereinbaren, zumal sie
die Exekutiven ermächtigt. Das Europäische Parlament leistet keine
demokratische Legitimation, weil es kein Volk vertritt, aber auch und
insbesondere, weil es nicht gleichheitlich gewählt ist . Die Ermächtigung ist
deutlicher Ausdruck der existentiellen Staatlichkeit der Union. Der Hinweis in
Absatz 2 des Art. 308 (372) AEUV auf das Subsidiaritätsverfahren ist von
geringer praktischer Bedeutung. Das Baugesetz Demokratie, auch soweit es
unabänderlich ist, wird durch diese Ermächtigung mißachtet.
III.
Generalermächtigung
zur Mittelbeschaffung
Der Vertrag von Lissabon hat
trotz des deutschen Maastricht-Urteils, das der großen Generalklausel, der
Kompetenz-Kompetenz des Art. F Abs. 3 EUV (Art. 6 Abs. 4 EUV) (zur Rettung des
Vertrages) die rechtliche Verbindlichkeit abgesprochen hat 714 , in Art. 269
(311) Abs. 1 AEUV eine fast gleich-lautende Bestimmung beibehalten, diese
allerdings in den Titel II des Fünften Teils, der die Finanzen der Union
regelt, gestellt, also auf Mittel zur Finanzierung des Haushaltes der Union
begrenzt. Jetzt aber wird ein klar geregeltes Verfahren für die Umsetzung
dieser Generalermächtigung eingeführt, nämlich nach Absatz 3 Unterabsatz 1
einen Beschluß des Rates, den dieser einstimmig nach einem besonderen
Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments erläßt,
mit dem die Bestimmungen über das System der Eigenmittel der Union festgelegt
werden. Dieser Beschluß kann neue Kategorien von Eigenmitteln einführen, aber
auch bestehende Kategorien abschaffen. Die neuen Kategorien von Eigenmitteln
können auch europäische Steuern sein.
Dieser Beschluß tritt
wiederum erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren
jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft. Der Beschluß ist kein
völkerrechtlicher Vertrag. Ratifikationsverfahren sind auch nicht vorgesehen.
Folglich genügt nach der Praxis der auswärtigen Politik (nach der Beteiligung
des Nationalrates gemäß Art. 23e B-VG) die Zustimmung der Bundesregierung 715 ,
die demgemäß die Macht erlangt, Österreich mit ungeregelten finanziellen Lasten,
auch Unionssteuern, zu belasten. Das „besondere Gesetzgebungsverfahren“ ist in
Art. 249a (289) Abs. 2 AEUV geregelt. Wenn das Europäische Parlament anzuhören
ist, entspricht das der dort vorgesehenen Beteiligung desselben. Folglich
bedarf die Einführung von neuen Kategorien von Eigenmitteln keinerlei
Zustimmung eines Parlaments. Diese Maßnahme ist reiner Exekutivakt. Der
Beschluß des Rates gilt nach Art. 249a (289) Abs. 3 AEUV als
„Gesetzgebungsakt“. Das ist mit dem demokratischen Prinzip unvereinbar.
Nach Absatz 3 Unterabsatz 2
des Art. 269 (311) AEUV werden Durchführungsmaßnahmen zu dem System der
Eigenmittel der Union durch Verordnungen nach einem besonderen
Gesetzgebungsverfahren festgelegt, sofern dies in den nach Absatz 3 erlassenem
Beschluß vorgesehen ist. Die Durchführungsmaßnahmen beschließt der Rat nach
Zustimmung des Europäischen Parlaments. Die nationalen Parlamente sind wiederum
nicht einbezogen.
Die Union kann sich also
Eigenmittel verschaffen, indem sie ohne jede Beteiligung der nationalen
Parlamente, nur aufgrund der Beschlüsse des Rates, die allein von dem Willen
der Regierungen abhängen, ein System von Eigenmitteln der Union schafft, das
durch Verordnung des Rates, das nicht der Einstimmigkeit, aber der Zustimmung
des Europäischen Parlaments bedarf, durchgeführt wird. Diese Bestimmung ermächtigt
zur Steuererhebung der Union, ist gänzlich unbestimmt und mit der Steuerhoheit
als wesentlichem Teil der existentiellen Staatlichkeit der Völker
schlechterdings unvereinbar. Die bereits im Maastricht-Prozeß gescheiterte
Regelung des Abs. F Abs. 3 EUV (Art. 6 Abs. 4 EUV) wird aufrecht erhalten, die
formalen Schwächen (Rechtssubjektivität der Europäischen Union, unklare
Verfahrensregelungen) sind behoben, die entscheidende Schwäche der Verletzung
der existentiellen Staatlichkeit (Souveränität) der Mitgliedstaaten jedoch
nicht.
