Peter Sloterdijk skizziert in „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ einen Bruch in der Menschheitsgeschichte. An diesem Hiatus gibt er der Politik die Schuld. Sie reagiert nur und lässt Konzerne wie Facebook und Google gewähren. Der Mensch befindet sich im Taumel.
Vorsichtig nähert sich der Autor dem Hiatus. Das
ist der Bruch, der in 2500 Jahren Menschheitsgeschichte immer wieder
eingetreten ist und der unwiederbringlich wieder ansteht. Peter
Sloterdijk, 67, Rektor der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe,
deutet die Weltlage in „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“
ausgesprochen pessimistisch.
Bruch mit den Werten
Die Ursachen sind klar: Die Politik, die nicht mehr
agiert, sondern nur noch als zager Konfliktlöser auf Umstände, die sie
nicht oder zu spät mitbekommt, reagiert. Ein Staatswesen, das sich als
„Schuldenumwälzanlage“ zeigt, indem es das renditegeile Bankenwesen
rettet. Dazu ein entfesseltes Individuum im „Sturz nach vorn“
(Nietzsche), das von den Internetgöttern Facebook und Google
kontrolliert und gesteuert wird und damit in eine gefährliche
Abhängigkeit navigiert und moralisch aus allen bisher gültigen und
verbindlichen Pflichten heraussprengt, um eine scheinbare Freiheit zu
erlangen. Das ist der Bruch mit den Werten. „Im Weltprozess nach dem
Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt, die unter Formen
überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.“
Soll heißen: Unsere Epoche hat sich erschöpft, sie
handelt nicht mehr sinnvoll und souverän, sondern getrieben. Wir
befinden uns im Chaos der Lebenswelten. Der traditionsentwurzelte Mensch
wird vorangepeitscht von Verheißungen ohne jede reale Bindung. Er lässt
sich von Reisemultis zum Schnäppchenpreis in Regionen der Welt jagen,
die als exotisch gelten, es aber nicht (mehr) sind. Er glaubt, dass sein
erotisches Begehren im Supermarkt der Flirtportale und der sozialen
Robotik Erfüllung findet. Er gibt die Probleme der Epoche an kommende
Generationen weiter, statt sie heute und hier anzugehen. Die in der
Neuzeit eingesetzte und in der Moderne vollendete Freisetzung des
Individuums hat dasselbe in einen Strudel widersprüchlicher Stimmungen
versetzt, in einen Lebenstaumel. Das alles wird betrachtet aus einer
Perspektive des „elastischen Konservatismus“, zu dem Sloterdijk sich
bekennt.
Kontinuität ist verloren
Der Autor spitzt gern zu, legt Widersprüche offen
und wagt denkerische Visionen. Seine These: Herkunft und Zukunft sind
restlos auseinandergefallen. Eine Kultur überlebt aber nur, wenn sie
sich erfolgreich wiederholt und damit bewahrt bleibt. Das Überkommene
ist wichtiger als das Neue, Aktuelle und Flüchtige. Sloterdijk spürt bis
„in sämtliche Nervenenden, wie sehr das Zukünftige sich von der Deckung
durch Herkunftsbestände losgemacht hat“. Was einst von der Mutter auf
die Tochter, vom Vater auf den Sohn überging, ist dahin. Der moderne
Mensch lebt in keiner Kontinuität mehr, alles verfließt und zerfasert,
es wird nicht mehr gegründet und beständig gehalten für die Nachfahren.
Es gilt nur das Jetzt, was eine Loslösung von der bis in die Antike und
die christliche Religion zurückreichende Vorstellung vom Urprinzip alles
Seienden zur Folge hat. „Filiation“ heißt das bei Sloterdijk: „die
förmliche Übergabe des Bestandes an Vermögens- und Statuswerten an
gezeugte und adoptierte Nachfolger“. Das geschieht nicht mehr, das ist
der Hiatus, der Bruch.
Sloterdijk provoziert
An Sokrates und Jesus von Nazareth, dem heiligen
Franziskus über die Borgias und andere Gestalten der Renaissance bis zu
Napoleon, Lenin und Himmler führt der Autor vor, dass diese Gestalten
die Welt veränderten, nicht immer zum Besseren. Die „schrecklichen
Kinder der Neuzeit“ wollen es ihnen nachtun, sind aber nur kopierte
Figuren. Der Absturz, davon ist der Philosoph überzeugt, wird kommen.
Peter Sloterdijk provoziert mit einer beherzten Kulturkritik.
Peter Sloterdijk: „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit.“ Suhrkamp, Berlin, 489 S., 26,95 €.
Peter Sloterdijk: „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit.“ Suhrkamp, Berlin, 489 S., 26,95 €.
Quelle: Roland Mischke
1 Kommentar:
Für meinen Geschmack wühlt der Autor wieder zu sehr in der Mottenkiste der Vergangenheiten. Wie so oft bei Sloterdijks dicken Bänden reicht es, die ersten und letzten ca. 50 Seiten zu lesen. Alles dazwischen ist ersonnenes Geplänkel. Nervig auch der vermehrte Rückgriff auf primitives, religiöses Brimborium. Inzwischen wirken Sloterdijks Intentionen wie Philosophie für Grossväter und -mütter, mit der zeitgenössische Individuen wohl wenig anfangen können. Ich finde es bedenklich, all die alten Mythen derart weitschweifig zu bemühen, die weder Computer und Internet, noch andere neue Medien je kannten und eher verkürzte Holzhammerphilosophie betrieben. Vielleicht ist nämlich alles viel komplexer, tiefer, breiter, als es einzelne Gehirne früher zurechtgebüschelt haben. In 5000 Jahren wissen wir evtl. mehr, falls wir dann noch existieren...Eher ein überflüssiges Buch zur heutigen Zeit. (Paul Linder, Bern)
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