Die Generalermächtigung zur
Mittelbeschaffung ist eine Gesamtänderung der Bundesverfassung, die aber wegen
Art. 1 B-VG auch durch Abstimmung des ganzen Bundesvolkes nicht eingeführt
werden darf.
III. Vereinfachte
Änderungsverfahren
- Art. 48 Abs. 6 EUV
Das „vereinfachte
Änderungsverfahren“ nach Art. 48 Abs. 6 EUV schafft ein Ermächtigungsgesetz und
ist fraglos eine Gesamtänderung der Bundesverfassung. Es wäre aber auch demokratie-
und verfassungswidrig, wenn es die Zustimmung des ganzen Bundesvolkes nach Art.
44 Abs. 3 B-VG fände. Nach Art. 48 Abs. 6 EUV kann der Europäische Rat durch
Europäischen Beschluß einstimmig nach (bloßer) Anhörung des Europäischen
Parlaments und der Kommission sowie, bei institutionellen Änderungen im
Währungsbereich, der Europäischen Zentralbank auf Initiative der Regierung
jedes Mitgliedstaates, des Europäischen Parlaments oder der Kommission „alle
oder einen Teil der Bestimmungen des Dritten Teils des Vertrages über die
Arbeitsweise der Europäischen Union ändern. Dieser Dritte Teil umfaßt alle
wichtigen Politiken der Union, nämlich den freien Warenverkehr mit der
Zollunion, die Landwirtschaft, die Freizügigkeit, den freien Dienstleistungs-
und Kapitalverkehr (also den Binnenmarkt und die Grundfreiheiten), den Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den Verkehr, die Gemeinsamen Regeln
betreffend den Wettbewerb, Steuerfragen und Angleichung der Rechtsvorschriften,
Wirtschafts- und Währungspolitik, Beschäftigung, Gemeinsame Handelspolitik,
Zusammenarbeit im Zollwesen, Sozialpolitik, allgemeine und berufliche Bildung
und Jugend, Kultur, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz, transeuropäische
Netze, Industrie, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt, Forschung und
technologische Entwicklung, Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit,
wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern.
Der Beschluß tritt zwar nach Unterabs. 2 S. 3 des Art. 48 Abs. 6 EUV „erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen ver-fassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft“, aber der Beschluß ist kein Staatsvertrag im Sinne des Art. 50 B-VG, welcher der Zustimmung des Nationalrates und des Bundesrates (Abs. 1 Ziff. 2, Abs. 4) und der Ratifikation durch den Bundespräsidenten (Art. 65 Abs. 1 B-VG) bedarf. Aufgrund ihrer außen-politischen Befugnisse kann die Zustimmung von der Bundesregierung oder auch nur von dem zuständigen Bundesminister erteilt werden.
Der Bundeskanzler ist nach
Art. 23e Abs. 2 B-VG bei der Abstimmung im Europäischen Rat an die
Stellungnahme des Nationalrates, dem nach Absatz 1 dieser Vorschrift
Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist, gebunden. A-ber er darf davon nach
S. 2 „aus zwingenden außen- und integrationspoliti-schen Gründen“ abweichen.
Die Integrationspolitik vermag sich somit durchzusetzen. Die genannten Gründe
sind eine Frage der Außenpolitik, die regelmäßig als nicht judiziabel gilt 716
. Ein Rechtsakt im vereinfachten Änderungsverfahren kann und wird regelmäßig
„eine Änderung des geltenden Bundesverfassungsrechts“ bedeuten, so daß nach
Absatz 3 des Art. 23e B-VG „eine Abweichung jedenfalls nur zulässig ist, wenn
ihr der Nationalrat innerhalb angemessener Frist nicht widerspricht“. Wegen des
„jedenfalls“ (ein mehr als unklarer Tatbestand) ist davon auszugehen, daß die
Bundesregierung letztlich den integrationspolitischen Zwängen gemäß Absatz 2 S.
2 folgen darf. Dafür spricht auch die Pflicht nach Absatz 4 S. 2, das Abweichen
von der Stellungnahme des Nationalrates diesem unverzüglich zu begründen.
Folglich ist auch im Falle des Absatz 3 ein Abweichen der Bundesregierung
möglich. Die Zuständigkeiten des Nationalrates obliegen nach Absatz 5 im
übrigen grundsätzlich dessen Hauptausschuß (oder auch nur einem eigenen
ständigen Unterausschuß). Das Bundesvolk wird jedenfalls in die Willensbildung
nicht ein-bezogen. Die Parlamentarier pflegen im parlamentarischen
Regierungssystem zumal, wenn große Koalitionen regieren, in ihrer Mehrheit
unbesehen der Integrationspolitik der Regierung zu folgen.
Der Beschluß des Europäischen
Rates ändert die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union nicht. Bereits
der Reformvertrag ermöglicht diese Änderungen oder Ergänzungen, falls dieser
insgesamt und insbesondere für Österreich verbindlich wird.
Der Beschluß darf zwar nach
Unterabsatz 3 des Art. 48 Abs. 6 EUV „nicht zu einer Ausdehnung der der Union
im Rahmen der Verträge übertragenen Zuständigkeiten führen“, aber diese
Zuständigkeiten sind in Art. 2b (3) des Vertrages über die Arbeitsweise der
Union als ausschließliche Zuständigkeiten und in Art. 2c (4) AEUV als geteilte
Zuständigkeiten geregelt. Hinzu kommen die weiteren Zuständigkeiten zur
Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie der Sozialpolitik
in Art. 2d (5) AEUV und zu Unterstützungs-, Koordinierungs- und
Ergänzungsmaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen
Gesundheit, zur Industrie, zur Kultur, zum Tourismus, zur allgemeinen und
beruflichen Bildung, zur Jugend und zum Sport, zum Katastrophenschutz und zur
Verwaltungszusammenarbeit nach Art. 2e (6) AEUV. Alle Zuständigkeiten sind
denkbar weit formuliert. Die Politiken des Dritten Teils des Vertrages von
Lissabon sind nicht als Zuständigkeiten bezeichnet. Sie regeln die Grenzen der
Ermächtigungen, die folglich ohne Zuständigkeitsänderung erweitert werden
können, die Verfahren der Politiken, die ebenfalls ohne Zuständigkeitsänderung
verändert werden können, indem etwa Organe in die Verfahren integriert oder
Organe aus den Verfahren desintegriert werden, u.a.m. Absatz 6 des Art. 2a (2)
AEUV, der für den „Umfang der Zuständigkeiten der Union auf die Einzelheiten
ihrer Ausübung“ auf die „Bestimmungen der Verträge zu den einzelnen Bereichen“
verweist, grenzt die Weite der Ermächtigung nicht ein. Zum einen sind die
Befugnisse in den verschiedenen Bereichen außerordentlich weit und zum an-deren
ist in Art. 48 Abs. 6 UAbs. 3 EUV geregelt, daß der Beschluß des Europäischen
Rates „nicht zu einer Ausdehnung der der Union im Rahmen der Verträge
übertragenen Zuständigkeiten führen“ dürfe, nicht aber zur Ausdehnung des
Umfanges der Zuständigkeiten.
Das vereinfachte
Änderungsverfahren überträgt die Verfassungshoheit weitestgehend dem
Europäischen Rat, den Führern der Union. Nicht einmal das Europäische Parlament
muß zustimmen, geschweige denn die nationalen Parlamente. Diese Generalklausel
ist ein wesentlicher Teil der durch den Vertrag von Lissabon erweiterten
existentiellen Staatlichkeit der Europäischen Union, welche durch diese Ermächtigung
weitestgehende Verfassungshoheit gewinnt, ohne dafür demokratisch legitimiert
zu sein, schon gar nicht durch ein Unionsvolk mit originärer Hoheit.
Mit dem Demokratieprinzip ist
das „vereinfachte Änderungsverfahren“ schlechterdings unvereinbar. Schon deswegen
ist die Einführung dieses Verfahrens eine Gesamtänderung der Bundesverfassung,
zu deren Strukturprinzipien (Baugesetze) das demokratische Prinzip gehört. Aber
auch diese Gesamtänderung kann nicht einmal das ganze Bundesvolk beschließen,
wenn Österreich eine „demokratische Republik“ bleiben will (Art. 1 S. 1 B-VG).
Das vereinfachte Änderungsverfahren erleichtert die Totalrevision der internen
und weitgehend der externen (insbesondere die Handelspolitik) Politikbereiche
der Union und macht diese nicht nur von der Zustimmung der nationalen
Parlamente unabhängig, sondern vor allem von der gegebenenfalls
vorgeschriebenen Zustimmung der Völker, also Volksabstimmungen, an denen die
Verfassungsänderungen allzu leicht scheitern, insbesondere wenn sie die Wirtschaft-,
die Währungs- und noch stärker die Sozialpolitik betreffen, aber auch die
Polizeipolitik und die Justizpolitik, wie die wesentlich weiterentwickelte
Politik des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
Bemerkt sei, daß die geteilte
Zuständigkeit nach Art. 2c (4) AEUV für den wirtschaftlichen, sozialen und
territorialen Zusammenhalt allemal auch die (in der Integrationspolitik für
dringlich gehaltene) Angleichung der mitgliedstaatlichen Steuer- und
Sozialpolitik umfaßt. Schon jetzt sind steuerliche Vor-schriften in Art. 90
(93) AEUV enthalten, welche auf die Verwirklichung und das Funktionieren des
Binnenmarktes und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen ausgerichtet sind.
Zu diesem Zweck ist weitere Steuerpolitik denkbar, vielleicht sogar nützlich.
Derzeit beschließt der Rat nach Art. 93 EGV auf Vorschlag der Kommission, aber
einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und
Sozialausschusses. Das kann Änderungsinteressen mit sich bringen, denen Art. 48
Abs. 6 AEUV ein hilfreiches Verfahren bietet.
Das vereinfachte
Änderungsverfahren ist ein Ermächtigungsgesetz für den Europäischen Rat, das es
diesem erlaubt, die innere und weitgehend auch die äußere Ordnung der Union und
damit die der Mitgliedstaaten umzuwälzen. Nur die Außen- und Sicherheitspolitik
ist von diesem Verfahren ausgenommen. Mit der Zustimmung zu dem Vertrag von
Lissabon ermächtigt die Republik Österreich die Europäische Union zu jedweder
materialen Änderung der Bundesverfassung. An diesen Änderungen wirkt für
Österreich, wie dargelegt, maßgeblich nur der Bundeskanzler mit, weil der
Europäische Rat ein-stimmig entscheiden muß. Das vereinfachte
Änderungsverfahren ist der Sache nach eine Diktaturverfassung, die kaum noch
einen demokratischen Rest aufweist.
Der Maastricht-Vertrag
enthielt eine vergleichsweise Regelung nicht. Art. F III, jetzt Art. 6 Abs. 4
EUV, wonach sich „die Union mit den Mitteln ausstattet, die zum Erreichen ihrer
Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind“, war nach dem
Maastricht-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts nur eine politische
Absichtserklärung ohne rechtliche Verbindlichkeit. Das österreichische Volk
wird durch die Ermächtigung des Art. 48 Abs. 6 EUV entmachtet und verliert
seine Verfassungshoheit weitestgehend. Dem kann kein Volk zustimmen, das ein
eigenständiger, existentieller Staat bleiben will. Keinesfalls kann der
Nationalrat, die Vertreter des Volkes, durch seine Zustimmung zu einem solchen
Vertrag das Volk entmachten.
Art. 48 Abs. 6 EUV ermöglicht
es dem Europäischen Rat, die nationalen Gesetzgebungsorgane zu überspielen.
Wenn eine Politik an den nationalen Parlamenten zu scheitern droht, kann der
Europäische Rat den Vertrag über die Arbeitsweise der Union ändern und dadurch
die Politik verbindlich machen.
2. Art. 48 Abs. 7 EUV
Hinzukommt das vereinfachte
Änderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 7 EUV (Passerelleverfahren), wonach der
Europäische Rat durch einen Beschluß in einem Bereich oder einem bestimmten
Fall, in dem der Rat nach dem Verfassungsvertrag einstimmig zu beschließen hat,
entscheiden kann, daß die qualifizierte Mehrheit genügt (Unterabsatz 1). Nach
Unterabsatz 2 dieser Vorschrift können erforderliche besondere
Gesetzgebungsverfahren auch durch das (leichtere) ordentliche Gesetzgebungsverfahren
ersetzt werden. Allerdings können die nationalen Parlamente eine Initiative im
Sinne des Unterabsatzes 1 und des Unterabsatzes 2 ablehnen (Unterabsatz 3). Die
genannten Beschlüsse müssen zudem nicht nur einstimmig ergehen, sondern bedürfen
auch der Zustimmung des Europäischen Parlaments mit der Mehrheit seiner
Mitglieder (Unterabsatz 4). Das Mehrheitsverfahren ist sicher effizienter als
das Konsensverfahren, aber ebenso sicher auch weniger demokratisch, weil der
Wille ganzer Völker unbeachtet bleiben kann. Bemerkenswert ist, daß die
vereinfachten Änderungsverfahren in dem Entwurf des Verfassungskonvents vom
19./20. Juni 2003 noch nicht enthalten waren.
IV.
Unionsbürgerschaft
Die Unionsbürgerschaft baut
der Vertrag von Lissabon weiter zu einer Bürgerschaft aus, als hätte die
Europäische Union ein Volk. Die Verfassungswidrigkeit der Vertragsentwicklung
liegt darin, daß die Bürger der Mitgliedstaaten zu Unionsbürgern stilisiert
werden, obwohl der Schritt, der sie zu echten Bürgern eines existentiellen
Unionsstaates (als Bundesstaat) werden ließe, die Verfassung der Bürger der
Mitgliedstaaten zu einem Unionsvolk des Unionsstaates nämlich, nicht gegangen
wird. Dieser Schritt kann nur durch ein Verfassungsreferendum aller Unionsbürger
gemacht werden, der aber die Öff-nung aller Mitgliedstaaten für den
existentiellen Unionsstaat voraussetzt, wiederum durch Referenden, aber
Referenden jedes einzelnen Volkes der Mitgliedstaaten. Weil ein solcher
existentieller Schritt keinen Erfolg verspricht, wird er nicht gewagt. Darum
sind und bleiben die Versuche, die Texte in die Nähe demokratischer
Legitimation einer Unionsbürgerschaft zu rücken, wie insbesondere die
Erklärung, das Europäische Parlament setze sich aus „Vertretern der
Unikonsbürgerinnen und Unionsbürgern zusammen“ (Art. 9a (14) Abs. 2 S. 1 EUV)
und die „Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im
Europäischen Parlament vertreten“ (Art. 8a (10) Abs. 2 UAbs. 1 EUV)
verfassungswidrig, ja staatswidrig. Ihre rechtliche Relevanz scheitert, solange
Art. 1 S. 2B-VG besteht, daß nämlich „Das Recht vom Volk aus-geht“ 718 . Dieser
Satz aber steht nicht zur Disposition der Staatsorgane.
Der Gerichtshof hat die
Unionsbürgerschaft als unmittelbar anwendbares Recht eingestuft. In der Rechtssache
Martinez Sala hat der Gerichtshof in die Unionsbürgerschaft auch die Gewährung
von Erziehungsgeld, welches nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz an eine
Aufenthaltserlaubnis anknüpfte, und damit Sozialleistungen einbezogen 720 . Dem
entsprechend hat er in der Rechtssache Grzelcyk festgestellt, daß die
Inanspruchnahme von Sozialhilfe durch einen Studenten nicht ohne weiteres
rechtfertige, die Aufenthaltserlaubnis zu entziehen 721 . Dieses Ergebnis
beruht auf der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips.
Die Unionsbürgerschaft sieht
man „durch besondere Offenheit und Dynamik gekennzeichnet“. Dafür spricht die
Evolutivklausel in Art. 22 (25) Abs. 2 AEUV, die es dem Rat ermöglicht, die
Unionsbürgerrechte im besonderen Gesetzgebungsverfahren nach Zustimmung des
Europäischen Parlaments zur Ergänzung der in Art. 17b (20) Abs. 2 AEUV
aufgeführten Rechte Bestimmungen zu erlassen (S. 1).
Die Bestimmungen treten nach
Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit deren jeweiligen
verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft (S. 2). Der Genehmigung des
Nationalrates und/oder der Zustimmung des Bundesrates bedürfen diese
Bestimmungen wiederum nicht, geschweige denn der Abstimmung des gesamten
Bundesvolkes. Auch Art. 18 (21) Abs. 2 und Abs. 3 AEUV ermächtigen das
Europäische Parlament und den Rat nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren
Vorschriften zu er-lassen, mit denen die Ausübung der Rechte nach Absatz 1 des
Art. 18 (21) AEUV erleichtert wird. Nach dieser Vorschrift hat „jeder
Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich
der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen
Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“.
„Zu den gleichen wie den in
Absatz 1 genannten Zwecken kann der Rat, sofern die Verträge hierfür keine
Befugnisse vorsehen, gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen
erlassen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen“ (Abs.
3 S. 1). Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen
Parlaments (S. 2).
Beide
Ermächtigungsvorschriften sehen nicht vor, daß die Parlamente der
Mitgliedstaaten in irgendeiner Weise an der Rechtsetzung beteiligt werden. Im
Falle der zweiten Vorschrift wird das Europäische Parlament auch nur angehört.
Der Entwicklung des Status der Unionsbürger sind nach den aufgeführten
Ermächtigungsvorschriften so gut wie keine Grenzen gesetzt. Die Union kann die
Bürger mehr und mehr für sich in Anspruch nehmen, gegebenenfalls auch das
Wahlrecht in den Ländern und im Bund auf alle Unionsbürger nach gewissem
Aufenthalt ausdehnen, wie es für die Kommunalwahlen im Vertrag (Art. 19 (22)
Abs. 1 AEUV) geschehen ist. Das verändert mit dem Wahlvolk das Volk des
jeweiligen Mitgliedstaates. Vor allem kann die Union ohne jede parlamentarische
Zustimmung das Sozialrecht der Unionsbürger gestalten und damit tief in die
sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten eingreifen. Das kann auch die
Minderung der sozialen Schutzstandards mit sich bringen. Mit dem demokratischen
Prinzip der Republik ist das unvereinbar.
V. Subsidiarität
Der Vertrag von Lissabon
verankert das Subsidiaritätsprinzip in Art. 3b (5) Abs. 1 S. 1, Abs. 3 und 4
als Ausübungsregelung neben dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung (Absatz 1
S. 1 und Absatz 2) und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Absatz 1 S. 2 und
Absatz 4).
„Nach dem
Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre
ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele
der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler
noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können,
sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene
besser zu verwirklichen sind“ (Absatz 3).
Diese Regelung ist
unverändert der Kritik des gemeinschafts-/unionsrechtlichen
Subsidiaritätsprinzips 723 ausgesetzt. Soweit der Bereich ausschließlicher
Unionszuständigkeiten betroffen ist, wird die Anwendbarkeit des Prinzips der
Subsidiarität bereits durch den Vertrag (Art. 3b (5) Abs. 3 EUV, bislang Art. 5
Abs. 2, 1. Hs. EGV) ausdrücklich ausgeschlossen. Die konkurrierende
Kompetenzausübung aufgrund der geteilten Zuständigkeit der Union (Art. 2c (4)
AEUV) ist wegen der durch das offene Subsidiaritätsprinzip nicht bestimmten
Zuständigkeitsbereiche der Union und der Mitgliedstaaten letztlich der
Finalität des Integrationsprozesses verpflichtet . Für die Notwendigkeit
(„besser zu verwirklichen“) der Angleichung des mitgliedstaatlichen Rechts lassen sich „wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen auf Unionsebene“ stets „Ziele“ der Union aufzeigen, welche die Zuständigkeit der Union rechtfertigen. Der Versuch einer Begrenzung der Unionszuständigkeiten durch das Subsidiaritätsprinzip, wie es Art. 3b (5) Abs. 3 EUV (bislang Art. 5 Abs. 2 EGV) formuliert, ist folglich untauglich und damit zum Scheitern verurteilt 726 . Die Praxis des Subsidiaritätsprinzips beweit das 727 . Wichtig ist allemal, wer mit welcher Intention über die Subsidiarität befindet.
(„besser zu verwirklichen“) der Angleichung des mitgliedstaatlichen Rechts lassen sich „wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen auf Unionsebene“ stets „Ziele“ der Union aufzeigen, welche die Zuständigkeit der Union rechtfertigen. Der Versuch einer Begrenzung der Unionszuständigkeiten durch das Subsidiaritätsprinzip, wie es Art. 3b (5) Abs. 3 EUV (bislang Art. 5 Abs. 2 EGV) formuliert, ist folglich untauglich und damit zum Scheitern verurteilt 726 . Die Praxis des Subsidiaritätsprinzips beweit das 727 . Wichtig ist allemal, wer mit welcher Intention über die Subsidiarität befindet.
Neu ist allerdings, das die
nationalen Parlamente auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips achten
können (und sollen, Art. 3b (5) Abs. 3 Unterabs. 2 S. 2 EUV). Das Nähere ist im
Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der
Verhältnismäßigkeit geregelt. Danach leitet die Kommission ihre Entwürfe für
Gesetzgebungsakte und ihre geänderten Entwürfe (Vorschläge) den nationalen
Parlamenten und dem Unionsgesetzgeber gleichzeitig zu (Art. 4 Abs. 1 des
Protokolls). Das machen auch die anderen zu Entwürfen von Gesetzgebungsakten
berechtigten Organe (Art. 4 Abs. 2 und 3 des Protokolls) und gilt auch für
legislative Entschließungen und Standpunkte des Europäischen Parlaments bzw.
des Rates (Art. 4 Abs. 4 des Protokolls). Die Entwürfe werden im Hinblick auf
die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, einschließlich
der finanziellen Auswirkungen, begründet (Art. 5 des Protokolls).
Die nationalen Parlamente
oder die Kammern eines dieser Parlamente (Bundestag und Bundesrat) können
binnen (nunmehr) acht Wochen begründet darlegen, dass der Entwurf nicht mit dem
Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist (Art. 6 Abs. 1 S. 1 des Protokolls). Diese
Stellungnahmen werden berücksichtigt (Art. 7 des Protokolls). Erreicht die
Anzahl der begründeten Stellungnahmen, wonach der Entwurf eines
Gesetzgebungsaktes nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang steht,
mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten
zugewiesenen zwei Stimmen (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 des Protokolls), so muss
der Entwurf „überprüft“ werden (Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 des Protokolls).
Diese Schwelle beträgt nur ein Viertel der Stimmen, wenn es sich um einen
Entwurf eines Gesetzgebungsaktes auf der Grundlage von Art. 61i (70) AEUV
betrefend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts handelt (Art. 7
Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 des Protokolls).
Wenn aber an dem Entwurf
festgehalten wird, ist das zu begründen (Art. 7 Abs. 2 UAbs. 2 des Protokolls).
Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gelten nach Absatz 3 des Art. 7 des
Protokolls Besonderheiten, nämlich:
„Erreicht die Anzahl
begründeter Stellungnahmen, wonach der Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt
nicht dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, mindestens die einfache
Mehrheit der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten nach Absatz 1
Unterabsatz 2 zugewiesenen Stimmen, so muss der Vorschlag überprüft werden.
Nach Abschluss diese Überprüfung kann die Kommission beschließen, an dem
Vorschlag festzuhalten, ihn zu ändern oder ihn zurückzunehmen“ (S. 2 und 3).
„Beschließt die Kommission, an dem Vorschlag festzuhalten, so hat sie in einer
begründeten Stellungnahme darzulegen, weshalb der Vorschlag ihres Erachtens mit
dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht. Die begründete Stellungnahme der
Kommission wird zusammen mit den begründeten Stellungnahmen der nationalen
Parlamente dem Unionsgesetzgeber vorgelegt, damit dieser sie im Rahmen des
Verfahrens berücksichtigt:
a) Vor Abschluss der ersten
Lesung prüft der Gesetzgeber (das Europäische Parlament und der Rat), ob der
Gesetzgebungsvorschlag mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht; hierbei
berücksichtigt er insbesondere die angeführten Begründungen, die von einer
Mehrheit der nationalen Parlamente unterstützt werden, sowie die begründete
Stellungnahme der Kommission.
b) Ist der Gesetzgeber mit
der Mehrheit von 55% der Mitglieder des Rates oder einer Mehrheit der
abgegebenen Stimmen im Europäischen Parlament der Ansicht, dass der Vorschlag
nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht, wird der
Gesetzgebungsvorschlag nicht weiter geprüft“ (Abs. 2).
Dieses Verfahren grenzt an
Lächerlichkeit, zumal die Subsidiaritätslage in jedem Land unterschiedlich ist
und große Länder wie Deutschland nicht mehr Stimmen haben als kleine wie Malta.
Was Deutschland als vergleichsweise Großstaat ohne weiteres bewältigen kann,
können Kleinstaaten wie Malta, Luxemburg nicht bewältigen. Es ist nicht
ersichtlich, daß die Europäische Union irgendeine Kompetenz für eine Politik
hat, die Deutschland oder Öste-reich allein nicht „ausreichend verwirklichen“
könnte, meist besser, jedenfalls demokratisch weitaus stärker legitimiert. Aber
auch umgekehrt haben Kleinstaaten Verhältnisse, welche einer gemeinschaftlichen
Politik eher entgegen-stehen, als die Verhältnisse von Großstaaten, etwa die
Regelung des Bankgeheimnisses.
Der Gerichtshof der Union hat
über die Klagen wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip
zu entscheiden (Art. 8 des Protokolls). Dieser Gerichtshof läßt jedoch wenig
Schutz des Subsidiaritätsprinzips erwarten. Das letzte Wort muß wegen der
existentiellen Staatlichkeit Österreichs auch in der Subsidiaritätsfrage der
Verfassungsgerichtshof haben, der entscheiden muß, wieweit die Hoheitsrechte
nach Art. 9 Abs. 2 B-VG auf die Europäische Union übertragen sind.
Das Subsidiaritätsprinzip ist
eine Kompetenzausübungsschranke. Die Verletzung der Kompetenz durch die Organe
der Union hat bisher zur Folge, daß Rechtsakte der Union in den Mitgliedstaaten,
auch in Österreich, jedenfalls in Deutschland keine Wirkung entfalten, weil der
Union Hoheitsrechte nur begrenzt übertragen sind. Zu den Grenzen gehört auch
die Kompetenzausübungsschranke des Subsidiaritätsprinzips. Materiell kann
dieses Verfassungsprinzip an sich durch eine prozedurale Regelung nicht
relativiert werden, wenn aber den nationalen Gerichten die Feststellung der
Kompetenzwidrigkeit von Rechtsakten der Union wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips
verwehrt ist, weil kein Verfahrensweg eröffnet ist, kann die Wirkungslosigkeit
der Rechtsakte der Union nicht zur Geltung gebracht werden. Für die Praxis
macht die prozedurale Unangreifbarkeit keinen Unterschied zur materiellen
Rechtmäßigkeit. Diese Rechtslage ist nicht ungewöhnlich. Sie kommt in all den
Fällen zum Tragen, in denen die Nichtigkeit oder Rechtswidrigkeit von
Staatsakten nicht oder nicht mehr geltend gemacht werden kann. Rechtswidrige
Verwaltungsakte, die nicht mehr angefochten werden können, haben beispielsweise
Bindungswirkung.
Die Verletzung des
Subsidiaritätsprinzips ist wegen der Verletzung der politischen Freiheit immer
eine Verletzung der allgemeinen Freiheit und damit eine Grundrechteverletzung.
Unabhängig davon, ob derartiges Unrecht durch Rechtsakte der Union nunmehr
letztverbindlich von der Unionsgerichtsbarkeit entschieden wird oder
richtigerweise von den nationalen Gerichten letztverbindlich zu entscheiden
ist, weil ja die dem Subsidiaritätsprinzip widersprechenden Rechtsakte der
Union keine Wirkung in Österreich zu erzielen vermögen, wäre das
Rechtsschutzprinzip, ein Baugesetz 731 , verletzt, wenn die Mißachtung des
Subsidiaritätsprinzips nicht mehr zur Geltung gebracht werden könnte, weil der
Nationalrat und der Bundesrat von der Möglichkeit des Art. 8 des Protokolls
über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit
keinen Gebrauch gemacht hat. Die Klagemöglichkeit nach Art. 8 des Protokolls
ist gemäß Art. 230 (263) Abs. 5 AEUV auf zwei Monate befristet. Wirksamer
Rechtsschutz ist Teil des Rechtsstaatsprinzips als Baugesetz und steht im
Rechtsstaat nicht zur politischen Disposition.
Das Subsidiaritätsprinzip ist
ein Strukturprinzip der Demokratie. Demokratie gibt es nur in kleinen Einheiten
(dazu A, II, V). Das Subsidiaritätsprinzip ordnet die Kompetenzen entgegen dem
Zentralismus im Sinne des Vorrangs der kleinen Einheiten. Demgemäß ist eine
Verletzung des Subsidiaritätsprinzips immer zugleich eine Verletzung des
demokratischen Prinzips. Auch die Vertretung des ganzen Volkes ist nur
verfassungsgemäß geordnet, wenn die Integrationspolitik das
Subsidiaritätsprinzip achtet. Neben dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung
folgt somit aus dem grundrechtsgleichen Recht des Art. 26 Abs. 1 B-VG der
verfassungsbeschwerdefähige Grundsatz der Subsidiarität der Unionskompetenzen.
Außerdem ist das Subsidiaritätsprinzip durch die allgemeine Freiheit
grundrechtlich geschützt. Allemal die Kompetenz-Kompetenzen, die zu H, I bis IV
aufgeführt sind, mißachten neben dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung auch
das Subsidiaritätsprinzip. Richtigerweise muß das Subsidiaritätsprinzip durch
die primärrechtlichen Vertragstexte materialisiert werden. Bereits die
Übertragung der Hoheitsrechte nach Art. 9 Abs. 2 B-VG muß dem Grundsatz der
Subsidiarität genügen, auch deswegen, weil nur das primäre Unionsrecht der
verfassungsrechtlichen Prüfung des Verfassungsgerichtshofs in letzter
Verantwortung nicht entzogen werden kann. Das sekundäre Unionsrecht wird wegen
des praktizierten Vorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Recht
letztverantwortlich von den Unionsgerichten daraufhin überprüft, ob es dem primären
Gemeinschaftsrecht entspricht, insbesondere den Grundrechten und nunmehr auch
dem Subsidiaritätsprinzip. Das ist der verfassungswidrige Zweck des Art. 3b (5)
Abs. 3 EUV, des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität
und der Verhältnismäßigkeit.
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